Weg, Wachstum, Jüngerschaft: Ethik ist die Lust am Guten

10. November 2022 in Spirituelles


"Jesus sagt: 'Kirche, verkaufe … und dann komm und folge mir nach …!' 'Als die Kirche das hörte, ging sie traurig weg, denn sie hatte ein großes Vermögen.' Ich weigere mich, das zu glauben." Gastkommentar von Bernhard Meuser


Augsburg (kath.net/Neuer Anfang) „Weg, Wachstum, Jüngerschaft – Wie Erneuerung von Kirche und Ethik zusammenhängen“ - Dieser Vortrag wurde am 30. Oktober 2022 im Rahmen des 5. Online-Studientags der Initiative „Neuer Anfang“ unter dem Titel „Der Glanz des Guten – Warum die christliche Moral ihre Zukunft noch vor sich hat“ von Bernhard Meuser gehalten. Der Vortrag kann auch als Video auf dem Youtube-Kanal von Neuer Anfang angesehen werden.

Ethik, könnte man sagen, ist Lust am Guten. Deshalb kommt ein Glanz über Menschen und menschliche Gemeinschaften, die sich dem Guten hingeben. Es ist eine Ausstrahlung, die von Gott herkommt: Das Gute kommt von dem Guten. Das wissen wir spätestens seit wir dem jungen Mann in Mt 19, der bei Jesus schnell auf die ethische Grundfrage kam: „Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?

Die Frage ist gut, denn sie enthält drei fundamentale Annahmen:

Wir finden da das Wörtchen „Ich“. Scheinbar ist das Gute kein leerer Begriff und keine irgendwo im Umgreifenden wabernde Größe, sondern etwas, das mich unmittelbar und unbedingt angeht.
    Wir finden dann die Worte „..“ und „gewinnen“. Das Gute bleibt abstrakt, wenn wir es nicht durch ein Tun sichtbar machen, ja „gewinnen“. Es geht also ins Sportive; es geht um einen Kampf, ein leidenschaftliches Anstreben.

Und dann wir finden auch noch das „ewige Leben“ in der Frage des neugierigen jungen Mannes. Was hat denn Gutsein mit Leben in Fülle, Leben für immer zu tun?

In seiner Neugier wendet der junge Mann sich an einen, in dem er überlegenes ethisches Wissen oder tiefe Weisheit vermutet, … in dem er vielleicht so eine Art „Guru“ sieht, denn er nennt Jesus „Meister“. Der Guru kommt ihm aber nicht mit ein paar schnellen Lebensregeln oder mit einem Mantra. Jesus bringt sofort Strom auf die existenzielle Leitung:

„Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist der Gute.“

Jesus stellt die fundamentale ethische Relation her. Hör auf, dich durch die Normenkataloge, Anthropotechniken und Lebenshilfe-Ratgeber zu wühlen. Rede nicht über Elektrizität! Geh auf Strom! Schließe deine Suche nach dem Guten an den Guten.
Nachhilfe von Gott

Und wie macht man das? Auch Jesus ist Jude. Er gibt zunächst die klassisch jüdische Antwort:

„Wenn du aber in das Leben eintreten willst, halte die Gebote!“  

Was gut ist, hat Gott nicht nur der Natur der Dinge oder den Werken seiner Schöpfung eingeschrieben – eine Handschrift, die wir mit Hilfe der Vernunft entziffern können. Nein Gott hat seinem störrischen, begriffsstutzigen Volk, das durch die Wüsten irrlichtert, Nachhilfeunterricht erteilt, – ihm das Gesetz und die Gebote geschenkt.

Es folgt ein kurzes Intermezzo, in dem der junge Mann noch mal abfragt, was er eigentlich von Kindertagen her intus haben müsste. Natürlich geht es um die Basics – die Zehn Gebote, das Liebesgebot – die ihm Jesus noch einmal einbläut:  

„Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“

Man kann sich vorstellen, wie der junge Mann die Augen verdreht: Mann, was kommst Du mir mit diesen Standards!? Hast Du nicht ein bisschen mehr Philosophie drauf? „Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir noch?“ Bei dieser Frage „Was fehlt mir noch?“ spürt das unersättliche Herz, von dem Augustinus gesprochen hat, auch Pascal, – dieses Herz, das irgendwie zum Jungsein gehört, bevor wir die Sehnsucht im Älterwerden verkapseln.

Da ist auch dieser Song der dänischen Chanson-Sängerin Gitte Haenning:

„Ich will nicht viel. Ich will mehr
Ich will alles, ich will alles
Sperr‘ mich nicht ein. Ich will nie mehr
zu früh zufrieden sein“

Und nun provoziert Jesus auf ein fast brutale Weise. Er baut vor dem jungen Mann nicht etwa Hürde vor dem vollen Leben auf.  Nein, er zieht geradezu ein Bergmassiv hoch:

Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen …

 Gut, – Jesus bietet eine Art immaterieller Gegenleistung an:

„…und du wirst einen Schatz im Himmel haben.“

Schwacher Trost für einen eigentlich doch leistungsbereiten jungen Mann! Nun könnte man das ja für eine individuelle Sonderbehandlung Jesu halten – genau zugeschnitten auf einen upper-class-Jüngling, der versessen ist auf all den Schnickschnack, mit dem er sich umgibt. So, als hätte Jesus nur vor ihm dieses Bergmassiv hochgezogen, bevor er sagt:

„Komm, folge mir nach!“

Und das genau glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass es um eine Passstraße geht, über die jeder auf die einen oder andere Weise hinweg muss, wenn er ins Gelobte Land, ins volle Leben kommen will. Jeder, der das ganz Gute will und über Jesus zu dem ganz Guten hinkommen will.

