6. Jänner 2023 in Kommentar
Zuletzt bezeichnete Franziskus den von verschiedenen Seite so gescholtenen deutschen Papst gar bereits als „Heiligen“. Die Lehre dieses Großen sei unverzichtbar für die Zukunft der Kirche - Ein Nachruf von Peter Seewald
Rom (kath.net) An den Rollstuhl gefesselt war er schon lange. Und wenn er bei gegenüber einem Gast zwei Sätze herausgebracht hatte, musste er abhusten, um seine Lunge zu entlasten. Der Geist war hellwach bis zuletzt. Bei unserem letzten Treffen am 15. Oktober jedoch war vor allem das Leid zu spüren, das er trug. Still, ohne jede Klage. Er habe noch aushalten müssen, hatte er mir gesagt, als ein „Zeichen“; ein Zeichen für den Kurs, für den er stand, für die Botschaft Jesu, dessen unverfälschter Weitergabe er sich zeitlebens gewidmet hatte. Die Entfremdung des Menschen von seinem Schöpfer sei das Hauptproblem der Gegenwart. Die Menschen einer Zeit der Gottesferne müssten wieder mit Jesus Christus bekannt gemacht werden; mit seiner Gnade, seiner Barmherzigkeit, aber mit seinen Mahnungen. Benedikt XVI. war der Papst, der nicht sterben konnte. Nicht in seinem Amt, und auch nicht danach. Schon die Berufung zum Bischof von München war gegen seinen Willen. Er sei doch gesundheitlich viel zu schwach für diese Aufgabe. Als Präfekt der Glaubenskongregation bat er drei Mal um seinen Rücktritt. Als er nach dem Tod von Johannes Paul II. endlich in den Ruhestand treten wollte, wählte ihn das Konklave als ersten Deutschen seit einem halben Jahrtausend zum Oberhaupt der größten Religionsgemeinschaft der Welt. Joseph Ratzinger, der Sohn einfacher Leute aus der bayerischen Provinz, schrieb eine Jahrhundertbiografie. Es gibt keinen zeitgenössischen Deutschen, der ihm an Bedeutung gleichkäme. Nicht von ungefähr zählt ihn der britische Historiker Peter Watson zu den „Genies“ der Deutschen, gleich neben Giganten wie Beethoven, Hölderlin und Kant. Neben Karol Wojtyla wurde freilich auch kein anderer Kirchenführer härter angegriffen wie der Mann aus Bayern. Manchmal zurecht. Meist zu unrecht. Sobald die Rede auf Ratzinger komme, merkte der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy an, beherrschten „Vorurteile, Unaufrichtigkeit und sogar die glatte Desinformation jede Diskussion“. Zweifellos kann man von Benedikt XVI. nicht nur als von einem exzellenten Gelehrten und einem der bedeutendsten Denker unserer Zeit sprechen. Gleichfalls schieden sich an ihm die Geister. Für seine Gegner war er die Personifizierung eines rückschrittlichen Kurses der Kirche, für die anderen die Ikone der Rechtgläubigkeit, an der man sich orientierten konnte. Bereits an der Universität bestand der Theologe darauf, dass die biblische Grundlage nicht zur Disposition gestellt werden dürften. Das Wort Gottes, wie es das Evangelium überliefere, sei zwar interpretierbar und enthülle immer neue Geheimnisse. Der Grundgehalt jedoch sei nicht verhandlungsfähig. Er selbst argumentiert, die Botschaft Christi sei viel zu sperrig, um rundum auf Gegenliebe zu stoßen, erst recht in einer säkularisierten Welt, die schon gar nicht mehr weiß, wovon gesprochen wird, wenn vom katholischen Glauben die Rede ist. Nicht irgendwelche strukturelle Fragen standen für ihn im Vordergrund, sondern das, wofür Christus seine Kirche gedacht und geschaffen hat. Dabei verkörperte er eine neue Intelligenz im Erkennen und Aussagen der Geheimnisse des