20. Juli 2022 in Kommentar
Otti's Optik: Über den Priestermangel und die Priestermängel - Kommentar von Franz Norbert Otterbeck
Köln (kath.net)
Professor Georg May hielt im Jahr 2009, vielleicht auch öfter, einen markanten Vortrag über den selbstverschuldeten Priestermangel in deutschen Diözesen. Damals hätte ich einige Bemerkungen darin als zu scharf formuliert empfunden. Spätestens seitdem der "Synodale Weg" offen ausgesprochen hat, was allzu viele denken, kann von zu großer Schärfe solcher Kritik keine Rede mehr sein. "Wozu überhaupt Priester?" Diese Infragestellung markiert doch den logischen Schlusspunkt einer langen Entwicklung, die deutsche und andere Theologen vermutlich schon in den Zeiten vor dem letzten Konzil sorgfältig vorbereitet haben. Einige Aspekte, die der genannte Vortrag behandelte, haben sich seither gravierend zugespitzt.
Da ist zuerst die Einklemmung der Priester zwischen beförderte Laien und erlauchte Bischöfe zu nennen. Das Zweite Vatikanum hat mittels vieler Aussagen die katholischen Laien und ihre Aufgaben zu stärken beabsichtigt. In Deutschland und (wenigen) anderen Ländern sah man sich so dazu aufgerufen, die Anzahl der bezahlten Stellen für Laien in der kirchlichen Verwaltung, aber auch in der Seelsorge, stark auszuweiten. Etliche dieser Stellen besetzen mittlerweile Leute, die nur noch einen sehr schwachen Draht zu den Inhalten unserer Religion haben. Die Anforderungen diesbezüglich werden unterdessen weiter abgesenkt.
Die Bischöfe andererseits, deren individuelle und kollektive Aufwertung zu den stärksten Innovationen des Konzils zählte ("Kollegialität") empfanden die konziliare Rangerhöhung vielerorts als Einladung: Nicht mehr zuerst Hirten der Hirten, Seelsorger der Seelsorger wollten manche sein, sondern absolute, von der heute - nur verbal - beschworenen "Synodalität" auch jedes Bistums losgelöste, Befehlshaber über Wohl und Wehe ihrer Diözese insgesamt. Im Kontrast dazu steht die auffällige Mutlosigkeit vieler Bischofsstabführer, wenn immer es um die konkrete Verantwortung geht: etwa "römischen" Wünschen zu folgen. Den aktuellen Gipfelpunkt dieser "Feigheit vor dem Mitbruder" (also den bischöflichen Nachbarn) stellen wohl die gegenwärtigen Spekulationen um eine "Selbstbindung" des Diözesanbischofs an Beschlüsse eines kollektiven Organs dar (den "Synodalrat"). Was bleibt dann vom Bischofsamt? Wohl hauptsächlich die gegenüber einem Domkapitular nochmals deutlich höheren Amtsbezüge?
Der Konzilspapst Paul VI. spürte wohl bereits, dass der Priesterstand, um denn sich das Tridentinum ewige Verdienste erworben hat, im jüngsten Konzil zuwenig Aufmerksamkeit erfuhr. Der Klerus sollte wohl im Wesentlichen so weiterdienen wie bisher, zusätzlich aber noch all die vielen neuen Pflichten auf sich nehmen. Diese enthalten nicht nur wenige, explizit den Priestern gewidmete Texte, sondern implizit auch 'Gaudium et spes' und die angeblich an die Pastoralkonstitution eng angebundenen, diffusen Appelle für eine "Öffnung zur Welt". Paul VI. richtete einen eigenen Konzilsbrief an die Priester und noch ungezählte weitere Botschaften, aber er verlor Zehntausende in den nachkonziliaren Wirren. Wenige verlor er "nach rechts", etwa an die Piusbruderschaft. Viele verlor er "nach links", weil eine echte Umprägung der Priesterschaft im Sinne des "Modernismus" ausblieb, insbesondere durch strikte Beibehaltung der priesterlichen Lebensform Jesu. Die meisten Priester verlor "Rom" allerdings schlicht an die Welt. Denn die 'Schleifung der Bastionen', also nicht etwa das "Öffnen der Fenster" (wovon Johannes XXIII. nach dem Zeugnis seines Sekretärs nie gesprochen hatte), sondern ihr totales Herausbrechen aus den pastoralen Räumen, brachte statt "frischer Luft" einen eiskalten Glaubenswinter, von dem sogar Karl Rahner SJ am Lebensende sprach, der Verzweiflung nahe.
Die Päpste Johannes Paul I. und II. und Benedikt, erstgenannter vor allem in seiner Zeit als Bischof, haben das überlieferte Priesterbild nach Kräften wieder mit Konturen versehen, die Priesterseminare gewissermaßen mit klimafreundlicher Isolierverglasung ausgestattet, also den Winter im Zaum gehalten. Nicht so in Deutschland. Hier werden die wenigen Interessenten für das Priestertum seit Jahrzehnten mit zwiespältigen Botschaften malträtiert. Beispiel Zölibat: Wer darüber im Wesentlichen lernt, dass dieser "kein Dogma" sei, nicht in Stein gemeißelt, in Kürze mit einem Federstrich beseitigt werden könnte, der versteht das Augenzwinkern. 'Mit dem Kampf um die Askese brauchst Du Dir keine allzu große Mühe zu geben. Unsere Bischöfe sehen das nicht mehr so eng.' Inzwischen darf der um Keuschheit bemühte Laie fast dankbar sein, wenn der Zölibatsbrecher noch "entlang der Natur" einer Frau an die Wäsche geht (oder mehreren). Denn das muntere Treiben "wider die Natur" ist doch längst stilprägend für einen erheblichen Teil des Klerus geworden, die Bischöfe wohl nicht mehr sämtlich ausgenommen. Allerdings gibt es auch andere Problemzonen, theologische Schwächen, liturgische Schwächen und charakterliche Schwächen. Manche Priester bevorzugen die Administration sogar oder das Schwelgen in Bauvorhaben und meiden die Begegnung mit den Menschen intuitiv. Der 'Arme', dem die Pfarrsekretärin versehentlich einen Termin gab, bekommt die Telefonnummer der Caritas, die 'Betrübte' die Telefonnummer der Lebensberatung. Die Leute kennt die Küsterin oder der Organist.
