25. November 2022 in Kommentar
Atheistischer Posthumanismus oder christliches Menschenbild. Von Gerhard Kardinal Müller
Vatikan (kath.net/ Ökumenische Quartalsschrift "Auftrag und Wahrheit") Der vorliegende Beitrag von Gerhard Kardinal Müller (Rom) ist in der neuesten Nummer der Zeitschrift „Auftrag und Wahrheit. Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie“/AuW erschienen (Nr. 5, 2. Jg. 2022/2023, Heft 1, S. 14-21). Kardinal Müller veröffentlicht regelmäßig theologische Grundsatzbeiträge zu aktuellen Fragen und Debatten in der von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift. Bestellmöglichkeit: siehe Link.
Friedrich Nietzsche (1844-1900) war im 19. Jahrhundert der falsche Prophet, der das 20. Jahrhundert zur unmenschlichsten Epoche der ganzen Weltgeschichte werden ließ. Sein Schlachtruf war: „Gott ist tot. Nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“ So also lässt er seinen Zarathustra zu den „höheren Menschen“ reden. 1 Diese Elite-Menschen glauben sich einem Quantensprung der Evolution zu verdanken oder die Höchststufe aller Zivilisationen erklommen zu haben. Sie halten sich für die Avantgarde der Menschheit. Ihnen stünden exklusive Privilegien zu, denn sie haben den Gang der Weltgeschichte begriffen. Ihre höhere Einsicht berechtige sie, in die Speichen des Schicksals einzugreifen. Das gemeine Volk dürfe sich glücklich schätzen, Gegenstand ihrer Fürsorge und Erziehung zu sein. Der dumme Pöbel auf dem Marktplatz der veröffentlichten Meinung lässt sich von den Propagandaparolen mitreißen. Man fühlt sich eins mit der großen Masse von Herden-Menschen, die sich ihrem „Führer-Tier“ 2 blind unterwirft und widerspruchslos ihren Befehlen folgt. Denn niemand weiß ja besser als der Big Brother, was für die Allgemeinheit gut ist.
Man kann nicht einfach nur entschuldigend sagen, dass die primitiven Nazis von Hitler bis Rosenberg die Subtilitäten Nietzsches nur nicht richtig verstanden hätten. Es war der von vielen so eingeschätzte größte Philosoph des 20. Jahrhunderts Martin Heidegger (1889-1876), der die abendländische Metaphysik seit ihren Anfängen bei Plato und Aristoteles der Seins-Vergessenheit bezichtigte und sich gleichzeitig vehement von seiner katholischen Herkunft distanzierte, der dem Nietzsche-Fan Adolf Hitler und seinem Wahn vom arischen Übermenschen den Hauch einer höheren philosophischen Legitimität verlieh. Die Gegenbewegung zur arischen Humanität des „reinen Blutes“ mit seiner „Moral der Rasse und Menschenzüchtung“ ist nach Nietzsche „die antiarische Religion par excellence. Das Christentum… das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt… als Religion der Liebe.“ 3 In den berüchtigten „Schwarzen Heften“, seinen Denktagebüchern von 1931-1974, notierte Heidegger: „Die große Erfahrung und Beglückung, dass der Führer eine neue Wirklichkeit erweckt hat, die unserem Denken die rechte Bahn und Stoßkraft gibt.“ 4
Nietzsche, der umjubelte Prophet des postmodernen Atheismus verkündete – drei Jahre vor seinem geistigen Zusammenbruch – die Leitidee des Humanismus ohne Gott: den Übermenschen. Das soll der Mensch der Zukunft sein, der sich selbst aus dem Nichts erschafft und eine Menschheit auf den Weg bringt, die sich selbst erlöst. So kann der Übermensch durch das rücksichtslose Ausleben des Willens zur Macht den Nihilismus besiegen. Im Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen überwindet er die extremste Form des Nihilismus; nämlich „dass das Nichts, das Sinnlose, ewig ist, ein Finale ins Nichts: die ewige Wiederkehr des Gleichen.“ 5 Die ewige Wiederkunft des Gleichen ergibt sich aus der Überlegung: In der endlosen Zeit wiederholen sich unaufhörlich die Zustände, die sich aus den wechselnden Kombinationen ihrer endlichen Faktoren ergeben. Die Überwindung des Nihilismus geschieht aber im christlichen Glauben viel einfacher und erfolgversprechender. Das Nichtigkeitsgefühl, das allem Endlichen anhaftet, wird überwunden dadurch, dass der Schöpfer uns sterblichen Menschen Anteil gibt an seiner Ewigkeit und die Unruhe unseres Herzens in seiner Gegenwart zur Ruhe kommen lässt. 