18. Oktober 2022 in Interview
Nach Fatima-Prozession durchs Brandenburger Tor erinnert sich Lohmann daran, wie er dem Papst eine von ihm geschriebene Titelseite zeigte: „Er sagte: ‚Ja, ja, der Mauerbrecher. Das ist der Papst, das bin ich.‘“ kath.net-Interview von Petra Lorleberg
Berlin-Bonn (kath.net/pl) Tief bewegt zeigt sich der bekannte Theologe, Autor und Journalist Martin Lohmann nach der Fatima-Prozession durch das Brandenburger Tor in Berlin. Vor den 4.000 Teilnehmern der Prozession hatte Lohmann dann aus der Rede vorgelesen, die Papst Johannes Paul II. 1996 am Brandenburger Tor gehalten hatte (kath.net dokumentiert diese historische Rede in voller Länge, siehe unten). Außerdem erzählt Lohmann im KATH.NET-Interview aus Begegnungen mit dem Papst aus Polen. Zur Zeit des Fotos war Lohmann der stellvertretende Chefredakteur des „Rheinischen Merkur“ sowie Leiter von "„Christ und Welt“.
kath.net: Herr Lohmann, Sie waren diese Woche einer der viertausend Teilnehmer, als erstmals eine Fatima-Lichterprozession durch das Brandenburger Tor in Berlin zog. Sie haben dem Nuntius assistiert bei der Marienweihe in St. Clemens, und Sie haben in der Mitte Berlins den Rosenkranz hörbar auf der Straße vorgebetet. Wie ging es Ihnen dabei?
Martin Lohmann: Mir ging es wohl wie vielen anderen auch: Ich war – und bin es eigentlich immer noch – sehr bewegt. Die Gegenwart der Gottesmutter war regelrecht zu greifen, spürbar. Es war eine intensive Zeit des Segens und der Ausrichtung auf Gott, der ja nach wie vor da ist, der lebt, der mit uns durch das Leben geht und auf den wir gerade auch in schwierigen und wirren Zeiten vertrauen dürfen. Auch heute dürfen wir wissen, dass der allmächtige und barmherzige Gott, der die reine Liebe ist, durch seinen Sohn Jesus Christus jeden von uns zur Erlösung einlädt.
Der Gottessohn ist tatsächlich, so kann man sagen, auch und gerade für jeden Menschen von heute ganz persönlich vor 2000 Jahren am Kreuz gestorben und für jeden von uns hat er durch die Auferstehung das Tor zum Himmel aufgeschlossen. Wir müssen dieses Geschenk nur ganz einfach gläubig annehmen.
Wir müssen und können ganz einfach Nein sagen zu allem Bösen, zu aller Verführung, zu aller Gottesleugnung und allem Hass. Und wir können klar und ruhig immer wieder Ja sagen zur Wahrheit, zu Gott, zur Ehrfurcht, zur Liebe und zum Mut, Inseln des Segens und der wirklichen Humanität zu schaffen.
Wenn Sie so wollen: Bei dieser Fatimaprozession mit der Nationalmadonna von Fatima, die wir durch die Hauptstadt und deren Zentrum getragen haben, war der Himmel über Berlin wirklich offen. Die vielen Menschen aus allen Generationen und aus ganz Deutschland haben ein Wort von Papst Benedikt XVI. geradezu selbstverständlich gelebt: Wer glaubt, ist nie allein.
Tja, wie ging es mir, fragten Sie. Vielleicht fasse ich das so zusammen: Beseelt, glücklich, intensiv, hoffnungsvoll, geborgen, lichtreich. Vor allem am Brandenburger Tor verdichtete sich das alles. Sicher nicht nur bei mir. Erst recht bei vielen, die wie ich ein Marienkind sind.
kath.net: Sie bezeichnen sich als „Marienkind“?
