Müller: „Einem offensichtlich häretischen Bischof muss man nicht gehorchen aus formeller Treue“

22. Oktober 2022 in Interview


Kardinal Gerhard Müller: „Es gibt immer noch genügend hohe [geistliche] Würdenträger, die ihre Knie nicht beugen vor dem Baal der öffentlichen Meinung oder der politischen Macht.“ Interview von Maike Hickson


Vatikan (kath.net) Kardinal Gerhard Müller hat im Oktober Mexiko und die USA besucht und dabei viele Reden gehalten und Interviews gegeben. Mehrere seiner Stellungnahmen haben große und dankbare Aufnahme unter Katholiken in der englischsprachigen Welt gefunden, so zum Beispiel seine warnenden Worte zur laufenden Synode – etwa zu einer Synodalität, die die katholische Morallehre in Frage stellt. Auch hat er katholische Herzen erwärmt, als er eine Familie besuchte, die vom FBI am frühen Morgen praktisch „überfallen“ worden war, ohne, dass es einen echten und ernsthaften Grund für diesen Überfall gab. Die sieben Kinder dieser Familie sind immer noch geschädigt. Kardinal Müller hat dies ganz klar als Einschüchterungstaktik der Biden-Administration eingeordnet.

Da mich Kollegen in Deutschland kontaktiert haben und darum baten, dass die guten Stellungnahmen des emeritierten Präfekten der Glaubenskongregation auch im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht werden sollten, habe ich mich an Kardinal Müller gewandt und um ein Interview gebeten, in dem wir die Hauptaussagen seiner Reise behandeln können. Kardinal Müller hat mir sofort geantwortet und in weniger als 24 Stunden seine Antworten geschickt. Wir danken Seiner Eminenz für seinen Mut und seine Hilfsbereitschaft. – Maike Hickson/LifeSiteNews

Maike Hickson: Lieber Herr Kardinal Müller, Sie sind soeben von einer dreiwöchigen Reise nach Amerika zurückgekehrt. Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen zu dieser Reise stellen. Zunächst sind Sie zum Familienkongress in Mexiko gewesen. Sie haben dort einen Vortrag gehalten und sich des Themas des Transhumanismus angenommen. Können Sie für unsere Leser Ihre Kritik an dieser Bewegung zusammenfassen?

Kard. Müller: Der Transhumanismus ist ein in die 1950er Jahre zurückgehendes Programm der Verbesserung der menschlichen Daseinssituation mit Hilfe der modernen Technologie (Julian Huxley). Heute sind es die großen HighTech-Betreiber (Elon Musk), die unabhängig von der biologischen Basis unserer geist-leiblichen Existenz unser Bewusstsein (das sie auf die Intelligenz reduzieren, also auf eine reine Rechenleistung ohne ein personales Gedächtnis/memoria, intellektuales Seinsverständnis und ohne freien Willen) auf ein technisches Gerät digital hochladen wollen, so dass wir (als technisch-digitales Konstrukt mit Hilfe künstlicher Intelligenz) „unsterblich“ sind oder als eine Art Bio-techno-Hybrid mit unbegrenzter Laufzeit weiterexistieren.

Der Transhumanismus geht über in einen Posthumanismus. Die biologische Spezies Mensch sei dann eine überwundene evolutive Vorstufe zu einer rein technologischen Welt der Künstlichen Intelligenz der sich reproduzierenden Avatare im Cyberspace. Es wird ein Welt sein ohne Gefühle, ohne Ethik, ohne eine Vollendung des Menschen in der Liebe Gottes, ohne eine Unsterblichkeit der Person und eine Auferstehung des Leibes, ohne eine Antwort, was das Ganze für einen Sinn hat außer der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ (Friedrich Nietzsche). Das Ergebnis eines solchen Fortschrittes in der Verbesserung des Menschen oder der Umgestaltung nach Belieben ist es, dass der Mensch sich abgeschafft hätte.

Der Post- oder Transhumanismus ist nur die technologische Variante des Atheismus, d.h. des Seins als ein Schein ohne Sinn.