6 Nietzsche verkündete den Übermenschen; was kam, war der Unmensch des 20. Jahrhunderts, der über die zertrümmerte christliche Moral auf gewaltigen Leichenbergen (Auschwitz, Gulag) zum selbstgemachten Paradies aufsteigen wollte. Statt des versprochenen Paradieses auf Erden bereiteten Menschen ihresgleichen die Hölle auf Erden. Wenn der Mensch nicht mehr das Geschöpf sein darf nach dem Bild und Gleichnis des dreieinigen Gottes, sondern sich wie Prometheus selbst zu Gott erheben muss, dann versinkt er im Mahlstrom des anthropologischen Nihilismus. Im Übrigen ist der Mythos von den himmelstürmenden Titanen in christlicher Sicht so lächerlich, wie wenn einer sich rühmt, offene Türen einrennen zu können. Denn Gott gibt allen, die Christus „aufnehmen die Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1,12) und er verleiht ihnen „die Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21), lange noch bevor wir uns in Bewegung setzen können, um die Türen des Himmels zu stürmen. Das Gefühl, dass es keine transzendente Orientierung und keine letztentscheidende Verantwortung vor einem ewigen Richter gibt, folgt zwangsläufig aus der Leugnung der Existenz Gottes und seines unbedingten Heilswillens.
Der anthropologische Nihilismus kleidet sich heute in die grellen und diversen Gewänder des Genderwahns, der Bi- und Transsexualität. Dieser Posthumanismus läuft auf die evolutiv-technische Abschaffung des Menschen oder seine Weiterexistenz als Mensch-Tier-Technik-Hybrid hinaus. 7
Der Transhumanismus ist identisch mit dem klassischen Antihumanismus der atheistischen Ideologien, nur geschickter getarnt und besser verkauft. Mit ihm erlebt der de-christianisierte „Westen“ die „Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche), nämlich seines suizidalen Nihilismus. Wenn Nietzsches Satz „Gott ist tot“ das Bewusstsein der Welt von heute widerspiegelt, dann ist klar, dass unter den Vorzeichen dieses Nihilismus „ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann.“ 8 Aus dem Schoß des Seins-verneinenden und Wahrheits-feindlichen Atheismus kriechen die menschenfressenden Monster des Jakobinismus, Kommunismus und Nationalsozialismus. Hunderte Millionen von Menschen sind ihre unschuldigen Opfer. Der Transhumanismus ist das vierte Reich im Reigen der sich überstürzenden Nihilismen und ihr alles verschlingender Abgrund. Der Posthumanismus ist der schlimmste Vernichtungskrieg gegen die Menschheit. Er führt Krieg gegen die kommende Generation (Abtreibung/Infantizid) und gegen die Alten und Kranken, die als verbrauchtes Humankapital entsorgt werden und damit aus dem Spiel zu nehmen sind (Euthanasie). Er zerstört die Grundlagen des Lebens durch die Relativierung der Ehe von Mann und Frau. Er relativiert die Familie, die – trotz aller sophistischer Wortakrobatik – definiert bleibt als das Zusammenleben der beiden Eltern mit ihren eigenen Kindern. Man verheißt in der neuen Symbiose von Kapitalismus des „Westens“ und des Kommunismus in Rot-China oder den Programmen der Neuen Weltordnung, der Vierten Revolution oder des sog. „inklusiven Kapitalismus“ wieder einmal das Paradies auf Erden, das eine Fata Morgana bleiben wird. Wo niemand mehr etwas sein Eigen nennt, seien alle glücklich rufen die Superreichen der Masse von armen Schluckern zu. Denn der Staat teilt jedem nach seinen Bedürfnissen zu, was er braucht entsprechend der Vorstellung der Führungsriegen vom Glück der Massen. Die herrschenden Macht-, Medien- und Finanzeliten haben alles unter Kontrolle und schreiben vor, was die Massen zu denken, zu fühlen und zu tun haben. Sie halten sich für die geborenen Vordenker und verteufeln jeden selbst denkenden Menschen, der sich ihrer Gedankendiktatur entzieht, als „Querdenker“ oder „Verschwörungstheoretiker“.
