„Grenzen der päpstlichen Macht“

18. November 2022 in Interview


„Das beste Mittel, wie wir dem Papst und den Bischöfen beistehen können, ist unser Gebet. Wir vertrauen auf Jesus, den Herrn der Kirche, …“ Gerhard Ludwig Kardinal Müller im Gespräch mit Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Nach der modernen Staatsrechtslehre geht alle Macht im Staat vom Volke aus. Damit ist Grundlage eines jeden demokratischen Staates die Volkssouveränität. Allerdings ist hiervon der Staat der Vatikanstadt ausgenommen. In diesem Staat, im Vatikan, bildet nicht das Volk den Souverän, in dem kleinsten Staat der Welt ist immer noch der jeweilige Papst der Souverän. Dies hat zur Folge, dass der Papst im Vatikan mehr legitime Macht ausüben könnte als jeder Staatsmann in Westeuropa. Durch diese staatsrechtliche Konstruktion, die eine einzigartige Machtfülle ermöglicht, werden Fragen nach der Begrenzung der Macht aufgeworfen. Wir haben deshalb mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der sich mit seinem Buch „Der Papst. Auftrag und Sendung“ zu Wort gemeldet und sich in den Diskurs um die Stellung des Papstes eingeschaltet hat, die Grenzen der legitimen und von der Lehre und Tradition der Kirche eingeräumten Machtfülle gesprochen.

Rilinger: Dem Papst sind drei Leitungsfunktionen übertragen. Er ist der Erzbischof von Rom und damit Metropolit der römischen Kirchenprovinz. Weiter wurde er als Patriarch des Abendlandes bezeichnet. Aus historischen Gründen hat Papst Benedikt XVI. diese Aufgabe umbenannt in Vorsitzenden der Römisch-Katholischen Kirche. Als dritte und höchste Aufgabe ist er der Papst mehrerer katholischer Kirchen. Um dieser Aufgabe als Papst zu genügen, hat das Erste Vatikanische Konzil festgelegt, dass dem Papst das Jurisdiktionsprimat zusteht und er ex cathedra, also unfehlbar, entscheiden kann. Damit wurde dem Papst ein Vorrang eingeräumt, der zwar schon immer bestand, aber durch das Konzil in Gesetzesform gegossen worden ist. Ist dieses Primat ein Ehrenvorrang oder doch ein apostolisches Amt, das – wie es J. Ratzinger formuliert hat – die Verantwortung für das Wort und die communio in sich vereinigt?

Gerhard Ludwig Kardinal Müller: Die katholische Kirche besteht „in und aus den Teilkirchen“ (Lumen gentium 23) – aus den von einem Bischof geleiteten Diözesen. Hiervon müssen wir unterscheiden, dass mehrere Diözesen zu einem Patriarchalverband oder auf nationaler Ebene zu einer Bischofskonferenz mit einem gewählten Präsidenten zusammengefasst sind. Dies ist eine Frage der Historie, aber nicht der Dogmatik, die auf das sakramentale Wesen der Kirche zielt. Der Bischof von Rom mit dem Amtstitel „Papst“, ist als Nachfolger Petri der Garant der Einheit des Episkopates. Er steht an der Spitze der Bischöfe, so wie Petrus kraft seiner besonderen Berufung durch Christus selbst (Mt 10,2; 16, 18) an der Spitze der Apostel stand. Somit hat Christus „in ihm ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft [der Bischöfe und ihrer Ortskirchen] eingesetzt.“ (Lumen gentium 18; vgl. 23). Der Primat der römischen Kirche und die persönliche Unfehlbarkeit des Papstes bei der Auslegung der geoffenbarten Wahrheiten sind also göttlichen Rechtes und gehen keineswegs nur aus einer kontingenten geschichtlichen Konstellation hervor oder verdanken sich gar lediglich dem politisch begründeten Machtanspruch des Bischofs der damaligen Reichshauptstadt Rom. Die historischen Titel wie Patriarch des Abendlandes, Vorsitzender der italienischen Bischofskonferenz oder Erzbischof der römischen Kirchenprovinz, also der suburbikarischen Bistümer, gehören nicht wesentlich zu seinem Primat.