Lohmann: Ja. Das ist ja letztlich auch nichts Exklusives. Ich habe das vor etlichen Jahren erst so richtig erkannt, nachdem mir einmal klar wurde, dass die Gottesmutter auch mich bisher in allen wichtigen und entscheidenden Situationen segensreich begleitet hat. Alle entscheidenden Lebensdaten, Herausforderungen, Glaubensprüfungen und Aufgaben sind, so habe ich rückblickend einmal festgestellt, mit einem Marienfeiertag verbunden. Was für ein Segen! Wissen Sie, ich wünschte, viel mehr Menschen würden und könnten sich der Wirklichkeit öffnen, die Christus jedem vom Kreuz her geschenkt hat, als er seinem Jünger Johannes – und damit auch uns allen – seine Mutter als Mutter anvertraute, und als er den Jünger seiner Mutter als Sohn und Kind anvertraute.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle gerade heute in dieser „unserer“ Mutter eine wahrlich wundersame Fürsprecherin und Helferin haben. Ich finde, das ist ein unfassbar schönes Geschenk, so wie der Rosenkranz ein wunderbares Geschenk ist. Je mehr ihn täglich beten, desto besser für alle!
kath.net: Stimmt es, dass Sie auch Marienritter von Tschenstochau, dem Lieblingswallfahrtsort von Karol Wojtyla/Johannes Paul II. sind? Und ebenso bei der Militia Immaculatae des Heiligen Maximilian Maria Kolbe?
Lohmann: Ja. Und das bin ich sehr gerne und aus großer und dankbarer Überzeugung.
kath.net: Sie haben da eine besondere Erinnerung: Brandenburger Tor 1996. Möchten Sie uns davon erzählen?
Lohmann: Meine Frau und ich waren eingeladen, bei diesem außerordentlichen historischen Ereignis dabei zu sein. Ich werde das niemals vergessen! Wir saßen damals unmittelbar hinter Joseph Kardinal Ratzinger, und wir alle spürten regelrecht das – wie soll ich es sagen? – Knistern der Geschichte, als der Heilige Vater, der wesentlich zum Fall der Mauer und damit zur Öffnung des Brandenburger Tores beigetragen hatte, auf einem roten Teppich durch dieses jetzt offene Tor schritt.
Seine damalige Rede, in der er immer wieder bekannte, dass der Mensch zur Freiheit berufen ist, und in der er sagte, dass die Freiheit einen Namen hat, nämlich Jesus Christus, werde ich nie vergessen. Diese Rede war, ist und bleibt hochaktuell. Man sollte sie gerade heute immer wieder lesen. Sie scheint mir heute fast noch aktueller als damals zu sein.
kath.net: Jetzt haben Sie aus dieser großen Rede des Heiligen unmittelbar vor dem Brandenburger Tor zitiert. Wie war das für Sie?
Lohmann: Es war mir nach all dem, was ich soeben sagte, eine große Freude und demütige Ehre, dass ich nun ausgerechnet aus dieser Rede bei der Fatimaprozession genau an diesem Brandenburger Tor vortragen durfte. Und da ich unmittelbar vor der Fatimamadonna stand, hatten manche und so auch ich den Eindruck, dass der damalige Papst und jetzige Heilige vom Himmel aus mit anwesend war. Als wir dann mit der Statue der Gottesmutter durch das Brandenburger Tor zogen, habe ich wieder das Knistern der Geschichte gespürt. Und: sehr viel Segen!
Das passte und passt sehr gut zu dem, was Johannes Paul II. 1978 auf dem Petersplatz in die Welt rief: Habt keine Angst! Öffnet die Tore weit für Christus! Am 12. Oktober konnte man genau dies im Herzen hören. Das machte und macht Mut.
kath.net: Konnten Sie im Zusammenhang mit seinem damaligen Deutschlandbesuch Papst Johannes Paul II. auch persönlich begegnen? Kannten Sie Papst Johannes Paul II. eigentlich auch persönlich?
