Lasst euch nicht irreführen und legt Zeugnis ab

13. November 2022 in Aktuelles


Franziskus: an diesem Welttag der Armen ist das Wort Jesu eine deutliche Mahnung, jene innere Taubheit zu durchbrechen, die uns daran hindert, den erstickten Schmerzensschrei der Schwächsten zu hören


Rom (kath.net) 6. Welttag der Armen 2022: Jesus Christus wurde euretwegen arm (vgl. 2 Kor 8,9): heilige Messe in der Petersbasilika mit Papst Franziskus.

Aus Anlass des Welttags der Armen hatte Papst Franziskus Bedürftige seiner Nähe versichert. „Der Papst ist bei euch“, schrieb er auf der Titelseite der vatikanischen Straßenzeitung „L’Osservatore di Strada“. In einem kurzen Brief wandte er sich an die Leser. Er umarme jeden, „der die Last der Ausgrenzung auf seinen Schultern und in seinem Herzen trägt“. Die Letzten seien die Ersten, so der Papst in der vom Vatikan seit Juni herausgegebenen Monatszeitung.

Den Welttag der Armen rief Franziskus 2016 ins Leben. Er wird alljährlich am zweiten Sonntag vor dem Advent begangen. Rund um den Tag organisiert der Vatikan besondere Hilfen für Bedürftige.

„Darüber hinaus müssen wir uns der Krise stellen, die durch den Klimawandel und die Pandemie ausgelöst worden ist und eine Schneise nicht nur physischer, sondern auch psychologischer, wirtschaftlicher und sozialer Übel hinterlassen hat. Auch heute sehen wir, wie sich Völker gegeneinander erheben, und wir erleben angsterfüllt, wie sich Konflikte massiv ausweiten, wie das Unheil des Krieges den Tod so vieler unschuldiger Menschen verursacht und das Gift des Hasses verbreitet.“

Die Predigt zum 6. Welttag der Armen im Wortlaut:

Während einige über die äußere Schönheit des Tempels sprechen und seine Steine bewundern, lenkt Jesus die Aufmerksamkeit auf die unruhigen und dramatischen Ereignisse, die die menschliche Geschichte prägen. Denn während der von Menschenhand erbaute Tempel vergehen wird, so wie alle Dinge dieser Welt vergehen, ist es wichtig, die Zeiten zu erkennen, in denen wir leben, um auch inmitten der Umwälzungen der Geschichte Jünger des Evangeliums zu bleiben.

Und um uns den Weg der Unterscheidung zu zeigen, gibt uns der Herr zwei Ermahnungen: Lasst euch nicht irreführen und legt Zeugnis ab.

Als Erstes sagt Jesus seinen Zuhörern, die sich Sorgen darüber machen, „wann“ und „wie“ die beängstigenden Ereignisse eintreten werden, von denen er spricht: »Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. - Lauft ihnen nicht nach!« (Lk 21,8). Und er fügt hinzu: »Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken!« (V. 9). Von welcher Irreführung will uns Jesus also befreien? Von der Versuchung, dramatische Ereignisse auf abergläubische oder pessimistische Weise zu deuten, als ob wir bereits dem Ende der Welt nahe wären und es sich nicht mehr lohnen würde, sich für irgendetwas Gutes einzusetzen. Wenn wir so denken, lassen wir uns von der Angst leiten und suchen dann vielleicht mit krankhafter Neugierde nach Antworten in dem, was Magier oder Horoskope auftischen, an denen es nie mangelt; oder aber wir vertrauen fantastischen Theorien, die von irgendeinem „Messias“ der letzten Stunde aufgestellt werden und in der Regel immer defätistisch und verschwörungstheoretisch sind. Hier ist der Geist des Herrn nicht zu finden. Jesus warnt uns: „Lasst euch nicht irreführen“, lasst euch nicht von leichtgläubiger Neugier blenden, begegnet den Ereignissen nicht mit Angst, sondern lernt vielmehr, sie mit den Augen des Glaubens sehen, in der Gewissheit, dass durch die Nähe zu Gott „euch nicht einmal ein Haar gekrümmt wird“ (vgl. V. 18).

Auch wenn die Geschichte der Menschheit mit dramatischen Ereignissen, schmerzhaften Situationen, Kriegen, Revolutionen und Katastrophen gespickt ist, so ist es doch ebenso wahr – sagt Jesus –, dass all dies nicht das Ende ist (vgl. V. 9); es ist kein guter Grund, sich von Angst lähmen zu lassen oder dem Defkonkrevvätismus derjenigen nachzugeben, die meinen, alles sei bereits verloren und es sei sinnlos, sich im Leben zu engagieren. Der Jünger des Herrn lässt sich nicht durch Resignation verdrießen, er lässt sich auch in den schwierigsten Situationen nicht entmutigen, denn sein Gott ist der Gott der Auferstehung und der Hoffnung, der immer wieder aufrichtet: Mit ihm kann man den Blick immer wieder nach oben richten, neu beginnen und erneut aufbrechen. Der Christ fragt sich also im Angesicht der Prüfung: „Was sagt uns der Herr durch diese Krisensituation?“. Und wenn schlimme Ereignisse eintreten, die Armut und Leid verursachen, fragt er sich: „Was kann ich konkret Gutes tun?“.

