„Niemand kann die Lehre Christi reformieren oder modernisieren“

20. Oktober 2022 in Kommentar


„Der anthropologische Nihilismus ist … signifikant lebensfeindlich. Das wird manifest in der Forderung nach der Tötung der Kinder im Mutterleib als Menschenrecht.“ Von Gerhard Cardinal Müller, Rom


Rom/Mexiko-Stadt (kath.net) Eine gekürzte Version des folgenden Textes „Der Mensch geschaffen nach Gottes Bild – Ein Manifest gegen anthropologischen Nihilismus“ hielt Gerhard Kardinal Müller beim „XIV Congreso Mundial de las Familias“, dem XVI. Weltfamilientreffen (30.9.-2.10.2022), in Mexiko-Stadt. An dem Treffen nahmen knapp 10.000 Dauerteilnehmer teil, außerdem kamen zahlreiche Tagesgäste hinzu. Weitere herausragende Persönlichkeiten, die auf dem Kongress sprachen, waren u.a. Kardinal Carlos Aguiar Retes, Erzbischof von Mexiko-Stadt; die Mutter des seliggesprochenen italienischen Jugendlichen Carlo Acutis sowie Christopher West (Gründer und Leiter des Instituts „Theologie des Leibes“ gemäß Johannes Paul II.). Der Kongress wurde von katholischen, nichtkatholischen Christen und nichtreligiösen Organisationen verantwortet und verteidigte Familie und Ehe.

Friedrich Nietzsche (1844-1900), der Prophet des nachchristlichen Nihilismus, verkündete nach dem Tod Gottes den Übermenschen, der für sich selbst sein eigener Gott und Schöpfer ist (cf. F. N. Also sprach Zarathustra I. Von der schenkenden Tugend: „Tot sind alle Götter; nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“). Eine Neuauflage dieses Programms der Selbstübersteigung des Menschen zum gottgleichen Schöpfer eines höheren bio-technischen Hybrids bietet uns Yuval Noah Harari, der Guru des Trans- und Posthumanimus, in seinem Buch mit dem Titel: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow (2015).

Was bei der sogenannten „Neuen Weltordnung“ gegen den Gott der christlichen Offenbarung herauskommen musste, war nicht der göttliche Übermensch, sondern der diabolische Unmensch des 20. Jahrhunderts. Wenn Nietzsches Satz „Gott ist tot“ das Bewusstsein der Welt von heute widerspiegelt, dann ist klar, dass unter den Vorzeichen dieses Nihilismus „ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann.“ (M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1972, 201). Das ist das Zeitalter der Weltkriege, der Genozide, der Massenvernichtung und der ungeheuerlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wenn der Mensch nicht mehr das Geschöpf sein darf nach dem Bild und Gleichnis des dreieinigen Gottes, dann versinkt er im Strudel des anthropologischen Nihilismus. Die Ideologen der „Moderne ohne Gott“ kennen den Menschen nur als eine Laune der mythischen Götter, als Zufall der mit sich spielenden Naturelemente, als komplexer werdender Organismus der Evolution (ökologische Religion) oder als Produkt der Gesellschaft und der Geschichte (Marxismus) oder als Angebot aus dem Warenkatalog (Kapitalismus als Profitmaximierung). Statt des alles menschenfreundlichen Logos Gottes, der sich in seinem Wort und Geist dem erwählten Volk des Bundes als Schöpfer der Welt und Retter aller Menschen selbst bezeugt, ist es dann die fehleranfällige und interessengeleitete Vernunft des endlichen Menschen, die sich selbstbewusst einen Sinn gibt und sich ein Ziel seines „Willens zur Macht“ (Niezsche) setzt. Der Mensch ist dann nicht mehr wie zu Beginn der Neuzeit lediglich „Meister und Besitzer der Natur“ (Descartes), sondern auch ideologisch der Schöpfer seines geistigen Selbst. Er ist gezwungen sich existentialistisch-emanzipatorisch aus dem Nichts zu einem Sein emporarbeiten. Der Mensch ist das, was er aus sich macht. (Jean-Paul Sartre). Das geistige und leibliche Ich-Sein löst sich lebensgeschichtlich auf in nicht mehr zu integrierende Selbst-Erfahrungen und emanzipierte Selbst-Bestimmungen, die wie Wasserblüten in allen Farben auf der Oberfläche forttreiben ohne je Wurzel zu fassen.

Dann ist aber auch mein Körper nicht mehr mein Ich in seinem materiellem Möglichkeitsgrund. Mein Leib wäre mit mir nur akzidentell verbunden wie ein Kleid, das sich umschneidern lässt und dem es einen je neuen Outlook zu verpassen gilt.