Die Unfehlbarkeit ist keine private Eigenschaft oder die unbedingte Befehlsgewalt, wie die größenwahnsinnigen Autokraten dieser Welt sie für sich in Anspruch nehmen, sondern ein demütiger Dienst an der Kirche im Namen ihres Herrn Jesus Christus, der nicht gekommen ist, „um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Mk 10, 45).

Im streng offenbarungstheologischen Kontext ist ihm das persönlich – und das dem ökumenischen Konzil zusammen mit ihm – vom Heiligen Geist verliehene Charisma der Unfehlbarkeit in der Glaubens- und Sittenlehre, mit der Gott seine Kirche ausgestattet hat, übertragen, damit „die Kirche als Fundament und Säule der Wahrheit des lebendigen Gottes“ (1 Tim 3, 15) die in Christus ein für alle Mal ergangene Offenbarung im Hören und Lehren unverkürzt und unverstellt zu glauben vorlegen kann.

Der Papst als „Souverän des Vatikanstaates“ hat damit innerlich gar nichts zu tun. Der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt dient nur von außen her der politischen Unabhängigkeit des Papstes und der römischen Kurie vor den Übergriffen der Politiker, deren sich diese schon so oft in der Geschichte schuldig gemacht haben. Der Vatikan ist nicht ein Staat wie jeder andere, auf den die Kriterien der modernen Staatlichkeit vollständig angewendet werden könnten oder sogar müssten. Der Vatikanstaat ist aber auch keine absolute Monarchie, wie die Polemiker dagegen meinen, sondern eine unabhängige Verwaltung von materiellen Kirchengütern, die der geistlichen Regierung der Kirche zu Diensten ist. Der Papst übt seine Souveränität gegenüber den Personen mit vatikanischem Pass und den Bediensteten von außen auf naturrechtlicher Basis und nach dem Stand der gewachsene Rechtskultur aus – durch Instanzen wie Gendarmerie, Schweizer Garde, Liegenschaftsverwaltung oder Bankwesen, die nach fachlichen Gesichtspunkten arbeiten, um einige zu nennen.

Rilinger: Die communio umschließt auch verschiedene Patriarchate und Ostkirchen, die den Papst als Oberhaupt anerkennen. Die Bewegung des sogenannten Synodalen Weges scheint auf eine Trennung der deutschen Ortskirchen von der Römisch-Katholische Kirche hinauszulaufen. Sehen Sie gleichwohl eine Möglichkeit, dass diese neue Kirche in Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft mit der römischen Kirche verbleibt, so dass auch dieses neue Patriarchat oder diese neue Kirche den Papst als geistliches Oberhaupt anerkennen könnte?

Kardinal Müller: Der sog. Synodale Weg hat mit der Bildung der alten Patriarchatskirchen nicht das Geringste zu tun. Ursprünglich wurden die von Petrus gestifteten Kirchen (Antiochien, Alexandrien durch den Petrusschüler Markus, Rom) als Patriarchate bezeichnet. Später kamen aus politischen Gründen Konstantinopel hinzu und aus Reverenzgründen Jerusalem. Dann haben sich die orthodoxen (autokephalen) Nationalkirchen den Titel Patriarch für den leitenden Bischof reserviert. In Deutschland geht es aber um den Versuch, die katholischen Institutionen, die Kirchensteuer und den Gebäudebestand für eine Organisation, die den katholischen Glauben in seinen wesentlichen Elementen aufgegeben und den Boden der Offenbarung definitiv verlassen hat, in Besitz zu nehmen. Das Taufbekenntnis ist durch den Götzen der heidnischen LGBT-Ideologie ersetzt. Statt zum Kreuz Christi aufzuschauen und die Siegesfahne des Auferstandenen der Menschheit voranzutragen, ziehen die Protagonisten der Deutsch-Synodalen die Regenbogenfahne hoch, die eine öffentliche Absage an das christliche Menschenbild darstellt. Sie haben das Glaubensbekenntnis durch das Bekenntnis zu den Götzen einer neu-heidnischen Religion ersetzt.