Lohmann: Ja, in der Tat. Ich kannte ihn, und er mich. Wenige Tage nach seinem damaligen Pastoralbesuch in Deutschland war ich wieder einmal in die Frühmesse des Papstes eingeladen, was für mich jedesmal ein Geschenk der Gnade war. Ich durfte diesem Papst in der Tat häufig begegnen, und dafür bin ich bin heute dankbar. Für jede Begegnung und jedes Gespräch.
Nach der Heiligen Messe in der Privatkapelle des Papstes 1996 kurz nach seinem Deutschlandbesuch hatte ich Gelegenheit, mich für seine Reise zu bedanken, ihm meinen Sonderdruck sowie den Rheinischen Merkur zu überreichen, auf dessen Titelseite ich über ihn geschrieben hatte unter der Überschrift „Der Mauerbrecher“. Er zeigte darauf und sagte: „Ja, ja, der Mauerbrecher. Das ist der Papst, das bin ich.“
Als ich ihn dann fragte, was denn für ihn der Höhepunkt seiner Pastoralreise gewesen sei, dachte ich, er würde die Seligsprechung von Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner im Olympiastadium nennen. Doch der Heilige Vater antwortete mir sofort: „Das kann ich Ihnen sagen. Das war die Rede am Brandenburger Tor.“ Auch deshalb hat es mich sehr bewegt und forderte Konzentration, als ich nun ausgerechnet aus dieser diesen Johannes Paul den Großen so bewegenden und ihm so wichtigen Rede zitieren durfte.
kath.net: Wie ordnen Sie, der Sie ja auch Historiker sind, das Pontifikat von Papst Johannes Paul II. und dessen Auswirkungen hinsichtlich des Zusammenbrechens der Sowjetdiktatur ein?
Lohmann: Es war sicher kein Zufall, dass der neu gewählte Papst bei seiner Amtsübernahme 1978 in die Welt hinein rief: Habt keine Angst, öffnet die Tore für Christus! Und es war ja auch kein Zufall, dass Papst Johannes Paul II. in Warschau bei seiner Predigt zu Pfingsten ganz konkret rief: Komm, Heiliger Geist, und erneuere das Angesicht dieser Erde.
Nun gut, früher wurde man ausgelacht, belächelt oder auch beschimpft, wenn man darauf hinwies, dass der Eiserne Vorhang und die Mauer in Berlin auch und gerade deshalb fielen, weil es Johannes Paul II. gab und er die Vision von Freiheit niemals verlor, leugnete oder versteckte. Ich weiß, wovon ich rede. „Zufällig“ konnte ich als Journalist dabei sein, als Johannes Paul II. und Michail Gorbatschow sich erstmals 1989 im Vatikan, im Päpstlichen Palast begegneten.
Viele Jahre später hatte ich die Gelegenheit, Michail Gorbatschow persönlich zu treffen und zu sprechen. Ich fragte ihn, ob er seine Mission, die zum Zusammenbruch der UdSSR führte, eigentlich ohne Papst Johannes Paul II. hätte machen können und ob dieser Papst für ihn ein wichtiger Partner für Freiheit gewesen sei. Der ehemalige Sowjetführer bestätigte mir, dass es ohne Johannes Paul II. niemals gelungen sei, und er sagte, er sei Johannes Paul II. dankbar für dessen großen Einsatz für Frieden und Freiheit. In seinen Memoiren kann man ähnliches von Gorbatschow übrigens nachlesen.
kath.net: Wir Deutschen können also gerade auch Johannes Paul II. dankbar sein?
Lohmann: Und ob. Sehr sogar. Es wird, so meine ich, höchste Zeit, dass wir das auch und gerade in Berlin sichtbar machen durch ein entsprechendes Denkmal. Um zu unserer Prozession zurückzukommen: Deutschland hat allen Grund, Maria zu danken. Aber Deutschland hat auch allen Grund, Johannes Paul II., der sich stets als Diener Mariens sah und wusste. Das große „M“ unter dem Kreuz in seinem Papstwappen und sein Wahlspruch verweisen darauf: Totus Tuus. Ganz Dein. Ganz der Deine.
