Neues Leben auf den Ruinen der Geschichte – Die katholische Kirche in Lettland und Estland

5. Oktober 2022 in Kommentar


Die Kirche im Baltikum ist klein, jung und äußerst lebendig – Eindrücke aus einer Pressereise mit dem „Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken“. Von Petra Lorleberg


Riga-Tallinn (kath.net/pl) Schwerstens gelitten hatten die Menschen im Baltikum im vergangenen Jahrhundert und das Leben ist bis heute davon gezeichnet. Eine Pressereise des Bonifatiuswerkes nach Estland und Lettland ermöglichte mir viele Kontakte mit der Bevölkerung vor Ort, vom Bischof bis zur Strafgefangenen, das ergab einen aussagekräftigen Eindruck von Chancen und Problemen im Baltikum. Da wird beispielsweise ein aktives Kirchengemeindemitglied vorgestellt: „Das ist Frau N.N. – ihre Mutter ist in Sibirien aufgewachsen, wohin die Großeltern mit ihren Kindern verschleppt worden waren.“ Das Leben unter der Sowjetunion (und zunächst auch unter der Gefahr des Nationalsozialismus) brachte den kleinen baltischen Staaten die Gefahr des brachialen Ausblutens bis an den Rand zur Auslöschung. Viele Menschen, viele Familien verschwanden tatsächlich und es ist kein Nachfahr mehr da, der ihre Geschichte wenigstens noch erzählen könnte. Die Kirchen, die Christen, die Pfarrgemeinden wurden willentlich zerbrochen, wenn Kirchengebäude die Sowjetzeit überstanden konnten, dann durchaus als KFZ-Werkstatt oder als Schweinestall.

Auf diesen Ruinen der Weltgeschichte suchten wir bei der Pressereise des Bonifatiuswerkes nach jungem, neuen Leben von Christen, nicht zuletzt von Katholiken. Und tatsächlich: in diesen heutzutage stark atheistisch geprägten Gesellschaften wurden wir fündig. Obwohl sich bsp. in Estland nur 30 % der Bevölkerung zum Christentum und nur 0,5 % zum katholischen Glauben bekennen, gibt es gläubige Katholiken mit Ausstrahlung, gibt es kirchliche Sozialprojekte, in Tallinn etwa auch ein kirchliches Gymnasium, dem sogar Nichtkatholiken und Nichtchristen ihre Kinder anzuvertrauen bereit sind. Eindrücklich war auch der Besuch in der Redaktion des lettischen „Radio Maria“: Das Radio ist teilweise für Katholiken, die ländlich wohnen und deshalb keine Hl. Messen besuchen können, die einzige Kontaktmöglichkeit zur Kirche. Wie wichtig das Radio ist, habe man obendrein während der Coronazeit bemerkt: hier hätten sich die Zuhörerzahlen schlicht verdoppelt, erläuterte der Priester Jānis Meļņikovs, Programmdirektor von „Radio Maria Lettland“. Er sagte uns: „Einer unserer Schwerpunkte sind die Katechese und das II. Vatikanum“.

Die Themen allerdings, die diese Katholiken bewegen, sind auffallend andere als bei uns. Teilweise hat man zwar von den Diskussionen rund um den Synodalen Weg gehört, aber das hat nichts mit dem eigenen Leben in der Kirche zu tun. Hier im Baltikum ist jede helfende Hand willkommen, ohne dass man sich dabei in Strukturdebatten verliert. Weihbischof Andris Kravalis (Riga) erläutert auf die Frage zum Synodalen Weg: „Der Papst hat bereits entschieden“. Er meinte damit, dass es aus sei mit dem deutsch-synodalen Weg – nicht zufällig musste ich an „Roma locuta, causa finita“ denken. Gleichzeitig trifft man auf starke Laienpersönlichkeiten, darunter viele Frauen, die Projekte leiten und dem kirchlichen Leben kraftvoll ihre Prägung geben. Bischöfe und Priester zeigten spürbar hohe Achtung vor diesem Engagement. Demütige Ja-Sager unter den Laien? Fehlanzeige.

