Vom edlen Wein im gesprungenen Glas

6. Dezember 2022 in Kommentar


„Was, wenn die Kirche kein Gespür mehr für ihren spirituellen Schatz Jesus Christus hat, sondern ihr gebrochenes Glas mit dem Allerwelts-Zuckerwasser von Tempolimit, Gender … füllen möchte?“ Gastkommentar des evangelischen Pfarrers Achijah Zorn


Köln (kath.net) Eine Feier nach letzter Prüfung an der Uni. Die Stimmung ist ausgelassen. Auch der Onkel vom neuen „Master-Meister“ ist da. Er hat zur Feier des Tages einen edlen Tropfen Wein mitgebracht. Ich bekomme das letzte Weinglas. Es hat einen Sprung; und oben eine Kerbe im Rand. Doch das macht mir nichts; ich bin da nicht so pingelig. Ich will auch feierlich mitanstoßen. Und das Glas erfüllt noch seinen Zweck.

Das erinnert mich an meine Kirche. Sie ist wie das alte Weinglas, das von manchen Rissen und Kerben gezeichnet ist:

Ist das alte gebrochene Weinglas Kirche noch brauchbar, den kostbaren Inhalt von Jesus Christus weiterzugeben? Die Adventszeit steht für die „Ankunft“ der frohen Botschaft: Die Welt ginge verloren ohne die Hoffnung, ohne die Vergebung, ohne den Trost, ohne die Geborgenheit, die Christus schenkt als ausgestreckte Hand Gottes zu den Menschen.

Doch hat die Kirche mittlerweile so viele und große Risse bekommen, dass sie diesen edlen Tropfen nicht mehr ausschenken kann?

Der Missbrauchsskandal ist in seiner Fülle und in jedem Einzelfall unerträglich. Kranke und kriminelle Täter sind oft genug von der Kircheninstitution gedeckt und damit in ihren Schandtaten gefördert worden.

Doch zumindest hat die Kirche diesen Riss erkannt. Und sie versucht, diesen Riss abzudichten. Kirche bittet um Vergebung. Opfer werden entschädigt, hoffentlich großzügig genug. Tausende ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiter werden psychologisch präventiv geschult. Vieles bleibt menschlich-allzumenschlich.

Und doch ist dieser Weg der offenen Schuldaufarbeitung ein verheißungsvoller Weg.
Kann der Riss der Missbrauchsskandale beseitigt werden? Nein. Niemals. Aber er kann hoffentlich so gekittet werden, dass an dieser Stelle der heilsame edle Wein Jesus Christus nicht verlorengeht und vielleicht sogar mit seiner erneuernden Kraft gerade in diesen tiefen Wunden wirksam werden kann.

Was aber, wenn es Risse im Weinglas gibt, die die Kirche gar nicht als solche erkennt? Auf der Frühjahrs-Landessynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland stellt ein Synodaler einen Antrag. Er wollte, dass der alte Synodenbeschluss „Impfen ist Nächstenliebe“ neu überdacht wird. Logisch: Impfen ist eine medizinische Maßnahme, die zwischen Arzt und Patient individuell abgewogen werden muss; Impfen sollte darum nicht auf kirchlichen Synoden in medizinischer Anmaßung als quasireligiöser Akt hochgejazzt werden. Doch der Synodale hatte mit seinem Rücknahme-Antrag keine Chance: Er wurde abgeschmettert nach dem Motto, es lohne sich nicht, mit Leuten zu sprechen, die die Erde für eine Scheibe hielten. Ende der Diskussion.

So werden Risse und Spannungen im Kirchenglas größer. Nichtwahrhabenwollen von eigenen Fehlentscheidungen ist selten eine heilsame Strategie.

Was ist mit Kirche, wenn sie die Risse in ihrem Glas verleugnet? Und wenn sie darüber hinaus kein Gespür mehr für ihren spirituellen Schatz Jesus Christus hat, sondern ihr gebrochenes Glas mit dem Allerwelts-Zuckerwasser von Tempolimit, Gender-Sprachverhunzung und No-Border-Illusion füllen möchte?

Ich gebe auf diese Frage folgende persönliche Antwort:

Die Bibel weiß um einen Riss, der durch alles auf dieser Welt geht; auch durch die Kirche. Darum erwarte ich von mir, von meinen Mitmenschen und auch von der Kirche keine Fehlerlosigkeit. Das ist befreiend und macht mich gelassener im Umgang mit Schwächen und Schuld.

Allerdings erwarte ich von der Kirche, dass sie in all ihrer Schuld und Fehlerhaftigkeit ein Zeigefinger auf ihren spirituellen Schatz ist: „Denn in Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Paulus im Kolosserbrief 2,9).

Ob die Risse im Weinglas Kirche mittlerweile schon so stark sind, dass das Glas für den edlen Tropfen unbrauchbar geworden ist, das muss jeder Christ selber aufgrund seiner Erfahrungen und in Verantwortung vor Gott entscheiden.  

In allem trägt mich ein festes Gottvertrauen: Gott wird immer wieder neue Wege finden, dass die frohe Botschaft auf Erden ankommt („Advent“). Und wenn die Amtskirchen an dieser Aufgabe versagen sollten, dann wird Gott Steine, Berge, Täler oder sogar das Internet befähigen, auf ihn hinzuweisen.

„O Heiland, reiß die Himmel auf.
Herab, herab vom Himmel lauf,
reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
reiß ab, wo Schloß und Riegel für.

O Gott, ein Tau vom Himmel gieß,
im Tau herab vom Himmel fließ.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus,
den König über Jakobs Haus.

O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd.
Dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, hervor dies Blümlein bring,
o Heiland aus der Erden spring.“

(Adventslied von Friedrich Spee, 1622; Friedrich Spee ist auch bekannt durch seine Schrift „Buch über die Prozesse gegen Hexen“ 1631, mit der er den damaligen gesellschaftlich-kirchlichen Zeitgeistwahn der Hexenverfolgungen ad absurdum führte.)


© 2022 www.kath.net