Vor dem Brandenburger Tor erinnerte Johannes Paul II. einst daran, dass es keine Freiheit ohne Wahrheit geben kann – Seine historische Rede hat nichts von ihrer Aktualität verloren – Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls lohnt es sich, die prophetischen Worte des Papstes aus Polen neu ins Bewusstsein zu rufen Es waren Bilder, die um die Welt gingen. Zum Abschluss seines Besuches in Deutschland durchschritt Papst Johannes Paul II. am 23. Juni 1996 an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl das Brandenburger Tor. Im Anschluss daran hielt der „Mauerbrecher aus Polen“, dessen Verdienste um die Deutsche Einheit unbestreitbar sind, eine international beachtete Rede. kath.net dokumentiert den Freiheitsappell von Papst Johannes Paul II. an die Weltöffentlichkeit im vollen Wortlaut:
Liebe Berliner,
meine Damen und Herren!
1. Es ist die Stunde des Abschieds und für mich ein zutiefst bewegender Augenblick, in den heutigen Abendstunden mit Ihnen hier am Brandenburger Tor im Herzen Berlins zusammentreffen zu können.
Lassen Sie mich beginnen mit einem vielfachen Dank. Mein Dank gilt zuerst dem Herrn Bundespräsidenten für seine Einladung, Deutschland zu besuchen. Die überaus freundlichen Worte, mit denen er mich am Freitag bei meiner Ankunft auf dem Flughafen Paderborn/Lippstadt willkommen geheißen, und die Herzlichkeit, mit der er mich heute morgen auf Schloss Bellevue hier in der Bundeshauptstadt empfangen hat, haben mich unter Ihnen wie zu Hause fühlen lassen.
Herr Bundeskanzler, ich bin sehr glücklich über Ihre Anwesenheit. Sie sind der Baumeister der neugewonnenen Einheit Ihres Volkes. Sie haben die weltgeschichtliche Chance genutzt, siebzehn Millionen Landsleuten die Freiheit zu erringen und die Einheit des deutschen Volkes zu vollenden. Sie haben es gewagt, den Menschen Ihres Landes um der Einheit in Freiheit willen nicht geringe Opfer zuzumuten. Möge Gott Ihnen und Ihrem deutschen Vaterland die Kraft geben, dieses Werk zu vollenden.
Mein aufrichtiger Dank geht ebenso an Sie, Herr Regierender Bürgermeister, der Sie mit dem Herrn Bundeskanzler so bedenkenswerte Worte an uns alle gerichtet haben. Ferner begrüße ich die Präsidentin des Deutschen Bundestages sowie den Parlamentspräsidenten von Berlin, die Mitglieder der Bundesregierung, des Berliner Senats sowie die Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages und des Parlamentes von Berlin.
Mein inniger Dank gilt dem deutschen Episkopat, euch, meinen Mitbrüdern im Bischofsamt, die Ihr diese Reise wesentlich mitgestaltet habt.
Für euch ist diese Reise auch eine Reise dessen,
– der im Auftrag Christi, des Hauptes der Kirche, die Gläubigen aufsucht, um sie im Glauben zu stärken und zu ermutigen,
– der mit den Sprechern der getrennten Schwestern und Brüder zusammentrifft, um die Suche nach der Einheit zu vertiefen,
– der den Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in diesem Land begegnet, um ihnen nochmals die Hochachtung der katholischen Kirche zum Ausdruck zu bringen,
– der allen Menschen nichts anderes als die befreiende Botschaft des Evangeliums verkündigen möchte und die Erkenntnis Jesu Christi, die alles übertrifft (vgl. Phil 3,8).