Es bestätigt sich wieder einmal das Wort des bedeutenden Philosophen Max Scheler: „Der Mensch glaubt entweder an Gott, oder er glaubt an einen Götzen (Vom Ewigen im Menschen, Bern-München 51968, 399). Wenn Kardinal Marx als Protagonist des deutsch-synodalen Weges dazu aufruft, nicht zu viel (sic!) von Gott zu reden und wenn er in der heiligen Stadt Jerusalem sein Brustkreuz mit „Rücksicht“ auf die Gefühle Andersgläubiger ablegt und damit das Kreuz als universales Zeichen des Heils verleugnet, dann halte ich es lieber mit dem Apostel Paulus, der „sich des Evangeliums nicht schämte“ (Röm 1,16) und der an die Christen in Korinth schrieb: „Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten, für Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Gottes Kraft und Weisheit.“ (1 Kor 1, 23).

Da sich „Synodal-Themen“ ausschließlich und unaufhörlich um die Sexualität als egomane Lustquelle drehen, hat man den Eindruck, dass die Sexologie zur Leitwissenschaft erklärt ist und deshalb die auf dem geoffenbarten Glauben ruhende Theologie abgelöst hat. Die Barmer Theologische Erklärung gegen die Deutschen Christen aus dem Jahr 1934 sollte sich jeder, der Christus treu bleiben will, als Spiegel vor Augen halten: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung annehmen. […] Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“

Die Erklärung des Heiligen Stuhls vom 21. Juli 2022 formuliert es so: „Der ‚Synodale Weg‘ in Deutschland ist nicht befugt, die Bischöfe und Gläubigen zur Annahme neuer Formen der Leitung und neuer Ausrichtungen der Lehre und der Moral zu verpflichten.“

Wenn die Propaganda-Maschine des Synodalen Weges auch nur ein wenig die Hermeneutik der katholischen Theologie und die Aussagen über das Wesen und die Sendung der katholischen Kirche in den Dogmatischen Konstitutionen des II. Vatikanums (Dei verbum; Lumen gentium) kennen würde, dann hätte sie sich für den kostenlosen Nachhilfeunterricht des Ökumene-Präfekten Kardinal Koch bedankt, statt ihr übliches Feuerwerk hohler Phrasen und dreister Ignoranz abzischen zu lassen. Auf welches intellektuelle und moralische Niveau wurden Kirche und Theologie in Deutschland heruntergewirtschaftet! Es bleibt nur zu hoffen, dass Papst Franziskus seines Amtes waltet und nicht auf das inszenierte Betroffenheitsritual knallharter Ideologen hereinfällt oder meint, diese mit Diplomatie und frommen Einheitsgesäusel beschwichtigen zu können.

Rilinger: Sie haben ausgeführt, dass die Regenbogenfahne von den Protagonisten des sogenannten Synodalen Weg vorangetragen werde. Können Sie erklären, aus welchem Grund Sie diese Fahne als heidnisch verurteilen?