Hickson: Nicht lange nach Ihrer Ankunft in den USA haben Sie dem U.S.-Sender EWTN ein Interview gegeben. Darin haben Sie ein paar sehr wichtige Aussagen gemacht, zum Beispiel zur aktuellen Synode zur Synodalität. Auf die Frage nach der Bemerkung des Synoden-Generalsekretär Kardinal Mario Grech, dass in Bezug auf die Frage der Ehe (von Homosexuellen, Wiederverheirateten usw.) man nicht nur die Doktrin, sondern auch Gottes „kontinuierliche Begegnung mit Menschen“ miteinbeziehen müsse, haben Sie kommentiert, dass dies eindeutig gegen „Gottes Offenbarung“ sei. Sie sagten, dass Gottes Offenbarung zur Natur und Unauflöslichkeit der Ehe klar und abgeschlossen sei. Und Sie fügten die Frage hinzu, wie es sein könne, „dass Kardinal Grech intelligenter als Jesus Christus ist“ und fragten, woher er seine „Autorität nehme, Gott zu relativieren, zu unterminieren. Wie gefährlich schätzen Sie ein solches Gerede ein, das irreguläre Eheverbindungen, die von der Kirche immer verboten wären, plötzlich schöngeredet werden?

Kard. Müller: Der Sinn der Synoden und Konzilen war es nie, eine neue Kirche nach dem Wunschkatalog der Menschen zusammenzubasteln. Ihre wirkliche aber begrenzte Aufgabe ist es, die ein für allemal in Christus ergangene Offenbarung Gottes als Heil und Wahrheit für die Menschen in ihrer Fülle darzulegen und vor häretischen Verfälschungen zu schützen. Wenn der Sohn Gottes, Jesus Christus, das Wort, das Fleisch geworden ist und alle Gnade und Wahrheit zu uns gebracht hat gegenüber dem Pragmatismus der Pharisäer erklärt, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat und dass darum die Ehe in Gott geschlossen und wesenhaft unauflöslich ist, wie kann dann ein Bischof es besser wissen als der göttliche Lehrer? Wenn Gott die Frauen und Männer, die den „natürlichen Verkehr durch den widernatürlichen Verkehr vertauschten“, „sie entehrenden Leidenschaften auslieferte“ als Beweis der Verfallenheit der Menschen (in der Sünde Adams) an die Götzen dieser Welt, wie kann dann ein Nachfolger der Apostel in homosexuellen Praktiken ein bestätigende Gotteserfahrung vermuten? Der Regenbogen ist im Alten Testament ein Zeichen am Himmel, dass Gott des ewigen Bundes zwischen ihm und allen Lebewesen auf der Erde gedenkt (Gen 9, 12-16) und besonders mit den Menschen, die er nach seinem Bild geschaffen hat und die als Mann und Frau fruchtbar sind und in der Folge der Generation die Erde als ihr Zuhause bewohnen (Gen 9, 6). Mit der „Regenbogenfahne“ demonstrieren die LGBT-Ideologen ihren Widerspruch zu Gottes gütigem und weisem Schöpferwillen und zelebrieren ihre Gottlosigkeit mit einem Totentanz auf dem Vulkan.

Die „Lehre der Apostel“ (Apg 2, 42) und damit das Glaubensbekenntnis der Kirche ist nicht eine graue Theorie über Gott und die Welt, die man mit subjektive Erfahrungen mit Gott aufhellen und sich bunt ausmalen müsste. Es ist ein derselbe Gott, der sich uns in Christus voll und ganz mitgeteilt hat und der im Wort der Verkündigung zu uns spricht; und es ist der eine und selbe Gott, der in den Sakramenten uns seine Gnade schenkt und der auch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen hat, in dem wir durch Christus zu Gott Vater sagen.

Es ist völlig unkatholisch, die objektive Offenbarung Gottes gegen sogenannte persönliche Gotteserfahrungen auszuspielen. Entweder leugnet man die Einmaligkeit der Offenbarung Gottes in Christus oder man ist Opfer der subjektiven Spiegelungen des religiösen Empfindens, die man willkürlich für Wirkungen Gottes erklärt.