Eure Nähe, liebe Brüder im Bischofsamt, erfüllt mich mit Zuversicht: Es ist die Sendung des einen Herrn, die euch und mich beseelt, es ist die eine Liebe, die euch und mich erfüllt: dass nämlich die Botschaft von der Liebe Gottes, die vor dem Kreuz nicht zurückschreckte, die Herzen aller Menschen erreicht und sie in selbstloser Liebe antworten lässt. Mein Dank geht insbesondere an meine Mitbrüder Georg Maximilian Kardinal Sterzinsky und Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt, deren Erzdiözesen ich besuchen durfte. Danken möchte ich ferner dem Herrn Vorsitzenden eurer Bischofskonferenz für die sehr herzlichen Worte zum Abschied.
An dieser Stelle danke ich all denen, die diesen Besuch in mühevoller und sorgfältiger Arbeit vorbereitet, und denen, die den reibungslosen Ablauf gewährleistet haben, sowie den Mitarbeitern der Medien, die ihn begleitet haben.
Die Berliner und die Deutschen haben mich bei diesem Besuch ihre Verbundenheit und Nähe spüren lassen. Ihnen allen sage ich meinen herzlichsten Dank.
2. Es war von allem Anfang an mein aufrichtiger Wunsch, bei diesem Pastoralbesuch in Deutschland auch nach Berlin zu kommen. Zunächst wollte ich natürlich den Gläubigen dieses Erzbistums begegnen, die wie alle Berliner die schmerzvolle Spaltung ihrer Stadt über Jahrzehnte erdulden mussten und trotzdem sich nicht haben beirren lassen und in innerer Verbundenheit und Solidarität erfuhren, dass die Macht der Gewalt und des Zwanges, der Mauern und des Stacheldrahtes, die Herzen der Menschen nicht auseinanderreißen konnte.
Nirgendwo sonst haben sich während der gewaltsamen Teilung Ihres Landes die Sehnsüchte nach Einheit so sehr mit einem Bauwerk verbunden wie hier. Das Brandenburger Tor wurde von zwei deutschen Diktaturen besetzt. Den nationalsozialistischen Gewaltherrschern diente es als imposante Kulisse für Paraden und Fackelzüge, und von den kommunistischen Tyrannen wurde dieses Tor mitten in dieser Stadt zugemauert. Weil sie Angst vor der Freiheit hatten, pervertierten die Ideologen ein Tor zur Mauer. Gerade an dieser Stelle Berlins, die zugleich zur Nahtstelle Europas wurde, zur unnatürlichen Schnittstelle zwischen Ost und West, gerade an dieser Stelle offenbarte sich für alle Welt sichtbar die grausame Fratze des Kommunismus, dem die menschlichen Sehnsüchte nach Freiheit und Frieden suspekt sind. Vor allem aber fürchtet er die Freiheit des Geistes. Auch sie wollten die braunen und roten Diktatoren zumauern.
3. Menschen waren durch Mauern und tödliche Grenzen voneinander getrennt. Und in dieser Situation wurde das Brandenburger Tor im November 1989 Zeuge davon, dass Menschen das Joch der Unterdrückung abschüttelten und zerbrachen. Das geschlossene Brandenburger Tor stand da wie ein Symbol der Trennung; als es endlich geöffnet wurde, wurde es zum Symbol der Einheit und zum Zeichen dafür, dass die Forderung des Grundgesetzes nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung erfüllt ist. So kann man zu Recht sagen: Das Brandenburger Tor ist zum Tor der Freiheit geworden.
An diesem so geschichtsträchtigen Ort fühle ich mich veranlasst, an Sie alle, die Sie hier anwesend sind, an das deutsche Volk, an Europa – das auch zur Einheit in Freiheit gerufen ist –, an alle Menschen guten Willens einen dringenden Appell für die Freiheit zu richten. Möge dieser Appell auch jene Völker erreichen, denen bis heute das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird, jene nicht wenigen Völker – es sind sogar viele –, bei denen die Grundfreiheiten der Person – die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die politische Freiheit – nicht gewährleistet sind.