Kardinal Müller: Im Alten Testament gilt der Regenbogen als ein Zeichen für den Bund und den Frieden Gottes mit den Menschen (Gen 9, 11-17). Die ursprünglich religiöse Bedeutung wurde aber in ein Symbol für die Friedensbewegung transformiert. Seit den 1970er Jahren gilt in Umkehrung der natürlichen Farbenfolge die rainbowflag als Standarte der internationalen LGBT-Ideologie, die zwar vorgibt, gegen die Diskriminierung homoerotisch empfindender Menschen aufzutreten, in Wirklichkeit aber der Gegenentwurf zur natürlichen und geoffenbarten Anthropologie ist. Der menschliche Leib in seiner natürlichen Weise in männlicher und weiblicher Geschlechtlichkeit gilt nurmehr als Material, das der autonome Wille zu einem beliebigen Mittel der orgiastischen Lust umformt, um dem nihilistischen Grundgefühl zu entgehen, also der furchtbaren Erfahrung des Todes Gottes zu entkommen. Wie immer sind sich die Mitläufer der atheistischen Ideologien der eigentlichen Intentionen ihrer Protagonisten nicht bewusst. Oder sie wollen diese Intentionen nicht wissen und lassen sich gerne von der Propaganda täuschen, dass es lediglich um Antidiskriminierung gehe.

Rilinger: Das Erste Vatikanische Konzil hat darüber hinaus beschlossen, dass das Jurisdiktionsprimat auch die Möglichkeit des Papstes einschließt, ex cathedra Glaubenswahrheiten zu verkünden. Damit wird dem Papst das Recht zugebilligt, unfehlbar Glaubenssätze festzulegen, die jeder Katholik zu glauben hat. Diese Vollmacht könnte die Gefahr in sich bergen, dem Papst zu unterstellen, absolut handeln zu dürfen. Doch auch die Unfehlbarkeit findet ihre Grenze. Was müssen wir unter der Möglichkeit der Unfehlbarkeit verstehen?

Kardinal Müller: Wie gesagt, sind die persönlichen Meinungen und Lebenserfahrungen des regierenden Papstes nicht mehr oder weniger zu akzeptieren wie die eines jeden anderen gebildeten oder auch nur eines anständigen einfachen Menschen. Das II. Vatikanum erklärt in Lumen gentium, noch einmal ausführlich, was mit der Unfehlbarkeit der Kirche in Glaubensfragen gemeint ist und was nicht. Dogmatische Erklärungen können die Eigenschaft der Unfehlbarkeit haben, wenn sie sich inhaltlich aus der Heiligen Schrift und der Apostolischen Überlieferung des Wortes Gottes ergeben und wenn sie formell von der zuständigen Autorität des Lehramtes des Papstes und der Bischöfe unter dem Beistand des Heiligen Geistes als eine von Gott geoffenbarte Wahrheit zu glauben vorgelegt werden. Allerdings: „Eine neue öffentliche Offenbarung als Teil der göttlichen Glaubenshinterlage (depositum fidei) empfangen sie jedoch nicht.“ (Lumen gentium, 25)

Es ist daher völlig abwegig, zu meinen, ein Konzil oder ein Papst könnten ein früheres Dogma aufheben oder zum Beispiel festlegen, dass zur Natur des Weihesakramentes nicht die Voraussetzung des männlichen Geschlechts seines Empfängers gehört oder dass zwei Personen des gleichen Geschlechts eine natürliche Ehe, also eine Ehe von Ungetauften, oder eine sakramentale Ehe, also eine von zwei Getauften, eingehen können oder – um ein weiteres Beispiel zu nennen – dass der Segensgestus über ein gleichgeschlechtliches Paar eine positive Wirkung bei Gott hat, der in seinem Schöpfungswillen Mann und Frau als Ehepaar gesegnet hat (Gen 1, 28). Im Extremfall könnte ein Papst als Privatperson zum Häretiker werden und verlöre damit automatisch sein Amt, wenn der Widerspruch zur Offenbarung und zur dogmatischen Lehre der Kirche evident ist.

Rilinger: Wie verläuft der Prozess hin zu einer ex cathedra-Entscheidung? Ist es eine einsame Entscheidung des Papstes oder doch der Endpunkt eines langen Prozesses des Ringens um die richtige Wertung einer Glaubenswahrheit?

