14. Jänner 2023 in Kommentar
Impressionen von den Exequien für Papst Benedikt XVI. - Von Michael Hesemann.
Vatikan (kath.net)
Es ist kalt an diesem Morgen, bitterkalt. Und das, obwohl die ersten Januartage des Jahres 2023 in Rom eher mild waren, am Vortag sogar die Sonne schien. Doch jetzt hatte sich eine Nebeldecke über die Ewige Stadt gelegt wie eine Wolke, die vom Himmel hinabgestiegen ist und uns alle in sich aufnahm, die wir, noch im Schutze der Dunkelheit, nur ein einziges Ziel kannten: Den Petersplatz, um Abschied zu nehmen von dem letzten Giganten des Christlichen Abendlandes, dem letzten Großen des 20. Jahrhunderts nach dem Tod von Michail Gorbatschow und Queen Elizabeth II. im Spätsommer. Ausgerechnet am letzten Tag des Jahres, zu Silvester, verstummte seine schwach gewordene Stimme für immer, erlosch das Licht seiner Weisheit, kehrte seine unsterbliche Seele zu ihrem Schöpfer zurück, wo er endlich dem begegnen konnte, den er sein Leben lang gesucht hatte.
Benedikt XVI. war tot. Knapp zehn Jahre nach seinem überraschenden Rücktritt im Februar 2013, zehn Jahre, die er zurückgezogen im Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen Gärten verbracht hatte, um, wie es sein treuer Sekretär Georg Gänswein einmal beschrieb, wie eine Kerze langsam zu verlöschen, hatte er diese Welt für immer verlassen, um ins Haus des Vaters einzuziehen. Am 1. Januar war sein Leichnam in der Hauskapelle seines Klosters aufgebahrt worden, am 2. Januar überführte man ihn in den Petersdom, wo sein Katafalk drei Tage lang vor dem Papstaltar und dem Grab des heiligen Petrus stand.
Rund 200.000 Gläubige standen in diesen Tagen oft stundenlang in einer endlos erscheinenden Warteschlange, um für ein paar Sekunden Abschied zu nehmen, bevor die Ordnungskräfte sie zum Weitergehen aufforderten. Nur wenige Privilegierte, meist Kirchenmänner, Politiker und enge Vertraute, hatten das Glück, in eine der Stuhlreihen zu seiner Linken oder Rechten gelassen zu werden, wo man beten für und stille Zwiesprache mit dem Verstorbenen halten konnte.
Auch ich war an diesem Montag nach Rom aufgebrochen, wo ich am Dienstagabend, nach fünfzehnstündiger, durch eine Nacht in Mailand unterbrochener Autofahrt endlich eintraf. So hatte ich den Mittwoch ganz dem stillen Abschied vorbehalten, lediglich unterbrochen durch eine Messe im Campo Santo, dem deutschen Friedhof auf dem Vatikangebiet. Sie zelebrierten zwei Bischöfe seiner bayerischen Heimat, Rudolf Voderholzer (Regensburg) und Stefan Oster (Passau), vor hunderten Pilgern aus ihren Diözesen und man ahnte, wiewohl sich Benedikt XVI. in ihrer Mitte gefühlt hätte. Bayern, das war für den Mann aus Marktl am Inn immer der irdische Widerschein des Paradieses, ein von Gott besonders gesegnetes Fleckchen Erde, das ihn an die Unbeschwertheit seiner Kindheit in einem einfachen, aber liebevollen Elternhaus erinnerte. Nur der Himmel, davon war er überzeugt, konnte noch schöner sein.
Noch einmal kehrte ich danach in den Petersdom zurück, um ihn zum letzten Mal auf Erden zu sehen. Erst vor drei Wochen hatte ich ihn in seinem Klösterchen besucht, das Glück gehabt, eine Stunde mit ihm zu verbringen, seinen mit schwacher Stimme eher gehauchten, aber klugen Antworten gelauscht, auf die, was mich alarmierte, stets ein hüstelndes Röcheln folgte. So klar sein Geist war – er konnte sich etwa noch bestens erinnern an ein Streitgespräch des im Oktober verstorbenen Paters Peter Gumpel mit Hans Küng auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor 60 Jahren – so erschöpft, ja verbraucht wirkte sein fragiler Körper.