4. Der Mensch ist zur Freiheit berufen.
Freiheit bedeutet nicht das Recht zur Beliebigkeit. Freiheit ist kein Freibrief! Wer aus der Freiheit einen Freibrief macht, hat der Freiheit bereits den Todesstoß versetzt. Der freie Mensch ist vielmehr der Wahrheit verpflichtet. Sonst hat seine Freiheit keinen festeren Bestand als ein schöner Traum, der beim Erwachen zerbricht. Der Mensch verdankt sich nicht sich selbst, sondern ist Geschöpf Gottes; er ist nicht Herr über sein Leben und über das der anderen; er ist – will er in Wahrheit Mensch sein – ein Hörender und Horchender: Seine freie Schaffenskraft wird sich nur dann wirksam und dauerhaft entfalten, wenn sie auf der Wahrheit, die dem Menschen vorgegeben ist, als unzerbrechlichem Fundament gründet. Dann wird der Mensch sich verwirklichen, ja über sich hinauswachsen können. Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit.
5. Der Mensch ist zur Freiheit berufen.
Die Idee der Freiheit kann nur da in Lebenswirklichkeit umgesetzt werden, wo Menschen gemeinsam von ihr überzeugt und durchdrungen sind – in dem Wissen um die Einmaligkeit und Würde des Menschen und um seine Verantwortung vor Gott und den Menschen. Da – und nur da –, wo sie zusammen für die Freiheit einstehen und in Solidarität für sie kämpfen, wird sie errungen und bleibt sie erhalten. Die Freiheit des Einzelnen ist nicht zu trennen von der Freiheit der anderen, aller anderen Menschen. Wo die Menschen ihren Blick auf das je eigene Lebensfeld begrenzen und nicht mehr bereit sind, auch ohne Vorteile für sich selbst sich für andere zu engagieren, da ist die Freiheit in Gefahr. In Solidarität gelebte Freiheit demgegenüber wirkt sich aus im Einsatz für Gerechtigkeit im politischen und sozialen Bereich und lenkt den Blick auf die Freiheit. – Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität.
6. Der Mensch ist zur Freiheit berufen.
Die Freiheit ist ein überaus kostbares Gut, das einen hohen Preis verlangt. Sie verlangt Hochherzigkeit, und die schließt Opferbereitschaft mit ein; sie verlangt Wachsamkeit und Mut gegenüber den Kräften, die sie von innen oder von außen bedrohen. In der Haltung der Opferbereitschaft sind im alltäglichen Leben viele Menschen mit Selbstverständlichkeit zu Verzicht bereit – in der Familie oder unter Freunden. Opfer für die Freiheit bringen die, die für die Verteidigung nach innen oder nach außen Nachteile in Kauf nehmen, die anderen erspart bleiben – bis hin zu Gefahren für Leib und Leben. Keiner kann sich von seiner persönlichen Verantwortung für die Freiheit dispensieren. Es gibt keine Freiheit ohne Opfer.
7. Der Mensch ist zur Freiheit berufen.
Berlin ist eine zutiefst lebendige und in vielerlei Hinsicht kreative Stadt. In ihrer unübersehbaren Internationalität treffen hier vielfältige Traditionen und Lebensformen aufeinander. Berlin ist eine anerkannte Stadt der Kultur und der Kunst, des Filmes und der Museen, ein Ort des Austausches und der Vermittlung. Mir liegt sehr viel an der Aussagekraft dieser Formen menschlicher Kultur, ist es doch die Gabe, mit unseren Kräften die göttliche Schöpfung weiterzuführen und zu konkretisieren. Ich rufe daher alle Künstler und Wissenschaftler auf, ihre Gaben zum konstruktiven Aufbau einer umfassenden „Zivilisation der Liebe“, wie ich es nach meinem Vorgänger Paul VI. gelegentlich genannt habe, zu nutzen, einer Zivilisation, „die auf den universellen Werten des Friedens, der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Freiheit gegründet ist. Die ,Seele‘ der Zivilisation der Liebe ist die Kultur der Freiheit, die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Nationen, die in einer selbstgegebenen Solidarität und Verantwortung gelebt werden kann“ (Ansprache vor der UNO- Vollversammlung, 5.10.1995,18).