Kardinal Müller: Die Wahrheit der Glaubensmysterien ist geoffenbart und in Christus, dem Fleisch gewordenen Wort Gottes, vollständig enthalten. Es kann sich nur um ein Ringen für die konzeptionelle und begriffliche Fassung der geoffenbarten Lehre handeln. Die göttliche Natur des Sohnes Gottes und die Tatsache seiner Annahme einer vollen menschlichen Natur sind der Inhalt der Offenbarung. Dass die Konzilien von Nizäa bis Chalzedon (451) dies mit dem Begriff des homoousion, also Christus als gleichwesentlich mit dem Vater der Gottheit und uns gleich dem menschlichen Wesen nach, gegen alle Abweichungen und Verwässerungen festgehalten haben, ist das Ergebnis der Dogmengeschichte. Aber wir glauben nicht eigentlich an die Dogmen der Kirche als Menschenworte in der Bibel oder den lehramtlichen Definitionen, sondern an Gott in seinen geoffenbarten Wahrheiten, die eben nur in menschlicher Sprache ausgedrückt sind, aber nicht bloß – fehlbare – menschliche Meinungen über Gott darstellen (vgl. 1 Thess 2, 13).

Rilinger: Der Primat des Papstes wird oft als ein Stein des Anstoßes empfunden, da es einzelnen Ortskirchen verwehrt, eigene Glaubenswege zu gehen. Wir können diese Tendenz in dem Bemühen der deutschen Ortskirchen feststellen, die sich durch den sogenannten Synodalen Weg der Los-von-Rom-Bewegung angeschlossen zu haben scheinen. Bildet deshalb der Primat die Garantie, dass die katholische Kirche als eine Weltkirche und nicht als eine Nationalkirche auftreten kann?

Kardinal Müller: Eine Nationalkirche mit einem eigenen Glaubensbekenntnis ist in doppelter Hinsicht ein Unding. Erstens sind die Nation, das Volk, die Kultur, die Sprache weder produzierende Subjekte noch passive Membrane, die ein göttliches Hintergrundrauschen in eine menschliche Melodie nach dem Geschmack der Zeitgenossen umsetzen könnten. Vielmehr ist der wesensgleiche Sohn des Vaters das eine Wort Gottes, das sich uns in der Menschheit Jesu vollständig und definitiv mitgeteilt hat.

Das Wort Gottes vereint die Gläubigen in dem pfingstlichen Geist des Vaters und des Sohnes über die Verschiedenheit der Kulturen hinweg zu der einen Kirche. Gegen die fundamentale Verfälschung der christlichen Mysterien der Einheit sowie der Dreifaltigkeit Gottes, der Inkarnation, der Sakramentalität der Kirche und der Leiblichkeit der Erlösung betonte zu Ende des 2. Jahrhunderts Irenäus von Lyon gegen die Gnostiker seiner und aller Zeiten die Einheit und Communio der universalen Kirche aufgrund der apostolischen Überlieferung. „Diese Botschaft, die sie empfangen hat, bewahrt die Kirche, obwohl sie über die ganze Welt verbreitet ist, so sorgfältig, wie wenn sie in einem einzigen Haus wohnte. […] Denn wenn auch die Sprachen überall in der Welt verschieden sind, so ist doch der Inhalt der Überlieferung überall ein und derselbe. Die Kirchen, die es in Germanien gibt, glauben und überliefern nichts anders, auch die in Iberien und die bei den Kelten nicht, ebenso die im Orient und die in Ägypten, in Libyen und in der Mitte der Welt.“ (Gegen die Häresien I, 10, 2).

Rilinger: Der petrinische Primat hat sich historisch aus dem ursprünglichen Dreierprimat von Johannes, Jakobus und Petrus entwickelt, wie es im Neuen Testament dokumentiert ist. Können Sie die Entwicklung vom Dreierprimat hin zum Primat des Petrus und damit des Papstes nachzeichnen?