Hickson: Sie haben sich auch zu den Themen der Synodendebatten geäußert, die sich auf positive Weise mit der LGBT-Agenda beschäftigen. Hier sprachen Sie von einer „Besetzung der Katholischen Kirche“, die eine „feindliche Übernahme der Kirche Jesu Christi“ darstelle. Könnten Sie uns hier Ihre Gedanken genauer darlegen?

Kard. Müller: Die LGBT-Agenda oder die Gender-Ideologie stehen im diametralen Gegensatz zur christlichen Anthropologie. Die Sexualität des Menschen ist eine geschaffene Wirklichkeit und darf nicht vergötzt werden, sondern steht im Dienst des Schöpfungsplans (Ehe als naturgegebene Wirklichkeit) und übernatürlichen Heilswillen Gottes (die sakramentale Ehe als Zeichen und Werkzeug des Heils in Christus).

Wer die äußeren Institutionen der Kirche nützt, um in ihr einen Götzen aufzurichten, das Kreuz als Zeichen des Heils durch die Regenbogenfahne der heidnischen Homoreligion ersetzt, erinnert an „den gesetzwidrigen Menschen, der sich in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt“. (2 Thess 2, 4) Seine Jünger „haben sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen, durch die sie gerettet werden sollen.“ (2 Thess 2, 10). Den Menschen mit vorübergehenden oder längerfristigen Orientierungsschwierigkeiten in ihrer Leiblichkeit und Sexualität helfen sie nicht mit der „Wahrheit in Liebe“. Sie benutzen und verderben sie nur als Instrumente ihrer antichristlichen Propaganda.

Ein katholischer Geistlicher darf nie vergessen, dass er nicht seine (für das Heil irrelevanten) privaten Meinungen und inneren Anwandlungen den Menschen darzubieten hat, sondern die allein heilswirksame Lehre Christi, die der erhöhte Herr seinen Aposteln der ganzen Menschheit zu verkünden aufgetragen hat.

Hickson:Sie warnten in dem Interview auch, dass, sollte diese Bewegung erfolgreich sei, es das „Ende der katholischen Kirche darstelle. Warum wäre es das Ende?

Kard. Müller: Gewiss hat Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, seiner Kirche die Unzerstörbarkeit verheißen (Mt 16, 18). Er hat uns aber nicht die Garantie gegeben, dass Päpste, Bischöfe und Laien ihr niemals großen Schaden zufügen können.

Am Verschwinden des blühenden katholischen Christentums in Nordafrika tragen die in Häresien und Schismen zerstrittenen Bischöfe große Mitschuld. Dass die Kirche in Deutschland und ganz Nordeuropa an den Protestantismus verloren ging, geht wesentlich auf die Nachlässigkeit der Bischöfe zurück und auf die in die weltliche Machtpolitik verstrickte römische Kurie und auf die theologisch unterbelichteten Renaissance-Päpste.

Weltweit haben wir heute das Phänomen, dass zu viele Bischöfe zu den Irrlehren und zum sittlichen und sozialen Unrecht schweigen, sei es aus Angst vor öffentlichen Anfeindungen, sei es aus Sorge um ihre Karriere, die sie gefährdet sehen, wenn sie in Rom als Unruhestifter oder Rigoristen denunziert werden..

Hickson: Anschließend sagten Sie, „wir müssen Widerstand leisten, wie damals gegen die alten Häretiker des Arianismus“. Wie soll dieser Widerstand konkret aussehen?

Kard. Müller: Vor allem müssen wir die Angst überwinden, weil Christus uns Mut macht auch vor „Königen und Statthaltern“ (Lk 21, 12) für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. „Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt. Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden schon vor euch die Propheten verfolgt“ (Mt 5, 11).

Ich wüsste also nicht, wo Jesu seinen Jüngern ein ruhiges bürgerliches Leben mit dem Genuss der weltlichen Ehren und fetten Pfründen verheißen hat. „Der Bischof muss sich an das zuverlässige Wort der Lehre halten, damit er in der Lage ist, in der gesunden Lehre zu unterweisen und die Widersprechenden zu überführen“ (Tit 1, 9).