Glaubens und verteidigte zugleich die Frömmigkeit des einfachen Volkes gegen die kalte Religion der Professoren. Geschichte schrieb Ratzinger bereits als Berater des Konzils. Ohne sein Einwirken, seinen Mut, gegen den Strich zu bürsten, seine Vorgaben zur Erneuerung der Kirche hätte es das Zweite Vatikanum nie gegeben. Als Hüter des Glaubens trug er an der Seite Johannes Paul II. ein Vierteljahrhundert lang dafür Sorge, dass das Schiff Kirche im Sturm der Zeit auf Kurs blieb. Seine konsequente Linie trugen ihm Schimpfworte wie „Großinquisitor“ und „Panzerkardinal“ ein. Der Verzicht auf Anerkennung durch die Leitmedien sah er als Preis für seine Widerständigkeit. Als Papst war es eine der größten Sorgen Benedikts, dass die Entfremdung des Menschen von seinem Schöpfer weiter zunimmt. Wenn Gott wegfällt, ein Gott, der uns kennt und uns anredet, warnte er, verliere die Gesellschaft die Grundlagen eines zivilisierten Daseins. Die Aufgabe der Kirche hatte er dabei mit einem Wort illustriert, das Teresa von Ávila zugeschrieben wird: „Wir sind die Augen, mit denen Sein Mitleid auf die Notleidenden schaut; wir sind die Hände, die Er zum Segnen und Heilen ausstreckt; und wir sind die Lippen, die Sein Evangelium verkünden.“ Niemals zuvor wurde das Wort eines Papstes von so vielen Menschen zeitgleich rund um den Globus vernommen. Papst-Reden beschäftigen die Titelseiten der Weltpresse. Allein in seinem ersten Amtsjahr konnte Benedikt fast vier Millionen Menschen um sich scharen – mehr als jeder seiner Vorgänger im vergleichbaren Zeitraum. Papst-Bücher stürmten überall die Bestsellerlisten und lösten gewissermaßen den größten Glaubens-Crashkurs aller Zeiten aus. Es war kein Strohfeuer. Erstmals in der Geschichte konnte die Enzyklika eines Papstes Millionen Mal verkauft werden, ein bislang unvorstellbarer Vorgang. Zugute kam dem früheren Professor, dass er nicht nur eine bestimmte Klientel ansprach, sondern sowohl Intellektuelle als auch die einfachen Gläubigen erreichen konnte. Benedikt überzeugte nicht nur mit Urteilskraft, sondern durch die Authentizität eines Lebens, das ganz auf die Nachfolge Christi ausgerichtet war. Er konnte nicht anders leben, als wie er lehrte. Er war ein Unbequemer. Einer, der nicht nach dem Zeitgeist und nicht nach Beifall schielte. Wobei sein Image bereits ab dem Zeitpunkt litt, als er sich nach Ende des Vatikanums vehement gegen die Umdeutung der Reformbeschlüsse des Konzils wandte und es bis zuletzt als seine Aufgabe sah, für das authentische, das wahre Konzil zu kämpfen, gegen eine Interpretation, die die Väter nie und nimmer gewollt hatten. Fest steht: Eine Persönlichkeit wie ihn, geprägt von der atheistischen Diktatur der Nazizeit, wo es galt, seine Überzeugung möglicherweise mit dem Leben zu bezahlen, so einen hohen Geist, umfassend gebildet, von noblem Charakter, einen Menschenfreund, der über die Liebe Gottes sprach, wird es nicht mehr geben. Mit seinen Beiträgen zum Konzil, der Wiederentdeckung der Väter, der Verlebendigung der Lehre war er ein Erneuerer aus den Wurzeln des Glaubens heraus. Nicht von ungefähr gilt er deshalb längst als der Kirchenlehrer der Moderne schlechthin. Zuletzt hatte er mit seinem historischen Akt der Demission das Petrusamt grundlegend verändert und ihm jene geistliche Dimension zurückgegeben, mit dem es im Ursprung beauftragt war. „Das Neue ist noch nicht ganz da“, pflegte