Es ist kein Zufall, dass die zweite Ermahnung Jesu, nach „Lasst euch nicht irreführen“, positiv formuliert ist. Er sagt: »Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können« (V. 13). Es ist eine Gelegenheit, Zeugnis abzulegen. Ich möchte dieses schöne Wort betonen: Gelegenheit. Es bedeutet, die Möglichkeit zu haben, aus den Umständen des Lebens etwas Gutes zu machen, auch wenn sie nicht ideal sind. Das ist eine schöne, typisch christliche Kunst: nicht Opfer dessen zu bleiben, was passiert, sondern die Chance zu ergreifen, die in allem verborgen ist, was uns widerfährt, das Gute, das selbst aus negativen Situationen heraus bewirkt werden kann. Jede Krise birgt eine Möglichkeit und bietet Gelegenheiten zum Wachstum. Das wird uns klar, wenn wir uns mit unserer persönlichen Geschichte beschäftigen: Oft machen wir die wichtigsten Fortschritte im Leben gerade in manchen Krisen, in Situationen der Prüfung, des Kontrollverlusts und der Unsicherheit. Und dann verstehen wir die Aufforderung, die Jesus heute direkt an mich, an dich, an jeden einzelnen von uns richtet: Was tust du, während du um dich herum bestürzende Ereignisse siehst, während Kriege und Konflikte aufkommen, während sich Erdbeben, Hungersnöte und Seuchen ereignen? Lenkst du dich ab, um nicht daran zu denken? Amüsierst du dich, um dich nicht zu sehr damit beschäftigen zu müssen? Schaust du weg, um nichts zu sehen? Passt du dich unterwürfig und resigniert dem an, was passiert? Oder werden diese Situationen zu Gelegenheiten, um das Evangelium zu bezeugen?

eBrüder und Schwestern, an diesem Welttag der Armen ist das Wort Jesu eine deutliche Mahnung, jene innere Taubheit zu durchbrechen, die uns daran hindert, den erstickten Schmerzensschrei der Schwächsten zu hören. Auch heute leben wir in verwundeten Gesellschaften und sind Zeugen von Gewalt, Ungerechtigkeit und Verfolgung, genau wie es uns das Evangelium berichtet hat. Darüber hinaus müssen wir uns der Krise stellen, die durch den Klimawandel und die Pandemie ausgelöst worden ist und eine Schneise nicht nur physischer, sondern auch psychologischer, wirtschaftlicher und sozialer Übel hinterlassen hat. Auch heute sehen wir, wie sich Völker gegeneinander erheben, und wir erleben angsterfüllt, wie sich Konflikte massiv ausweiten, wie das Unheil des Krieges den Tod so vieler unschuldiger Menschen verursacht und das Gift des Hasses verbreitet. Auch heute, noch viel mehr als gestern, wandern viele bedrängte und entmutigte Brüder und Schwestern auf der Suche nach Hoffnung aus, und viele Menschen leben in prekären Situationen, weil sie keine Arbeit haben oder weil sie unter ungerechten und unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen. Und auch heute sind die Armen die von jeder Krise am stärksten betroffenen Opfer. Aber wenn unser Herz dumpf und gleichgültig ist, gelingt es uns nicht, ihren schwachen Schmerzensschrei zu hören, mit ihnen und um sie zu weinen, zu sehen, wie viel Einsamkeit und Angst sich auch in den vergessenen Winkeln unserer Städte verstecken.

Machen wir uns die klare und deutliche Aufforderung des Evangeliums zu eigen, uns nicht irreführen zu lassen. Lasst uns nicht auf die Untergangspropheten hören; lassen wir uns nicht von den Sirenen des Populismus verführen, der die Bedürfnisse der Menschen instrumentalisiert und Lösungen vorschlägt, die zu einfach und oberflächlich sind. Lasst uns nicht den falschen „Messiassen“ nachlaufen, die im Namen des Profits Erfolgsrezepte verkünden, die nur dazu dienen, den Reichtum einiger weniger zu mehren während sie die Armen zur Marginalisierung verdammen. Im Gegenteil, lasst uns Zeugnis ablegen: Lasst uns inmitten der Dunkelheit Lichter der Hoffnung anzünden; nehmen wir in dramatischen Situationen die Gelegenheit wahr, das Evangelium der Freude zu bezeugen und eine geschwisterlichere Welt aufzubauen; lasst uns mutig für Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit und Frieden eintreten und den Schwächsten zur Seite stehen. Lasst uns nicht weglaufen, um heil aus der Geschichte herauszukommen, sondern lasst uns kämpfen, um dieser Geschichte ein anderes Gesicht zu geben.

Wo finden wir die Kraft für all das? Im Vertrauen auf Gott, der Vater ist und über uns wacht. Wenn wir ihm unser Herz öffnen, wird er in uns die Fähigkeit zur Liebe wachsen lassen. Nachdem Jesus nämlich von Situationen der Gewalt und des Terrors gesprochen hat, schließt er mit den Worten: »Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden« (V. 18). Das müssen wir uns immer wieder sagen, besonders in den schmerzlichsten Momenten: Gott ist Vater und er ist an meiner Seite, er kennt mich und liebt mich, er wacht über mich, er wird nicht müde, er kümmert sich um mich und mit ihm wird mir kein Haar gekrümmt werden.

Entscheiden wir uns, als von ihm Geliebte, diejenigen Söhne und Töchter zu lieben, die besonders ausgegrenzt sind, sorgen wir für die Armen, in denen Jesus gegenwärtig ist, der unseretwegen arm wurde (vgl. 2 Kor 8,9). Fühlen wir uns dafür verantwortlich, dass ihnen kein Haar gekrümmt wird. Wir können nicht wie jene, von denen das Evangelium spricht, dabei verweilen, die schönen Steine des Tempels zu bewundern, ohne den wahren Tempel Gottes zu erkennen, den Menschen, vor allem den Armen, in dessen Gesicht, in dessen Geschichte, in dessen Wunden Jesus zu finden ist. Das hat er so gesagt. Vergessen wir es nie.

 


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