Kardinal Müller: Diese drei Apostel begegnen uns bei den Synoptikern als der engste Kreis der Apostel innerhalb des Kollegiums der zwölf Apostel. Nachösterlich und nachapostolisch haben sich aufgrund der urchristlichen Mission die Ortskirchen mit einem Presbyter-Kollegium, auch mit den Diakonen, dem ein einziger Bischof vorsteht, herausgebildet. Der Bischof repräsentiert dann auch in seiner Person die diachrone und synchrone Einheit der Kirche in der Nachfolge der Apostel und der inneren Kontinuität der Kirche mit ihrem Ursprung in Christus und den Aposteln. Da nur der Bischof von Rom der persönliche Nachfolger des Petrus ist, während die anderen Bischöfe Nachfolger der Apostel ihrem ganzen Kollegium nach sind, gelten die Prärogative des Simon in seiner Eigenschaft als Petrus, als der Fels, auf dem Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, seine Kirche bauen wird, auch für den Bischof von Rom. Im Laufe der Zeit hat sich der Titel Papst herausbildet, um den Petrus-Dienst des römischen Bischofs in einem Begriff zusammenzufassen.

Rilinger: Auch wenn der Papst nur in Ausnahmefällen eine Entscheidung ex cathedra verkündet, stellt sich die Frage, wie der Papst seine Entscheidungen vorbereitet. Stützt er sich dabei auf einen Kreis von Beratern? Und wie setzt sich dieser Beraterkreis zusammen. Berät der Papst sich mit persönlichen Freunden oder professionellen Beratern, die sich ihre Dienste vergüten lassen, oder setzt er auf die Unterstützung der Kardinäle, die ja eigentlich die geborenen Berater des Papstes sein sollen?

Kardinal Müller: Auch wenn Lehrentscheidungen der Kirche in besonderen Fällen unfehlbar die Offenbarung wiedergeben, weil sie vom Charisma des Heiligen Geistes getragen sind, so bedürfen sie dennoch der bestmöglichen menschlichen Vorbereitung „hinsichtlich ihrer rechten Erhellung und angemessenen Darstellung.“ (Lumen gentium 25). Dazu sind Papst und Bischöfe innerlich verpflichtet. Auch für die allgemeine Regierung der Kirche soll sich der Papst zuerst auf das Kardinalskollegium stützen, das ja die römische Kirche repräsentiert und – wie das Presbyterium einen Bischof – den Papst kollegial/synodal berät. Wie in allen Fällen ist ein Beratergremium, das vom obersten Entscheidungsträger nach den Gesichtspunkten der Willfährigkeit und der Freundeswirtschaft zusammengesetzt wird, von geringem Nutzen und schadet dem Amtsinhaber mehr als es ihm nutzt. Dieser braucht nicht die der menschlichen Eitelkeit schmeichelnden Lobeshymnen, sondern den kritischen Sachverstand von Mitarbeitern, die nicht an den wohlwollenden Gesten des Oberen interessiert sind, sondern am Erfolg seines Amtes, d.h. des Pontifikates, für die Kirche.

Rilinger: Durch den Jurisdiktionsprimat kann der Papst Dogmen verkünden, die vom Volk Gottes befolgt werden müssen. Allerdings könnte auch ein Dogma nicht dem Diskurs entzogen sein, so dass durch die theologische und philosophische Entwicklung Zweifel an der Wahrheit des Dogmas entstehen könnten. Muss dann, wenn die Zweifel evident werden, das Dogma aufrechterhalten werden oder bestünde nicht vielmehr die Möglichkeit, es – wie es Karl Rahner formuliert hat – zu vergessen, da jedes Dogma nach vorne offen sein sollte?