Im digitalen Zeitalter müssten auch die katholischen Stimmen und Initiativen besser vernetzt sein und vor allem gilt es, das Wesentliche vom Nützlichen zu unterscheiden und nicht im Streit um Nebensächliches die begrenzten Energien zu verbrauchen.

Hickson: Wie hat damals, im 4. Jahrhundert, der Widerstand gegen die Häresie ausgesehen, wie haben Kleriker und wie haben Laien gehandelt?

Kard. Müller: Das ist natürlich eine Frage, über die man eine große Abhandlung mit all den historischen Verwicklungen schreiben könnte. Jeder kennt den hl. Athanasius, der fünfmal verbannt war. John Henry Newman, ein hervorragender Kenner der Kirchenväter schrieb im Hinblick auf die Standhaftigkeit der Laien gegenüber den Arianern im Unterschied zu vielen Bischöfen, die vor den kaiserlichen Pressionen und Pensionen einknickten, den tröstlichen Text: „Über das Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre.“

Hickson: Wird es dazu kommen, dass glaubenstreue Katholiken nicht mehr in jede Messe und zu jedem Bischof gehen können, sondern diejenigen Kleriker suchen müssen, die sie noch den wahren Glauben lehren und nicht in den Kompromiss mit der Welt führen?

Kard. Müller: Einem offensichtlich häretischen Bischof muss man nicht gehorchen nur aus Gründen formeller Treue, sonst wäre der religiöse Gehorsam ein Kadavergehorsam, der nicht nur der Vernunft, sondern auch dem Glauben widerspricht. Das Widerspruchsrecht bezieht sich freilich streng auf die geoffenbarten Wahrheiten. Meinungsverschiedenheiten in weltlichen oder persönlichen Fragen rechtfertigen nicht die Aufkündigung der sichtbaren Gemeinschaft mit dem zuständigen Bischof.

Wenn Rom versagt in der Zurechtweisung von Bischöfen wegen glaubenswidriger Lehren und kirchenschädigenden Verhaltens, dann gibt es immer noch genügend andere hohe Würdenträger, die ihre Knie nicht beugen vor dem Baal der öffentlichen Meinung (der Medienkartelle) oder der politischen Macht (der heidnischen römischen Kaiser, der atheistische Diktatoren von gestern und heute).
 
Hickson: Wenn Sie ein Gespräch mit Papst Franziskus haben könnten, was würden Sie ihm sagen in Bezug auf seine Vorgehensweise, dass er jemanden wie Kardinal Grech zum Generalsekretär der gegenwärtigen Synode ernennt, zusammen mit dem Hauptberichterstatter Kardinal Hollerich, die ja beide die katholische Morallehre in Frage stellen?

Kard. Müller: Seine Personalpolitik ist nicht durch das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes gedeckt. Jeder kann sich darüber seine Gedanken machen und die Fragen stellen, ob Kardinäle nicht überhaupt und an so entscheidenden Stellen mit höchster Qualifikation in der Lage sein müssen, die Ideologien im Licht des Evangeliums zu durchschauen und die Lehre der Kirche mit christlichem Freimut und theologischer Kompetenz darzustellen und zu verteidigen.

Natürlich kann in Einzelfragen die Argumentation in einem Katechismus, der eben der Glaubensunterweisung dient, verdeutlicht werden. Aber das hat doch nichts damit zu tun, dass die geoffenbarten Wahrheiten der beliebigen Revision unterliegen, wie das Programm einer politischen Partei, die sich nach den Erwartungen ihrer Wähler richtet.

Das Glaubensbekenntnis (Credo), das Vaterunser, die Sieben Sakramente und die Zehn Gebote stehen im Katechismus, weil sie wahr sind und nicht umgekehrt.

Man kann es drehen wie man will, es bleibt doch eine unumstößliche Wahrheit des natürlichen Sittengesetztes und der geoffenbarten Anthropologie des christlichen Menschenbildes): Homosexuelle oder (außerhalb des Ehesakramentes) heterosexuelle Handlungen sind in sich schlecht (intrinsece malum) und objektiv eine schwere Sünde, weil sie dem Willen Gottes des Schöpfers und Erlösers widersprechen und damit dem Menschen zum Unheil gereichen, selbst wenn er sich subjektiv bei der Sünde gut fühlt und kraft seines erotischen Verlangens ein Recht dazu reklamiert oder deswegen Gott zürnt und die Kirche hasst.