Bemerkenswert war etwa der Kontakt zu einer netten estnischen Frau, die sich bescheiden als „Marge“ vorstellte und für uns Kaffee kochte. Zunächst hielt ich sie für ein sympathisches Gemeindemitglied, das vor Ort mithilft. Als nächstes entdeckte man ihre zupackend-energische, fröhliche Persönlichkeit, dann ihre Kompetenz über den in Sowjetzeiten verschleppten und verschwundenen Bischof Eduard Profittlich (Apostolischer Administrator für Estland, deutschstämmiger Jesuit), dessen Spuren sich 1942 verloren und dessen weiteres Schicksal bis zum Fall des Eisernen Vorhangs unbekannt geblieben war (Der Seligsprechungsprozess dieses Märtyrerbischofs läuft). Auf die Frage aus unserer Journalistenrunde, ob schon wissenschaftlich über Profittlich (+1942) gearbeitet wurde, antwortete Marge in großer Klarheit: „Ja! Von mir!“, und überrascht entdeckten wir, dass Marge-Marie Paas einen Doktortitel in Philosophie hat und die Diözesan-Postulatorin für die Seligsprechung Profittlichs ist. Außerdem ist Paas im Vatikan eine anerkannte Estlandspezialistin und umgekehrt die Presseverantwortliche der estnischen katholischen Kirche. Nicht zuletzt aber spürt man ihr in Wort und Tat die gläubige Katholikin an. Die kaffeekochende Marge war für mich eine der großen Überraschungen der Reise.

Ebenso beeindruckend waren die Glaubensfreude ausstrahlende Sr. Hannah Rita Laue, Priorin der lettischen Niederlassung der Dominikanerinnen von Bethanien, und die engagierte Laienkatholikin Frau Dana Anskaite, die mit unglaublicher Energie ein großes Projekt für Suchtkranke auf die Beine stellen. Hier findet sich die konkrete Antwort der Kirche auf die Nöte in der Gesellschaft - und dieses hohe Engagement wird mit Lächeln und in Fröhlichkeit erbracht.

Für mich erwies sich auch die Ökumene als spannendes Thema. In Riga führte uns Weihbischof Andris Kravalis wie selbstverständlich in den lutherischen Dom, dort hatte er auch seine Bischofsweihe empfangen. Beeindruckend, dass das Grab von Meinhard von Segeberg, der in die Anfangszeiten der Missionierung der Letten gehört, während der Umbruchzeiten der Reformation nicht angetastet wurde und bis heute im lutherischen Dom erhalten geblieben ist. Offenbar hatten auch die Lutheraner eine hohe Achtung vor diesem missionarischen Bischof – und umkehrt habe ich hohe Achtung vor der Toleranz dieser lutherischen Christen der Vergangenheit. Meinhard wurde übrigens 1993 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen.

Ökumene klappt auch sonst bewundernswert. Als Minderheit in der Gesellschaft scheinen die Christen zusammenzuhalten. Einzige Ausnahme sind allerdings jene russisch-orthodoxen Christen, die sich nicht vom russischen Patriarchat losgesagt haben. Diese waren allerdings auch schon vor dem aktuellen Krieg und vor der Krimkrise äußerst ablehnend, konnten sich kaum für die Ökumene mit Katholiken erwärmen und die Lutheraner nahmen sie erst recht nicht mehr als Christen wahr – ein sehr trauriges Kapitel der gegenwärtigen Kirchengeschichte.

Stichwort „Russland“: Die Menschen haben Angst. Sie sagen das auch offen. Viele befürchten, dass das Baltikum als nächstes an die Reihe kommt, falls Putin mit seinem Ukrainekrieg Erfolg haben sollte. Dabei wird die Linie praktisch ohne Knick vom Sowjetregime zur Putin-Regierung gezogen, so nach dem Motto, dass man die Russen ja bereits zu Genüge kenne. Obendrein müsse, wie uns verschiedene gutinformierte Persönlichkeiten sagten, speziell Lettland seit etwa 30 Jahren, noch verstärkt unter Putin, kübelweise mediale Beschimpfungen aus Russland über sich ergehen lassen: Es handle sich doch nur um ungebildete baltische Bauern und die baltischen Staaten seien nur ein künstliches Konstrukt der EU.