Die totalitären Ideologen des kapital-sozialistischen Materialismus, des neo-imperialistischen Nationalismus und des ideologischen Posthumanismus fallen also zwangsläufig bei all ihrem Vernunftstolz ins blinde Heidentum zurück. Sie kennen den Menschen nur als eine Laune der „Götter“, d.h. der poetisch ausgedrückten Identität von Gott und Natur (nach Spinozas panentheistischer Definition: Deus sive natura sive substantia). Der Mensch ist dann nichts anders als Zufall der mit sich spielenden Naturelemente, nichts anderes als ein komplexer Organismus der Evolution. Er ist nichts anderes als ein Produkt der Gesellschaft oder nichts anderes als ein Kunde im Supermarkt oder ein Angebot aus dem Warenkatalog, wo man sich nach eigenem Geschmack Kinder wie Spielzeuge selbst zusammenbasteln kann.
Statt des allumfassenden und alles durchdringenden Logos Gottes, der sich in seinem Ewigen Wort und Heiligem Geist dem erwählten Volk Israel am Anfang der Heilsgeschichte und dann am Ende der universalen Kirche Christi mitteilt als Schöpfer der Welt und Retter aller Menschen, ist es nur die fehleranfällige und interessengeleitete Vernunft des endlichen Menschen, die sich selbstbewusst einen Sinn gibt und sich selbst das Ziel seines „Willens zur Macht“ (Nietzsche) setzt. Der Mensch ist dann nicht mehr nur wie zu Beginn der Neuzeit mit ihrem anthropologischen Dualismus von Geist und Körper lediglich „Meister und Besitzer der Natur“ – nach Descartes, der sich aber durchaus noch als gläubigen Katholiken verstand. Nein, er ist weit darüber hinaus auch ideologisch der Schöpfer seines geistigen Selbst, das sich existentialistisch-emanzipatorisch aus dem Nichts zu einem (selbst entworfenen aber nur schein-baren) Sein emporarbeitet (Sartre). Das nihilistische Credo lautet: Das Sein ist kein unverdientes und unverfügbares Geschenk. Es gilt nur die radikale Selbstbestimmung, gleichsam die Selbsterschaffung aus dem Nichts, auf dessen wasserlosen Oberfläche ich schwimme. Man redet sich selbstzerstörerisch ein: Ich bin von einem blinden Schicksal in diese Welt hineingeworfen. Darum bin ich verdammt aus mir zu machen, was ich will. Es gibt nicht die Vorgaben meiner leiblichen Natur, das Hineingestellt-Sein in eine Geschichte, Tradition, Kultur, Sprache und Heimat, eine Familie und Nation, für die ich Verantwortung übernehme. Diese Selbstkreation aus dem Nichts und über dem Nichts sondert dann als seine Philosophie diese gedanken-losen Sätze von sich, die wir alle nur zu gut kennen: Ich verdanke mich niemanden und deshalb bin ich mir allein der einzige Nächste. Ich bin mir selbst mein Gott, den ich mir nach meinem Bild und Gleichnis geschaffen habe (Feuerbach). Der andere interessiert für mich nur insoweit, als ich ihn für meine Interessen und meine Interessen und Luststeigerung einspannen kann.
Das Ich in seinem von Gott verfügtem Selbststand löst sich lebensgeschichtlich auf in nicht mehr zu integrierende Selbst-Erfahrungen und emanzipierte Selbst-Bestimmungen, die ohne Grund und Ufer wie Wasserblüten in allen Farben auf der Oberfläche forttreiben – ohne je Wurzel zu fassen („Wer bin ich und wie viele?“ lautet ein Buchtitel).
Dann ist aber auch mein Körper, mein Leib-Ich, nicht mehr mein Ich-Subjekt in seinem materiellem Möglichkeitsgrund, sondern mit mir nur akzidentell verbunden wie ein Kleid. Ein Gewand lässt sich umschneidern und man verpasst sich willkürlich einen neuen Outlook. In einem Anfall von Selbstverhässlichung entstellen Menschen die angeborene Schönheit ihres menschlichen Leibes mit Tatoos und Ringen in Nase und Lippen. Der Posthumanismus ist ein suizidaler Nihilismus. Der Selbstmord ist weltweit die häufigste Todesursache unter Jugendlichen.