Die Kommunikation unter Priestern und die der Priester mit dem Volke hat zum Teil makabre Eigenheiten entwickelt. Selten passt die Stimme zur Stimmung. Wer von den höheren Stellen, im Namen des Bischofs, aber viel zu selten durch diesen selbst, permanent dressiert und normiert wird, es heißt natürlich: begleitet und ermutigt, muss permanent angepasst kommunizieren, im Jargon, ermutigend begleiten, wertschätzend formulieren, bis ihm dann an ungeeigneter Stelle doch endlich der Kragen platzt. Die bischöfliche Verwaltung behandelt den einzelnen Priester ihrerseits zunehmend würdelos. Während das Priestertum im Gesamtbild kolossal an Würde verloren hat, in den Augen der "Welt", die man doch durch Anpassung gewinnen wollte, wird Hochwürden von den eigenen Klerokraten nicht mehr hinreichend unterstützt. Priester wird man aber nicht nur, um umherreisend "die Wandlungsworte" zu sprechen und gelegentlich noch eine Absolution zu erteilen. Den Beruf zeichnete ein stimmiges Gesamtbild aus, das seit geraumer Zeit immer und immer neu 'abstrakt' überpinselt wird.
Der theologisch entwertete, kommunikativ isolierte und öffentlich verleumdete Priesterberuf ist, folgerichtig, in den deutschen Diözesen nicht mehr attraktiv, aber auch: weil die früheren, angenehmeren Nebensächlichkeiten des Berufs nicht mehr gegeben sind. Welcher dritte Bauernsohn aus der Eifel oder vierte Sproß eines westfälischen Handwerkers ("überzählige" Söhne gibt es sowieso kaum noch) soll denn als Kaplänchen noch von der schmucken Pfarre auf dem Lande träumen, wo er im Ort zu den Honoratioren zählt und an einem schönen Sommerabend im Pfarrgarten mit dem Apotheker und dem Lehrer ein Bierchen zischen kann? Auch die weltliche Seite des Berufs als 'Weltpriester' wusste manchen zu überzeugen, freilich nur nebenbei. Denn zentral war die Frage: Ruft mich Christus in seinen Dienst? Und sieht mein Bischof das auch so?
Eingeklemmt zwischen Bischof und Laien, ausgeliefert einer permanenten Überforderung von allen Seiten, gleichsam hingerichtet auf dem Altar eines "modernen", nichtssagenden Priesterbildes, lebt der Priester zwar noch "vom Altar", vermittelt den Sinn des Altardienstes aber nicht mehr in den Alltag der Menschen hinein. "Introibo ad altare Dei. Ad Deum qui laetificat juventutem meam." Das waren noch Zeiten! Das Stufengebet zitierte sogar James Joyce, katholisch gebildet. Zum Altare Gottes will ich treten: Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf. Ja, Gott selber erfreute uns von Jugend auf, in der Liturgie, in der Heiligen Schrift, auch in der Literatur und in der Begegnung mit Menschen. Alles spricht! Von der Existenz Gottes her hat jeder Gegenstand seinen Eigenstand, jede Person ihre Würde und jedes Wort sein Gewicht. Daran erinnerte der Priester auch die Vielen, die nicht im strikten Sinn so glaubten, wie es die Kirche zu glauben vorlegte. Aber wenn sie nichts mehr "vorlegt", den Anspruch sinken lässt, nichts aufzeigt, nicht interveniert? Dann bedarf sie auch keiner priesterlichen Berufungen mehr. Dann darf sich jeder glücklich schätzen, dem die gütige Vorsehung erlaubte, den Gedanken an "die Weihe" preiszugeben und andere Wege zu gehen - bescheidener oft, derangiert, aber frei in Christus. Sich demütigen, nicht andere! Wer vom Ausflug "zu Höherem berufen" anonym ins einfache Volk heimkehrt, der verliert aber nicht das Recht mitzureden. Sogar mit Widerrede, die über die amtlich lizenzierte, übliche "Kritik" hinausgeht. Auch das lehrt das Konzil, aber unsere 'Kirche der Hauptamtlichen' will nichts davon hören: Insbesondere dürfen wir schlichten Gemüter und beunruhigten Beter die Hirten daran erinnern, was ihres Amtes ist, das sie vor Gott zu verwalten haben. Pastor, hüte uns, verschmähe uns nicht, aber bewahre uns vor dem Abstieg in das nichtsnutzige Nirgendwo!
Miteinander, und mit Dir: Nicht platte Lyrik wollen wir, kurzschlüssige Impulse, fahrige Reden, sondern 'logiké latreia', redlichen Gottesdienst, die vernünftige Anbetung Gottes; und alles Weitere - immer aus der Perspektive des Altares Christi sehen.
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