Der anthropologische Nihilismus hat als Vater den Stolz des Geschöpfs, das sein will wie Gott (Gen 3,5) und den Unterschied zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch selbst festsetzen will. Seine Leih-Mutter ist die blinde Torheit der Gottlosen, welche die „Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes“ vertauschen mit ihren selbstgemachten ideologischen Bildern. Wenn der Mensch das Geschaffene anstelle des Schöpfers anbetet, verliert er die Herrlichkeit der Kinder und Freunde Gottes (vgl. Röm 1, 20-32).

Der anthropologische Nihilismus ist sowohl in seiner politischen Gestalt als auch im ideologisch-emanzipatorischen Pathos der Woke-Ideologie signifikant lebensfeindlich. Das wird manifest in der Forderung nach der Tötung der Kinder im Mutterleib als Menschenrecht. Die Utilitaristen fordern den Gnadentod (Euthanasie) für die verbrauchten oder nicht mehr zu gebrauchenden Menschen.

Das zeigt sich besonders auch in der Relativierung der Ehe von Mann und Frau als einer unter beliebig vielen Varianten des orgiastischen Genusses sexueller Befriedigung ohne die volle Selbsthingabe in Liebe und ohne die Selbst-Überschreitung zum einem Dritten, nämlich dem Kind als Frucht der Liebe und des Leibes seiner Eltern. Man leugnet den Bezug auf die Fruchtbarkeit der Ehe, mit welcher der Schöpfer Mann und Frau gesegnet hat, damit sie das von Gott geschaffene Leben weitergeben, behüten, fördern. Die natürliche und sakramentale Ehe jedoch mündet in die Gemeinschaft der Familie und begründet die Einheit der Menschheit in der Folge der Generationen. Die Zeugung der Kinder in Liebe dient der Realisierung des universalen Heilswillens Gottes. Der Sinn des Lebens des einzelnen Menschen beschränkt sich nicht auf seinen Anteil am Erhalt der biologischen Spezies „Mensch“. Jeder ist eine einmalige Person, die ewig auf Gott bezogen ist als Ursprung und Ziel der ganzen Schöpfung. Alle Menschen sind schon vor ihrer historischen Existenz in Raum und Zeit von Gottes Ewigkeit her erwählt und „in Liebe prädestiniert, seine Söhne/Töchter zu werden durch Jesus Christus und zu ihm zu gelangen nach seinem gnädigen Willen.“ (Eph 1, 5)

Abgesehen von der biologisch einwandfrei bewiesenen Tatsache, dass eine wirkliche Geschlechtsumwandlung nicht möglich ist, entspringt die Fiktion auf eine freie Wahl des Geschlechtes einer Negation des Willens Gottes zu unserem Person-Sein. Jeder einzelne Mensch existiert in seiner leiblichen Natur entweder im männlicher oder in weiblicher Ausprägung. Die Genderideologie beraubt sowohl den Mann als auch die Frau ihrer ureigenen Möglichkeiten. Ein Mann hat aufgrund seiner geistigen und leiblichen Disposition die Möglichkeit seiner Frau ein liebender Gatte und seinen Kindern ein treusorgender Vater zu werden. Aber er kann nicht ohne Verrat an sich selbst einen anderem Menschen Gattin oder Mutter sein. „Denn im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau. Denn wie der Mann von Gott stammt, so kommt der Mann durch die Frau zur Welt; alles aber stammt von Gott.“ (1 Kor 11, 11-12).

Der Mensch steckt nicht in seinem Körper wie in einer Zwangsjacke. Vielmehr ist der menschliche Leib der Möglichkeitsgrund der lebensgeschichtlichen Selbstverwirklichung einer geschaffenen Person, insbesondere in der höchsten Form von Freundschaft, die nur in der ehelichen Gemeinschaft von einem Mann mit seiner eigenen Frau erreichbar ist (vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III, cap. 123.

Schöpfung bedeutet im christlichen Sinn die Einsicht, dass alles, was ist, geworden ist durch den Logos, das Wort, durch das Gott sich ausspricht (Joh 1, 1-3) und in dem sich seine unendliche Vernunft im Sinngrund alles Seienden offenbart.

Denn Einer und Derselbe ist der Schöpfer und Erlöser. Der uns „nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, männlich und weiblich“ (Gen 1, 27), der hat uns auch von Ewigkeit her im „Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborenen unter seinen Brüdern sei.“ ( Röm 8, 29).

Die Naturwissenschaften beschränken sich in ihren möglichen Einsichten auf die Strukturen und Funktionen der materiellen Welt, können aber nicht die Erkenntnis in Abrede stellen oder eintrüben, dass die Welt in der Vernunft des Menschen zu sich selbst kommt und sich notwendig übersteigt in die Wahrnehmung der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes in seiner ewigen Macht und Gottheit (vgl. Röm 1, 20). Die Kenntnisse, die aus dem Fortschritt der empirischen und transzendentalen Anthropologien resultieren, können die Wahrheit des Geschaffen-Seins des Menschen nach Gottes Bild und Gleichnis und die Einheit seines Persons-Seins in Leib und Seele niemals in Frage stellen. Letztlich „klärt sich das Geheimnis des Menschen nur auf im Geheimnis des Fleisch gewordenen Wortes“ (Gaudium et spes 22).