Der frühere Präsident von Lettland, Valdis Zatlers, erläuterte in kleiner Runde mit uns Journalisten, dass der gegenwärtige Krieg in der Ukraine alte Wunden, die schon fast verheilt waren, nun wieder neu aufbrechen ließen. Weiter sagte er, dass er seit vielen Jahren bewusst russische TV-Serien anschaue und da eine immer stärker werdende Einstimmung auf das Militär bemerke.

Der deutsche Botschafter in Riga, Christian Heldt, erläuterte uns im Pressegespräch, dass man in Lettland nach 1989 in Gefahr war, zur Minderheit im eigenen Land zu werden. Dennoch gelinge auch Integration russischer Mitbürger, so habe es bis vor kurzem sogar eine russischstämmige Innenministerin gegeben.

Insgesamt besteht offenbar im Baltikum große Offenheit gegenüber jenen Russen, die sich integrieren wollen, die die Landessprache als Zweitsprache erlernen, ihre Kinder zweisprachig erziehen und die den Landespass haben oder haben wollen. Immer wieder trifft man auch auf Beispiele gelungener Integration: Auf unsere Frage an einen estnischen katholischen Parlamentarier, wie es sich denn mit der russischstämmigen Bevölkerung verhalte, musste er lächeln und sagte, dass er selbst dazugehöre: seine Vorfahren seien Russen. Ja, dieser gewählte Parlamentarier wirkte tatsächlich voll integriert. Übrigens war er erst spät und sehr bewusst katholisch geworden: Der Weg zum Glauben ging für diesen Wissenschaftler über nüchterne Fakten.

Doch zurück zur Kirche im Baltikum: Wie wichtig Auslandsreisen von Päpsten in so kleine christliche Kommunitäten sind, zeigte sich auch daran, mit welcher Begeisterung uns von deren Besuchen erzählt wurde. Johannes Paul II. kam 1993, kurz nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, und Franziskus 2018. Offenbar wirken diese Besuche regelrecht als Motor für die katholische Kirche nach innen sowie für das Bild und die Wahrnehmung der katholischen Kirche in der säkularen Gesellschaft.

Was bleibt nach so einer Pressereise? Eine Weitung des Horizontes auf die Weltkirche: die deutschsprachigen Katholiken sind keineswegs der Nabel der katholischen Welt, und Entscheidendes, Missionarisches, echte Basisarbeit geschieht durchaus anderswo, fernab von den Debatten, wer was wie darf. Es bleibt der Eindruck, dass katholischer Glauben und Engagement für Soziales Hand in Hand gehen. Und dass das Engagement von Hilfswerken wie dem Bonifatiuswerk unverzichtbar ist, denn hier vereinen sich konkrete Vor-Ort-Hilfe mit Kompetenz.

Last but not least: Es bleibt der Eindruck, dass sich im Baltikum tatsächlich neues kirchliches Leben auf den alten Ruinen der Weltgeschichte regt. Das Foto zu diesem Beitrag zeigt nicht zufällig, wie sich das Sonnenlicht seinen Weg in die majestätische Ruine des Birgittinnenklosters in Tallinn (willentlich niedergebrannt 1577) bahnt.

Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken ist gemäß Selbstdarstellung „das Hilfswerk für den Glauben. Es unterstützt katholische Christen dort, wo sie in einer extremen Minderheitensituation, in der Diaspora, ihren Glauben leben. Mit seiner Bau-, Verkehrs-, Kinder- und Glaubenshilfe fördert es Projekte in Deutschland, Nordeuropa und dem Baltikum.“ Viele Spender fördern aktiv dieses Engagement.

Foto: Ruine der historischen Kirche der Birgittinnen bei Tallinn/Estland © kath.net/Petra Lorleberg


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