Der Transhumanismus ohne Gott ist das vierte Reich im Reigen der sich überstürzenden Nihilismen und ihr alles verschlingender Abgrund. Der anthropologische Nihilismus hat als Vater den Stolz des Geschöpfs, das sein will wie Gott und den Unterschied zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch nach eigenem Gusto selbst definieren will. Seine verführte oder gekaufte Leih-Mutter ist die Torheit, die die „Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes“ vertauscht mit seinen selbstgemachten Götzen aus Menschenhand oder ideologischen Phrasen aus Menschenmund (vgl. Röm 1,20-32). Wer aber die Wahrheit Gottes mit der Lüge verwechselt und statt des Schöpfers das Werk seiner Hände und Gedanken anbetet, der entehrt sich selbst in seinem Geist und Leib, der wird in seiner Selbstreduktion auf ein Lustsubjekt am Ende sich selbst zur Strafe. Der endet geistig und leiblich in einer unfruchtbaren Existenz, weil er nicht begreifen will, dass Gott den Mann für die Frau und die Frau für den Mann geschaffen hat (1 Kor 11,11f) und der somit Ehe und Familie zur Urzelle von Kirche und Staat gemacht hat.
Doch Einer und Derselbe ist der Schöpfer und Erlöser. Der uns „nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, männlich und weiblich“ (Gen 1,27), der hat uns auch von Ewigkeit her im „Voraus (zu unserer historischen Existenz in der Zeit und als deren Grund im Sein Gottes) dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter seinen Brüdern sei.“ (Röm 8,29).
Schöpfung bedeutet im christlichen Sinn die Einsicht, dass alles, was ist, geworden ist durch den Logos, das Wort, durch das Gott sich ausspricht und in dem sich seine unendliche Vernunft im Sinngrund alles Seienden im Wesen der Dinge offenbart. Die Naturwissenschaften beschränken sich in ihren möglichen Einsichten auf die Strukturen und Funktionen der materiellen Welt, können aber nicht die Erkenntnis in Abrede stellen oder eintrüben, dass die Welt in der Vernunft des Menschen zu sich selbst kommt und sich notwendig transzendiert in die Wahrnehmung der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes in seiner ewigen Macht und Gottheit (vgl. Röm 1,20). Die Kenntnisse, die aus dem Fortschritt der empirischen und transzendentalen Anthropologien, also der Natur- und Geschichtswissenschaften, der Philosophie und Theologie resultieren, können die Wahrheit des Geschaffen-Seins des Menschen nach Gottes Bild und Gleichnis und die Einheit seines Persons-Seins in Leib und Seele niemals in Frage stellen. Aber sie können das Geheimnis des Menschen in seiner ganzen Tiefe ein wenig mehr zum Leuchten bringen. Letztlich „klärt sich das Geheimnis des Menschen nur auf im Geheimnis des Fleisch gewordenen Wortes“ (Gaudium et spes 22).
So ergibt sich als erster und ursprünglicher Hauptsatz der christlichen Anthropologie die natürliche und geoffenbarte Wahrheit, die jeden nihilistischen Anflug und auch anmaßendes Selbstschöpfertum vertreibt, so wie die aufgehende Sonne die Schatten der Nacht und den Nebel am Morgen verschwinden lässt: „Der Mensch ist die einzige um ihrer selbst willen von Gott gewollte Kreatur, der sich nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann“ (Gaudium et spes 24). Der Mensch findet sich in der Liebe zu Gott über alles und in der Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst.
Die Vernunft Gottes in der Schöpfung und Heilsgeschichte ist unüberbietbar. Sie hält nicht die endliche Vernunft der Geschöpfe nieder, sondern erhellt sie wie ein unauslöschliches Licht. „Das Licht aber, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt“ (Joh 1,9). Der Sohn des Vaters ist das Licht der Welt. Denn Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12). Er ist das Wort, das Fleisch geworden ist, der Logos Gottes, seines Vaters, aus dem der Sohn von Ewigkeit her gleichwesentlich hervorgeht. Er offenbart uns die Idee Gottes von uns, die sich in unserer leiblichen und sozialen Natur darstellt, wenn er die vernünftelnden Fallensteller und Sophisten aller Zeiten fragt: „Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie im Anfang männlich und weiblich erschaffen hat“, um darin das Geheimnis der Ehe zu offenbaren: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die Zwei werden ein Fleisch sein.“ (Mt 19,4). Es gibt keine deutlichere Antwort auf die Lüge einer Wahl des Geschlechts nach Belieben oder auf die Theorie von homophilem Verhalten als einer Schöpfungsvariante oder auf die blasphemische Erschleichung des göttlichen Segens für die Farce eines Ehe-Spielens von Personen gleichen Geschlechtes.