So ergibt sich als 1. Hauptsatz der christlichen Anthropologie, die jeden nihilistischen Anflug und auch anmaßendes Selbstschöpfertum vertreibt wie die aufgehende Sonne die Schatten der Nacht: „Der Mensch ist die einzige um ihrer selbst willen von Gott gewollte Kreatur, der sich nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann“ (II. Vatikanum, Gaudium et spes 24). Diese opfernde Hingabe ist die Liebe zu Gott über alles und die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst. Die Ehe von Mann und Frau hat Teil am Geheimnis Christi, der mit der Kirche verbunden ist wie der Bräutigam mit seiner Braut: „Ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau,/Braut Christus zu zuführen.“ (2 Kor 11, 1). Und die sakramentale Ehe von Mann und Frau offenbart im täglichen Zusammenleben das Wesen der Liebe als opfernde Selbsthingabe. Darum sagt Paulus zu den Männern: „Liebt eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat… Darum sind die Männer verpflichtet ihre Frauen zu lieben wie ihren eigenen Leib. Keiner hat seinen eigenen Leib gehasst.“ (Eph 5, 25.28). Und die Ehefrauen antworten mit hingebender Liebe und Verehrung. Allen Christen und spezifisch denen in Ehe und Familie gelten die Worte des Apostels: „Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und führt euer Leben in Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns dahingegeben hat als Gabe und Opfer.“ ( Eph 5, 1-2).

Jesus Christus ist das Wort, das Fleisch geworden ist, der Logos Gottes, seines Vaters. Er offenbart uns die Idee Gottes von uns, die sich in unserer leiblichen und sozialen Natur darstellt, wenn er die Sophisten aller Zeiten fragt: „Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie im Anfang männlich und weiblich erschaffen hat“, um darin das Geheimnis der Ehe zu offenbaren: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die Zwei werden ein Fleisch sein.“ (Mt 19, 4)

Niemand kann die Lehre Christi reformieren oder modernisieren, „denn er selbst hat (bei seiner Menschwerdung) alle Neuheit/Modernität mit sich gebracht, um den Menschen zu erneuern und zu beleben.“ So sagte es – der kürzlich von Papst Franziskus zum Kirchenlehrer erklärte – Irenäus von Lyon gegen die Gnostiker und Manichäer aller Zeiten (Gegen die Häresien IV 34, 1).

Der anthropologische Nihilismus wird gefährlich für die Kirche besteht wenn sogar katholische Theologen nicht mehr von der Tatsache der geschichtlich einmaligen und unüberholbaren Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ausgehen, sondern mit dem Posthumanismus einen faulen Kompromiss schließen, nur damit die Kirche als gesellschaftliche Organisation „überlebt“ in einer Neuen Weltordnung ohne Gott.

Dieser „Theologie ohne Gott“ (Stefano Fontana, Ateismo cattolico?, Verona 2022) gelten Schöpfung und Bund, Inkarnation und Kreuzesopfer Jesu und seine leibliche Auferstehung nur als existentielle Symbole von mythischer Qualität. Wenn aber das Christentum nur eine Sammlung von disparaten Ansichten über das unerkennbar Göttliche wäre, das sich über unserer theoretischen Weltdeutung und praktischen Kontingenzbewältigung diffus ausbreitet, dann lohnte es sich wahrhaftig nicht für die Wahrheit Christi zu kämpfen, zu leiden und zu sterben. „Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns (wie die Heiden) essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“ (1 Kor 15, 32).

Der Nihilismus, d.h. „das Gefühl der neuen Zeit“, dass „Gott selbst tot ist“ (G. Hegel, Glauben und Wissen, Ph B 62b, 123). wird nur dann nicht zum Gefühl führen, dass es folglich auch nichts mit Menschen auf sich habe und alles erlaubt sei, was gefällt, wenn wir glauben an die menschenfreundliche Vernunft Gottes über und in allem Sein seiner Schöpfung. „Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt.“ (Weish 1, 13f).

Das Christentum fördert eine Zivilisation des Lebens und fordert die Kultur des Todes heraus, die im kollektiven Suizid der Menschheit enden müsste.

Atheismus ist Nihilismus. Seine Frucht ist der Tod. „Denn der Lohn der Sünde ist der Tod. Die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus unserem Herrn.“ (Röm 6, 23).

Unser Glaube an den Gott und Vater Jesu Christi überwindet die Kultur des Todes und öffnet uns für eine Kultur des Lebens in der Liebe des dreifaltigen Gottes. Denn wir sind aus der „Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8, 21).

Archivfoto Kardinal Müller (c) Lothar C. Rilinger


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