4. Jänner 2023 in Kommentar
„Es schwingt auch so etwas wie Freude mit, noch einmal eines großen Theologen und Papstes ansichtig werden zu können. Aber es ist eine Freude der Tiefe des Herzens“. Von Martin Lohmann
Vatikan-Bonn (kath.net/ml) Er kannte und begleitete ihn seit mehr als einem halben Jahrhundert: Für Martin Lohmann war und ist Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. ein im Vertrauen zueinander verankerter Vater Benedikt. Wir haben den Theologen, Historiker und Publizisten gebeten, seine römischen Eindrücke ganz persönlich zu beschreiben.
Rom ist anders. Jedenfalls jetzt. Vor allem rund um den Petersdom herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Die Menschen, die aus aller Welt auf den Petersplatz strömen und sich in eine lange Schlange in die Basilika stellen, haben vielfach konzentrierte Gesichter. Nachdenklichkeit liegt in der Luft. Und eine eigenartige Mischung aus Trauer, Dankbarkeit und Segensfreude. Keine Bedrückung. Vielmehr schwingt auch so etwas wie Freude mit, noch einmal eines großen Theologen und Papstes ansichtig werden zu können. Aber es ist eine Freude der Tiefe des Herzens, nichts Oberflächliches. Gewiß, es gibt auch Neugierde.
Denn das Defilee vorbei an einem aufgebahrten Petrusnachfolger vermittelt schon etwas Einzigartiges. Und irgendwie scheint es alle im Herzen zu berühren. Denn da liegt der Leichnam eines Menschen, der ein Leben lang die im Vertrauen auf den Gottessohn Jesus Christus und die durch ihn geoffenbarte Wahrheit suchte, fand und weiterreichte. Mit Herz und Liebenswürdigkeit. Mit einer Sprache, die verständlich war und den lichtvollen Horizont in einer häufig dunkel erscheinenden Welt öffnete. Viele bekreuzigen sich, wenn sie „vorne“ angekommen sind.
Es scheint Stoßgebete und Fürbitten zu geben. Selbst als Toter strahlt der Apostelnachfolger und Kirchenlehrer noch eine „persönliche“ Botschaft zu haben. Die Friedensaura des Joseph Ratzinger, der die Weltkirche als Benedikt XVI. Von 2005 bis 2013 treuhänderisch regierte, scheint sagen zu wollen: Was ich gesucht und woran ich geglaubt habe, wonach ich mich ein Leben lang sehnte, das darf ich nun schauen: Gott. Manche möchten ihn gar sagen hören: Das könnt Ihr auch irgendwann.
Seine so einfachen und doch in der Glaubenswahrheit fest verankerten Worte aus dem Jahre 2005, zu Beginn seines Pontifikats, fliegen wie automatisch in diesen Tagen in die Erinnerung: „Und erst wo Gott gesehen wird, beginnt das Leben richtig. Erst wo wir dem lebendigen Gott in Christus begegnen, lernen wir, was Leben ist. Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedanken Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht. Es gibt nichts Schöneres, als vom Evangelium, von Christus gefunden zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als ihn zu kennen und anderen die Freundschaft mit ihm zu schenken.“
Wie ist das, wenn man neben dem Aufgebahrten kniet und betet? Was geht einem durch den Kopf? Oder durchs Herz? Der Blick auf die Hände und das Gesicht zeigt, dass aus dem körperlich Schwachen ein stark Ruhender geworden ist. Der Rosenkranz in den Händen erscheint wie eine alte Verbindung zur Gottesmutter, die der 1927 in Marktl am Inn geborene Joseph Aloisius Ratzinger so innig verehrte, der er sich nicht zuletzt in Altötting so kindlich anvertraute. Der Rosenkranz ist die Verbindungsschnur zur Mutter, die der Herr vom Kreuz aus jedem schenkte, der die Kostbarkeit dieser Gabe zu verstehen erahnt.
Der Blick will nicht weichen von dem erstarrten Gesicht, dessen Wesensfülle längst nicht mehr in dieser Welt ist. Und doch baut sich im Aufleuchten früherer Begegnungen eine sensible Verbindung auf, in der Gespräche und Texte aufleuchten, die eine zärtliche Weite erkennbar und greifbar machten. Dankbarkeit und Trauer mischen sich, Freude und Schmerz bilden eine harmonische Symbiose. Die lange weiße Mitra auf dem Haupt und das rote Messgewand verweisen auf ein himmelverbundenes Lehramt und das Martyrium des Opfers. Die vor kurzem noch selbstverständlichen Gebete für ihn wandeln sich wie selbstverständlich zu Gebeten zu ihm. Da liegt die sterbliche Hülle eines starken Fürsprechers, von dem man sich vorstellen möchte, wie er in der Ewigkeit freudig empfangen wurde. Von der Gottesmutter über Joseph, seinen Namenspatron, Augustinus bis hin zu Johannes Paul, mit dem er irgendwie ein reich gefülltes Doppelpontifikat zweier Glaubensgiganten führte. Der eine gestenreich und furchtlos wortstark, der andere leise und ebenso wirksam stark und klar.
Nicht zu vergessen der Herr selbst, auf den Ratzinger unbeirrt und treu setzte und den er mit seinen Büchern neu und lichtvoll für die Menschen heutiger Zeit zu erschließen verstand. Ja, trotz oder wegen dieses Leichnams vor der Confessio mit dem Petrusgrab, hier tastet sich Vollendung in Herz und Seele derer, die ins Gebet versinken. Vollendung eines Großen, der durch und durch bescheiden und demütig war und bleib. Dessen Geistesgröße es ihm verbat, auf andere herabzuschauen, der es nicht nötig hatte, auf Kosten anderer zu sein. Vollendung eines Wegweisers, der selbst den Weg ging, den er aufzuzeigen vermochte. Auch wenn sich da beim Einbalsamierten nichts bewegt, so hat man doch seine letzten Worte, die überliefert wurden: "Signore ti amo" ("Herr, ich liebe dich“). Auch in dieser Liebe bleibt er ein Vorbild - und eine Ermutigung zur Freiheit.
Vater Benedikt, bitte für uns.
Deo gratias.
Foto (c) LohmannMedia
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