In der Nachfolge Christi wird von uns allen etwas Spezifisches verlangt: Der Ausstieg aus dem Universalismus des Habenwollens und der Einstieg in den Universalismus der Hingabe

Vor Gott sind wir nackt. Wir haben nichts, womit wir uns schmücken könnten. Keine Sicherheiten, an denen wir uns festhalten können. Unser einziger Reichtum wird unser Nichtreichtum sein – das was wir zu verschenken wussten, die Liebe, die wir investiert haben, die Radikalität, mit der wir uns hingegeben haben. Bei der Aussendung der Jünger in Lk 10 fordert Jesus:

„Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe!“ (LK 10,4)

Alles hergeben, sich an nichts festhalten wollen, ganz aus der Sendung, ganz aus der Vorsehung Gottes leben … das war immer das Kennzeichen der Jünger – einer Gruppe, mit der wir uns befassen müssen.
Jüngerschaft als Zukunft

Im 12. Jahrhundert wurde die Kirche gerettet – nicht von Bischöfen, nicht von Priestern, nicht von Theologen – sie wurde gerettet von einem Verrückten, der seine Freunde – das ist nur ein anderes Wort für Jünger –  barfuß und ohne Sprachkenntnisse über die Alpen schickte, damit die Deutschen Jesus kennenlernen sollten. Ich spreche von Franziskus von Assisi.

Seit einigen Jahren gibt es auch in der Katholischen Kirche die Wiederentdeckung der biblischen Kategorie „Jünger“. Plötzlich gibt es auch bei uns Jüngerschaftsschulen. Papst Franziskus spricht vom „missionarischen Jünger“ und ein Theologe wie Gerhard Lohfink spricht von Jüngern als dem eigentlichen Motor der neutestamentlichen Kirche.

Wir sehen: Jünger waren Leute, die Jesus gewissermaßen in seinen Freundeskreis berief, die er ins Vertrauen zog, sie in seine Sendung einbaute und mit Gaben und Vollmachten segnete. Wenn wir heute – vielleicht zunächst noch in einem charismatischen Kontext – von Jüngern sprechen, dann meinen wir Menschen, die in einer persönlichen Beziehung mit Jesus stehen. Die sich für Jesus entschieden haben und die Hingabe leben. Die ihre eigenen Ziele ununterscheidbar von den Zielen Christi machen. Die sich in den Leib Christi – die Kirche – hinein enteignen ließen und die in kleinen Zellen ihren Glauben verbindlich und leuchtend leben.

Erneuerung, aber wie?

Was hat das alles aber mit Ethik und Erneuerung der Kirche zu tun? Lassen Sie es mich so sagen: Wenn in Großkirchen Westeuropas die Lichter ausgehen, weil sie zu selbsterhaltenden Behörden mutiert sind, in denen nur noch museale Kunstgegenstände und Dienstwagen glänzen, dann sind Jünger und Jüngergemeinschaften und alle kleinen Zellen, die in der konkreten Nachfolge Christi leben, so etwas wie der Glanz des Guten; sie sind der frische Wein in alten Schläuchen, die prophetische Erinnerung an die lebendige Gegenwart des Herrn.

Der größte Theologe der frühen Kirche, Origenes, setzte sich in seiner Schrift „Contra Celsum“ mit einem griechischen Philosophen auseinander. Der sah im „neuen Weg“ der Christen eine barbarische, unvernünftige Sekte. Origenes verteidigte die Christen – „ungebildete Leute, wenn man an sie den Maßstab der griechischen Philosophie anlegt“ – mit einem besonderen Argument. Er sprach von der ethischen Kraftlosigkeit der Philosophen, die von Gott reden, aber keine lebensverändernden Effekte hervorbringen; und er hielt dem Celsus die Erfolgsgeschichte dieser Toren vor Augen, „die sich von der großen Flut des Lasters, in der sie früher sich wälzten, freigemacht haben“, die ohne Lohn und ihr Leben riskierend bei „vielen Völkern de Erdkreises umherzogen“ und deren Hörer „je nachdem wie sehr sie sich mit ihrer Freiheit dem Guten zuwandten, besser“ wurden.

Für Origenes war „das Leben der Jünger Jesu … ein Beweis für die Göttlichkeit Christi, denn es beweist, dass er lebt und wirkt, indem er die, die an ihn glauben umwandelt und ihnen alle Tugenden schenkt.“ (Sr. Christiana Reemts)

Wenn uns in den Papieren des Synodalen Weges eine Kirche entgegentritt, die eher die Lehre der Kirche und die Ansprüche des Evangeliums verändern möchte, als sich sich selbst zu verändern und zu bekehren.

Wenn uns da eine Kirche vor Augen tritt, die kaum Anstrengungen unternimmt, um sich von der „Flut des Lasters“ in dem sie sich wälzt, zu befreien, um damit irgendwie wenigstens in Sichtweite des Qualitätssiegels „Jünger“ zu kommen … dann kommt mir der reiche Jüngling in den Sinn, der einmal ganz, ganz nahe an Jesus dran war.

Kann es sein, dass die Geschichte so endet? Jesus sagt: „Kirche, verkaufe … und dann komm und folge mir nach …!“ „Als die Kirche das hörte, ging sie traurig weg, denn sie hatte ein großes Vermögen.“ Ich weigere mich, das zu glauben.

Bernhard Meuser. Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.

 


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