Die Rede Nietzsches vom Tod Gottes ist sogar in manchen Teilen der Kirche angekommen. Auch manche Katholiken vertrauen nicht mehr auf Gott. Sie meinen, sie müssten der Kirche ein modernes Outfit verpassen, weil die Kirche Christ heutigen Anforderungen nicht mehr genüge. Der anthropologische Nihilismus ist angekommen als ein ekklesiologischer Nihilismus. Wir vertrauen nicht auf den lebendigen Gott, der selbst sein Haus, den Leib Christi und den Tempel des Heiligen Geistes erbaut. Wir entkernen das Haus Gottes und bauen es total neu auf nach unseren Plänen.
Die entsprechende Agenda des Deutschen National-Synodalismus der Deutschen Bischofskonferenz/DBK und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken/ZdK beruht nicht nur auf einem Missverständnis in einzelnen natürlichen und der geoffenbarten Wahrheiten, sondern quillt auf wie der durchgeweichte Pappkarton des theologischen und anthropologischen Nihilismus. Wer Gott tot schweigt, der vergisst auch den Menschen. Wer nicht laut von den Dächern die Wahrheit Christi herunterschreit, der leugnet die historisch-einmalige und unüberbietbare Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Kirche bedarf keiner Reform wie eine jede andere von Menschen geschaffene Organisation. Sie ist Gottes Werk und damit übernatürlich in ihrem Ursprung und Wesen und ihrer Sendung. Sie wird durch unsere Modernisierungsversuche nur verdorben oder zurückgeworfen in den alten Äon. Das ist das urkirchliche Credo, das für alle Zeiten gilt: „Jesus Christus ist derselbe, gestern und heute und in Ewigkeit.“ (Hebr 13,8). Er macht seine Kirche selbst heilig und erneuert sie in seinem Geist. „Christus hat die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben, um sie zu heiligen, da er sie gereinigt hat durch das Wasserbad im Wort. So will er die Kirche herrlich vor sich hinstellen, ohne Flecken oder andere Fehler, heilig soll sie sein und makellos.“ (Eph 5, 18f).
Niemand kann die Lehre Christi modernisieren, „denn er selbst hat (bei seiner Menschwerdung) alle Neuheit/Modernität mit sich gebracht, um den Menschen zu erneuern und zu beleben.“ So sagte es der kürzlich von Papst Franziskus zum Kirchenlehrer erklärte Irenäus von Lyon gegen die Gnostiker und Manichäer seiner Zeit am Ende des 2. christlichen Jahrhunderts. 9
Weder das Lehramt noch die Kirche insgesamt können etwas lehren, was über das Wort Gottes hinausgeht, es verbessern oder uminterpretieren will (Dei verbum 10). Papst und Bischöfe empfangen bei aller Autorität, den Glauben zu bewahren und treu auszulegen, in keinem Fall „eine neue öffentliche Offenbarung als Teil der göttlichen Glaubenshinterlage/depositum fidei“ (Lumen gentium 25).
Den Glaubenssinn des gesamten Gottesvolkes legen die Texte der Frankfurter Synodalen völlig sinnwidrig aus, wenn sie ihn als Filter verstehen, durch die eine zufällige Sitzungs-Mehrheit alte Irrlehren als neue Erleuchtungen durch den Heiligen Geist durchrinnen lässt. Dem ahnungslosen Publikum verkauft man das als „Demokratisierung“ der Kirche. In Wirklichkeit geht es hier unter dem Vorwand der Modernisierung um die Umwandlung der Kirche Gottes in eine politische Organisation nach dem eigenen Bild und Gleichnis, in der Menschen Macht verteilen oder um sie kämpfen. Die Berufung auf den Glaubenssinn der Laien als demokratische Legitimation zur Umwandlung der Kirche in eine weltliche Organisation geht am Sinn der Glaubenswahrheit vom „Glaubenssinn der Gläubigen“ vorbei. Es geht vielmehr um den übernatürlichen Sinn des gesamten Gottesvolkes (und keineswegs der Laien im Gegensatz zu den Bischöfen), in dem sich die Unfehlbarkeit der Kirche in der Erkenntnis und Bewahrung der ein für allemal in Christus ergangenen Offenbarung Gottes ausdrückt. „Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und genährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes empfängt, den einmal den Heiligen übergebenen Glauben unverlierbar fest: Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben an.“ (Lumen gentium 12). Der übernatürliche Glaubenssinn ist also alles andere als ein Freifahrtschein für die Selbstsäkularisierung oder Politisierung der Kirche.