Hickson: Trägt hier der Papst nicht eine große Verantwortung in Bezug auf die Verteidigung der katholischen Lehre, zur Rettung der Seelen?

Kard. Müller: Ja, der Papst hat dafür in der Kirche die höchste Verantwortung. Vor dem Richterstuhl Gottes hilft keinem von uns der Verweis auf die herrschende Meinung, den Psychoterror der Mediengewaltigen, dem heute jeder rechtschaffene Mensch und klar denkende Zeitgenosse ausgesetzt ist, sondern allein ob wir die Wahrheit Gottes bekannt, das Gut getan und das Böse unterlassen haben. Das ist die Stunde, in sich jede Strategie der Selbstrechtfertigung geschlagen geben muss.

Hickson: Sie wurden in Philadelphia mit einem Kardinal Gerhard Müller-Symposium geehrt, dass sich dem Thema widmete: „Was es bedeutet, katholisch zu sein. Die Bedeutung der Inkarnation.“ Möchten Sie uns die Hauptthese dieses Symposiums zusammenfassen, besonders im Lichte der gegenwärtigen Kirchenkrise, wie wir Sie soeben besprochen haben?

Kard. Müller: Das ist ganz einfach: Glauben wir an die Inkarnation als eine Tatsache, als die Wahrheit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, die sich aus dem Handeln Gottes zu unserem Heil ergibt? Oder ist die Inkarnation nur eine Metapher, mit der wir irgendwelche Erfahrungen mit dem bloßen Menschen Jesus spirituell verarbeiten und mit moralischen Konsequenzen versehen?

Ist aber die Inkarnation eine von Gott bewirkte Tatsache der realen Geschichte, dann ist die Kirche auch nicht eine NGO, sondern in Christus das Sakrament des Heils der Welt. Dann sind die Sakramente nicht Symbole eines Gemeinschaftserlebnisses oder narzisstischer Selbsterfahrungen; dann ist die Eucharistie nicht eine Gedenkveranstaltung für einen Helden der Vergangenheit, sondern die Vergegenwärtigung des einmaligen Kreuzesopfers Christi und die reale Selbstgabe seines wirklichen Leibes in seinem verklärten Fleisch und Blut an uns als Speise und Trank zum ewigen Leben; dann heißen wir nicht nur Kinder Gottes, dann sind wir es durch die Taufe auch; dann sind Bischof Priester und Diakon (je nach den Vollmachten ihres Weihegrades) nicht Funktionäre eines religiösen Vereins, sondern Repräsentanten Christi in der Anteilhabe an seiner Weihe und Sendung vom Vater (vgl. Lumen gentium 28f); dann geht es in der Kirche nicht um die Techniken für ein gutes Leben von kurzer Dauer, sondern um die reale Vermittlung des ewigen Lebens als Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht.

Hickson: Während Ihres Aufenthaltes haben Sie vielen Katholiken vom Herzen gesprochen, als Sie die Familie Mark Houck in Philadelphia besuchten, die vor kurzem von einem FBI-Team mit 30 Polizisten praktisch überfallen wurde, früh am Morgen, mit sieben kleinen Kindern im Haus. Sie verglichen diese Vorgehensweise mit Methoden des kommunistischen Chinas. Können Sie unseren deutschen Lesern sagen, worum es hier ging und warum Sie diese Familie besucht haben?

Kard. Müller: Es ist unglaublich aber bitter wahr, dass an die 30 schwerstbewaffnete FBI-Agenten in das Haus einer friedlichen Familie mit brachialer Gewalt eingedrungen sind, den Eltern mit ihren sieben Kindern von 2-13 Jahren mit entsicherten Waffen, die Finger am Abzug, entgegentraten, den Vater vor seinen Kindern mit dem Gesicht auf den Boden schleuderten, ihn – an Händen und Füssen angekettet – abführten und schließlich auf der Polizeistation vier Stunden lang an einen Tisch angefesselt hielten.