Kardinal Müller: Nach „vorne offen“ meint bei Rahner nicht die Anleihe bei einem evolutiven Wahrheitsverständnis, sondern das möglichst je tiefere begriffliche und geistliche Verständnis der geoffenbarten Wahrheit seitens eines einzelnen Christen oder des ganzen Gottesvolkes. Man muss unterscheiden zwischen der geglaubten Wahrheit und ihrer sprachlichen Fassung. Die Wahrheit Gottes ist in Christus ganz offenbar, aber sie bleibt das je größere Geheimnis, das sich uns zwar in unserer Sprache zu erkennen gibt, aber von unseren Begriffen nicht umschlossen werden kann und darum nicht rationalistisch auf ein Rechenexempel herunterzubrechen ist. Der Glaubensakt richtet sich nicht auf die Bekenntnisformel – gleichsam wie auf die kostbare Einfassung des unendlich wertvolleren Diamanten –, sondern auf den Inhalt, nämlich auf Gott, der selbst die Wahrheit ist (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II q. 1 a. 2 ad 2).

Rilinger: J. Ratzinger spricht sogar davon, dass Päpste auch zum Skandalon werden könnten, weil sie als Menschen glauben, einen Weg festlegen zu wollen, der zwar aus ihrer Logik den Anschein der Rechtmäßigkeit zeigen könnte, aber dem göttlichen Wort widerspricht. Ist hierin auch eine Grenze der Unfehlbarkeit zu erblicken?

Kardinal Müller: Es geht nicht darum, die Unfehlbarkeit der Kirche in der vollen Darstellung der Offenbarung zu begrenzen, da sie sich einem Charisma des Heiligen Geistes verdankt. Aber jeder Papst muss genau zwischen seiner Aufgabe und sich selbst als Privatperson unterscheiden. Er darf nicht den anderen Christen seine Vorlieben aufdrängen, so wie die Chinesen die Mao-Bibel oder die Weisheiten ihres „Großen Vorsitzenden“ studieren müssen. Ein Papst oder Bischof oder sonst ein kirchlicher Vorgesetzter darf auch nicht das Vertrauen missbrauchen, das ihm in einer brüderlichen Atmosphäre ohne weiteres entgegengebracht wird, um seine inkompetenten oder korrupten Freunde mit kirchlichen Pfründen zu versorgen. Wenn unter den von Jesus erwählten Aposteln ein Verräter war und sogar Petrus Jesus im Zuge der Passion verleugnet hat, dann wissen wir, dass auch kirchliche Amtsträger in Geschichte und Gegenwart versagen und ihr Amt eigensüchtig oder borniert missbrauchen können.

Wir haben sogar in Glaubensfragen ein Beispiel, wie Paulus dem Petrus ins Angesicht widerstand, als dieser sich in der „Wahrheit des Evangeliums“ eine gefährliche Zweideutigkeit erlaubte (Gal 2, 11-14). Unsere affektive und effektive Anhänglichkeit an den Papst und an unseren Bischof oder Pfarrer hat nichts mit dem unwürdigen Personenkult weltlicher Autokraten zu tun, sondern ist die brüderliche Liebe zu einem Mitchristen, dem ein hohes Amt übertragen wurde. An diesem kann er auch scheitern. Darum fördert eine liebevolle Kritik die Kirche mehr als eine servile Heuchelei.

Das beste Mittel, wie wir dem Papst und den Bischöfen beistehen können, ist aber unser Gebet. Wir vertrauen auf Jesus, den Herrn der Kirche, der zu Simon, dem Felsen, auf den er seine Kirche bauen wird (Mt 16, 18) vor der Passion sagte: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.“ (Lk 22, 32).

Rilinger: Eminenz, ich danke für diese erläuternden klaren Worte.

kath.net-Buchtipp:
Der Papst
Sendung und Auftrag | Gerhard Ludwig Müller
Herder Verlag, 608 Seiten

Archivfoto Kardinal Müller (c) Lothar C. Rilinger


© 2022 www.kath.net