Das wahre Problem, dessen Ausdruck der anthropologische Nihilismus mit seinem destruktiven Potential ist, besteht darin, dass sogar Bischöfe nicht mehr an die Tatsache der geschichtlich einmaligen und unüberholbaren Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus glauben. Schöpfung, Alter und Neuer Bund, Inkarnation, der Kreuzestod Jesu als sein Opfer für die Versöhnung der Menschen mit Gott, seine und unsere leibliche Auferstehung von den Toten gelten ihnen nur als beliebig austauschbare Symbole und Interpretamente von mythischer und poetischer Qualität.
Wenn aber das Christentum nur eine Sammlung von disparaten Ansichten über das unerkennbar Göttliche wäre, das sich über unserer theoretischen Weltdeutung und praktischen Kontingenzbewältigung diffus ausbreitet, dann lohnte es sich wahrhaftig nicht für die Wahrheit Christi zu kämpfen und zu leiden. „Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns (wie die Heiden) essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“ (1 Kor 15, 32). Wenn es nicht um die Vertiefung des subjektiven Glaubens und der persönlichen Nachfolge Christi geht in der Orientierung an der objektiven Realität der Offenbarung in der Person Jesu Christi in seiner gott-menschlichen Wirklichkeit, dann werden aus den vorgeblichen Kirchen-Reformern fatale Kirchen-Ruinierer. Der Nihilismus, „das Gefühl der neuen Zeit“, dass „Gott selbst tot ist“ 10, wird nur dann nicht zum Gefühl führen, dass es folglich auch nichts mit Menschen auf sich habe und alles erlaubt sei, was gefällt, wenn wir an unendliche und menschenfreundliche Vernunft Gottes glauben vor, über und in allen Werken in Schöpfung und Heilsgeschichte.
Das Geheimnis des Menschen klärt sich nur auf im Gott-menschlichen Geheimnis Christi. Die Welt kommt im Menschen zu sich selbst. In seinem Geist und in seiner Freiheit überschreitet er sich auf Gott. Er erkennt Gott als Ursprung, Mitte und Ziel der ganzen Schöpfung. Gott spricht den Menschen an in seinem Wort, das in seinem Sohn Fleisch geworden ist. Der Sohn Gottes offenbart sich selbst als das Geheimnis des Menschen, der ohne Christus sich selbst ein Rätsel bleiben müsste. Jesus offenbart das Geheimnis seiner Person und Sendung vom Vater, indem er zu seinen Jüngern sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6)
Das II. Vatikanum geht davon aus, dass in der heutigen Weltentwicklung die Zahl derjenigen steigt, die sich mit großer Dringlichkeit die Grundfragen stellen:
„Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes – alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen Leben?“ (Gaudium et spes 10).
Und das ist die Antwort Gottes, die den Horizont unserer existentiellen Fragen noch übersteigt:
„Die Kirche aber glaubt: Christus, der für alle starb und auferstand, schenkt dem Menschen Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung nachkommen kann; es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem sie gerettet werden sollen. Sie glaubt ferner, dass in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben ist. Die Kirche bekennt überdies, dass allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit. Im Licht Christi also, des Bildes des unsichtbaren Gottes, des Erstgeborenen vor aller Schöpfung, will das Konzil [das die ganz Kirche repräsentiert] alle Menschen ansprechen, um das Geheimnis des Menschen zu erhellen und mitzuwirken dabei, dass für die dringlichsten Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird.“ (Gaudium et spes 10).
Archivfoto Kardinal Müller (c) Bistum Regensburg
Fußnoten:
1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, IV 2.
2 Friedrich Nietzsche, Wille zur Macht, zit. bei Hasso Hofmann, Nietzsche, S. 339, in: Klassiker des politischen Denkens II: Von Locke bis Max Weber, hrsg. v. H. Maier u.a., München 21969, S. 320-343.
3 Götzen-Dämmerung. Die Verbesserer der Menschheit 4.
4 Heidegger Gesamtausgabe Bd. 9: Wegmarken, S. 233.
5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1887: Sämtliche Werke, Bd. 12, S. 213.
6 Augustinus, Confessiones, I 1,1.
7 Vgl. Klaus Schwab, Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016; Yuval Noah Harari, Homo deus: eine Geschichte von Morgen, München 22018.
8 M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 201.
9 Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien, IV 34, 1.
10 Vgl. G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, Hamburg 1962 (PhB 62b), S. 123.
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