er zu sagen, aber das Alte ist vergangen. Er selbst sah sich als den letzten Papst einer untergehenden Epoche, und zugleich als jemand, der eine Brücke baute und Hilfen gab für das Kommen des Neuen – wie immer es auch aussehen mag. Und wer weiß, vielleicht musste er, trotz seiner kaum fassbaren Gebrechen, die viel weiter gingen, als es die Öffentlichkeit wusste, so lange am Leben bleiben, um seiner Kirche seine Prophetie von 1958 in Erinnerung zu rufen, sie werde klein werden, werde viel von ihrer Macht abgeben und zu einem Häuflein von Bekennenden werden müssen – aber dafür würden ihr auch wieder jene Kräfte zuwachsen, die es vermögen, die Kirche Christi in eine neue Zeit zu führen. Kirche und Glauben lassen sich nicht selber machen. Wenn es Gott gibt, wenn es eine Offenbarung gibt, wenn es die Stiftung Jesu gibt, dann kommt das nicht von uns, sondern ist gegeben. Es ist die Grundaxiom des Glaubens, alles andere bliebe im Selbst stecken, ohne die Hinwendung an jene höhere Ebene, von der wie von einer Sonne das wahre Licht in die Welt kommt. Joseph Ratzinger war eben nicht nur ein radikal Denkender, sondern auch ein radikal Glaubender, der sich von Amt und Würden nie manipulieren ließ. Sein Drama war, sich entgegenstemmen zu müssen, zu retten, was in Gefahr stand, verloren zu gehen. Und zurückzuholen, was scheinbar schon verloren war in den Fluten der Zerstörung. Nicht um das, was die Moden der Zeit und was die Medien wollen, ging es ihm, sondern um das, was Gott will. Man hat Ratzinger zuletzt vorgehalten, er habe gegenüber dem sexuellen Missbrauch in der Kirche vertuscht und verheimlicht. Tatsache ist, dass es Versäumnisse und Fehler gab, die er offen einräumte. Als Präfekt der Glaubenskongregation traf er allerdings auch früh Maßnahmen, um konsequent aufzuklären, die Täter zu bestrafen, den Opfern gegenüber Sühne zu leisten. Unvergesslich seine Mahnung beim Kreuzweg des Karfreitags 2005: Wieviel Schmutz gebe es in der Kirche, und gerade auch bei Priestern. Als Papst verschärfte er die entsprechenden Gesetze, entließ rund 400 Priester aus dem Dienst und definierte die kirchenrechtlichen Grundlagen, um auch Bischöfe und Kardinäle zu belangen. Der italienische Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi gab zu Protokoll, Benedikt habe „den Mantel des Schweigens weggezogen und seine Kirche gezwungen, den Blick auf die Opfer zu richten“. Die Geschichte wird darüber urteilen, welche Bedeutung Benedikt XVI. in diesem Jahrhundert zukommt. Benedikt XVI., so fasste sein Nachfolger zusammen, sei „ein großer Papst“ gewesen: „Groß ob der Kraft des Durchdringungsvermögens seiner Intelligenz, groß ob seines bedeutenden Beitrags zu Theologie, groß ob seiner Liebe gegenüber der Kirche und den Menschen“. Zuletzt bezeichnete Franziskus den von verschiedenen Seite so gescholtenen deutschen Papst gar bereits als „Heiligen“. Die Lehre dieses Großen sei unverzichtbar für die Zukunft der Kirche. Sein Geist, so Bergoglio, „wird von Generation zu Generation immer größer und mächtiger in Erscheinung treten“. Der große englische Essayist G.K. Chesterton schrieb über die Heiligen, sie seien ein Heilmittel, weil sie ein Gegengift seien. Sie erneuerten und heilten die Welt dadurch, dass sie ganz besonders in sich verkörperten, was die Welt vernachlässigt hat. So ein Mann war Benedikt XVI.
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