Das war eindeutig von der Biden-Regierung angeordnet um die Prolife-Aktivisten einzuschüchtern und sie als Schwerstverbrecher vorzuführen, weil diese das pervers angemaßte Menschenrecht der Frauen auf die Tötung ihrer Leibesfrucht (Abtreibung) in Frage stellen. Abtreibung, das müsste Biden als Katholik wissen, ist „ein verabscheuungswürdiges Verbrechen“ (Gaudium et spes 51), das es nicht ohne die Tötung eines lebendigen Menschen gibt, also ein Hass-Verbrechen (hatecrime) gegen Gott, den Urheber jedes Menschen-Lebens.

Wenn Gewalt gegen Katholiken geübt wird oder katholische Kirchen niedergebrannt werden, dann schaut die Polizei – sicher nicht ohne Duldung (oder Weisung?) von oben – weg. Wenn aber Polizei und Justiz nicht mehr weltanschaulich neutral wirkliche Straftaten verfolgen, sondern nur die von ihnen aus gesehene falsche Gesinnung kriminalisieren und die Staatsgewalt für ihre Ideologie instrumentalisieren, dann ist der rechtstaatlichen Demokratie der Boden entzogen. Dann ist die Grenze zur Pöbelherrschaft (siehe schon das Todesurteil gegen Sokrates) oder zur Gewaltherrschaft (wie in den ideologischen Diktaturen von heute) endgültig überschritten. Dann können die USA nicht mehr die Führungsrolle in der freien Welt für sich reklamieren.

Hickson: Was ist Ihr allgemeiner Eindruck von U.S.-amerikanischen Katholiken und deren Geist und Glaube? Möchten Sie uns berichten, was Sie am meisten beeindruckt hat?

Kard. Müller:

In Amerika gibt es doch die große Gruppe der selbstbewussten Katholiken, die sich von den antichristlichen Ideologen nicht einschüchtern lassen und auch nicht so staatsgläubig und obrigkeitshörig sind wie in unseren europäischen Ländern, wo vor allem den Deutschen der Untertanengeist noch tief in den Knochen steckt und wo das Bewusstsein, ein freier Bürger zu sein in der Corona-Zeit und in der jetzigen Energiekrise und Kriegsangst einen herben Rückschlag erlitten hat. Viele schauen wie gebannt auf den Aufstieg der KP-chinesischen Superpower. So manche Staats-Männer-Frauen und Staatsjournalisten liebäugeln nicht nur mit der absoluten Kontrolle der Parteifunktionäre über das Sprechen, Denken und Handeln der ihrer Würde und Freiheit beraubten Einwohner, sondern auch mit der Errichtung eines Orwell’schen Staates als Mittel zur absoluten Macht und Kontrolle.

Wir sind aber zur Freiheit befreit in Christus und keiner menschlichen Herrschaft über unsere Gewissen und unseren Glauben an den Gott der Freiheit und des Lebens unterworfen: „Gebt acht, dass euch niemand mit seiner Philosophie [hier: Ideologie] und leerem Trug einfängt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt berufen, nicht auf Christus. Denn in ihm wohnt leibhaftig die ganze Fülle der Gottheit“ ( Kol 2, 8ff).

Weiterführende Links (englischsprachig):

Zum Symposium: Program for the Cardinal Gerhard Mueller Symposium
Zum Mark Houck-Fall: FBI raid on pro-life dad Mark Houck: Part of the Biden admin’s terror campaign against conservative Christians

Besuch von Kardinal Müller bei den Houcks: Cdl. Müller visits Mark Houck’s family, condemns FBI raid as ‘brutal act against humanity’
EWTN-Interview mit Kardinal Müller: Cardinal Müller on Synod on Synodality: ‘A Hostile Takeover of the Church of Jesus Christ … We Must Resist’
Familienkongress in Mexiko, wo Mueller auch eine Rede gehalten hat: WCF: Cardinal Müller, Princess Gloria and Brian Brown, Jim Daly and Wilford W Andersen

Archivfoto: Kardinal Müller im Presseraum des Vatikans (c) Michael Hesemann


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