Wenn einer die Erfahrung der Liebe hat, hat er auch die Erfahrung der Freiheit. In der Liebe überschreitet der Mensch sich selbst, er lässt sich los, weil ihm am anderen liegt, weil er will, dass das Leben des anderen gelingt. So fallen die Schranken der Selbstbezogenheit und so findet man die Freude am gemeinsamen Einsatz für höhere Ziele. Achtet die unantastbare Würde eines jeden Menschen, vom ersten Moment seiner irdischen Existenz bis hin zum letzten Atemzug! Erinnert euch immer wieder an die Erkenntnis, die euer Grundgesetz allen anderen Erklärungen voranstellt: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Befreit euch zur Freiheit in Verantwortung! Öffnet die Tore für Gott!
Das neue Haus Europa, von dem wir sprechen, braucht ein freies Berlin und ein freies Deutschland. Es braucht vor allem die Luft zum Atmen, geöffnete Fenster, durch die der Geist des Friedens und der Freiheit eindringen kann. Europa braucht nicht zuletzt deshalb überzeugte Türöffner, also Menschen, die die Freiheit schützen durch Solidarität und Verantwortung. Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa braucht dazu den unentbehrlichen Beitrag der Christen.
Den Berlinern und allen Deutschen, denen ich dankbar bin für die friedliche Revolution des Geistes, die zur Öffnung dieses Brandenburger Tores führte, rufe ich zu: Löscht den Geist nicht aus! Haltet dieses Tor geöffnet für euch und alle Menschen! Haltet es geöffnet durch den Geist der Liebe, durch den Geist der Gerechtigkeit und den Geist des Friedens! Haltet das Tor offen durch die Öffnung eurer Herzen! Es gibt keine Freiheit ohne Liebe.
Der Mensch ist zur Freiheit berufen. – Ihnen allen, die Sie mich jetzt hören, verkündige ich: Die Fülle und die Vollkommenheit dieser Freiheit hat einen Namen: Jesus Christus. Er ist der, der über sich bezeugt hat: Ich bin die Tür. In ihm ist den Menschen der Zugang geöffnet zur Fülle der Freiheit und des Lebens.
Er ist der, der den Menschen wirklich frei macht, indem er die Finsternis aus dem menschlichen Herzen vertreibt und die Wahrheit aufdeckt. Er vollendet seinen Weg als unser Bruder und seine Solidarität mit uns in der Hingabe seines Lebens für uns. So befreit er uns von Sünde und Tod. Er lässt uns in unserem Nächsten sein eigenes Angesicht, das Gesicht des wahren Bruders, erkennen. Er zeigt uns das Antlitz des Vaters und wird für alle das Band der Liebe.
Christus ist unser Erlöser, ist unsere Freiheit.
8. Der Tag neigt sich dem Abend zu. Aber wir bewahren in unseren Herzen das Licht, dessen wir uns heute haben erfreuen dürfen. Und wir bleiben eins in der Hoffnung, die uns beseelt. Vor meiner Rückkehr nach Rom lade ich Sie herzlich ein zu einem Wiedersehen in der Ewigen Stadt beim Großen Jubiläum des Jahres 2000.
Gott segne Berlin, Gott beschütze Deutschland!
Archivfoto: Martin Lohmann zeigt Papst Johannes Paul II. die von ihm entworfene Titelseite des "Rheinischen Merkur" mit der Überschrift "Der Mauerbrecher" (c) Osservatore Romano/privat
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