Seine Haut wirkte fast durchscheinend, seine Hände, die ich zum Ringkuss ergriff, fühlten sich kalt und schwach an. Ich fühlte tiefste Dankbarkeit, aber auch unendliche Traurigkeit, denn ich wusste, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. So dankte ich ihm noch einmal für die Jahre der Inspiration und für alles, was ich ihm zu verdanken habe, denn ohne ihn wäre ich nie der geworden, der ich heute bin. Ich bat ihn, für mich zu beten, und versicherte ihn meiner Gebete. Erzbischof Gänswein brachte mich noch an die Tür und teilte meine Sorge: Nach menschlichem Ermessen wäre es wohl wirklich mein letzter Besuch. Fröstelnd und mit schwerem Herzen stieg ich die Treppen hinunter zur Auffahrt des Monastero, wo eine Limousine der Schweizergarde auf mich wartete.
Und jetzt lag sein Leib vor mir, leblos und kalt, während, das spürte ich, seine Seele bereits im Himmel war und für uns alle betete, die wir für ihn beteten. Die von Grabenkämpfen zerfurchte katholische Welt war wieder eins geworden, zumindest für ein paar Tage zu einer großen Familie, vereint in der Trauer um den verschiedenen Groß-Vater, a.k.a. Papa emerito.
Als ich abends mit Kollegen und Vatikan-Insidern zusammensaß, begriff ich, dass auch diese Einheit nur ein trügerischer Schein war. Während die einen, zu denen ich zählte, Benedikt XVI. am liebsten so schnell wie möglich zur Ehre der Altäre erheben und zum Kirchenlehrer ernannt sehen würden, arbeiteten andere bereits an der Demontage des deutschen Papstes. Das zeigte sich auch in der Debatte, wie der erste „Papa emerito“ der Geschichte denn beigesetzt werden sollte, schließlich gab es dafür keine Präzedenzfälle. Sollte es eine Papstbestattung sein wie 2005 bei Johannes Paul II., ein Weltereignis mit Staatsoberhäuptern aus aller Welt und Hunderttausenden Gläubigen?
Oder war eine „abgespeckte“ Version vorzuziehen, so schlicht und still wie möglich, wie es dem Vernehmen nach der Verstorbene selbst, freilich für seine Bescheidenheit bekannt, gewünscht haben soll? Schon die dreitägige Aufbahrung – bei Johannes Paul II. waren es acht Tage – zeigte an, dass man sich für Letzteres entschieden hatte. Auch auf Staatsgäste wollte man verzichten und so wurden nur die Regierungen Italiens und Deutschlands eingeladen, samt der bayerischen Landesregierung, um das Geburtsland des Ratzinger-Papstes zu vertreten. Nicht einmal die Vatikan-Mitarbeiter hatten frei am Tag der Beerdigung, um angemessen Abschied nehmen zu können.
Dazu passten die eisige Kälte und der gespenstisch graue Nebel dieses Morgens, der sich auch im Verlauf des Vormittags nur wenig lichtete. Der Schweizergardist, der mich und eine kleine Gruppe von Freunden an der Porta Sant Anna in Empfang genommen hatte, führte uns in die erste Reihe des „Bayerischen Blocks“, der direkt zu Füßen des Sagrato, der Altarplattform auf dem Petersplatz, lag und den Landsleuten Benedikts XVI. vorbehalten war.
Dort warteten schon diverse Kompanien bayerischer Gebirgsschützen, deren Ehrenmitglied der Ratzinger-Papst gewesen war und die ihn fast jedes Jahr zu seinem Geburtstag in den vatikanischen Gärten besuchten, um ihn dort mit Blasmusik und Bier zu feiern. Auch andere Trachtengruppen, Blaskapellen und Verbände der freiwilligen Feuerwehr aus Oberbayern waren gekommen und brachten ein letztes Mal den urkatholischen Geist und die Folklore des Freistaats in das Zentrum der Weltkirche. Das bayerische Pontifikat hatte schon 2013 geendet, doch von diesem Tag an sollte es endgültig der Geschichte angehören. Mir wurde schwer ums Herz bei der Vorstellung, dass nie mehr eine Trachtenkapelle von der Isar oder dem Inn im Schatten des Petersdomes spielen würde.
Allmählich trafen auch die etwa 100 Kardinäle, 400 Bischöfe und etwa 1400 Priester ein, die bei diesem Requiem konzelebrieren sollten. Hatte ich eben noch Heimatgefühle, war jetzt die Stunde der Weltkirche gekommen. Fremde Gesichter aller Hautfarben zogen an mir vorüber, Bewohner eines jeden der fünf Kontinente wohl, sie alle Teil unserer großen, katholischen Familie, die gerade ihren weisen Großvater verloren hatte.
Gegen 9.30 Uhr verstummte das vielsprachige Gemurmel auf dem Petersplatz, als unter dem Geläut der Totenglocke von zwölf Trägern der schwere Zypressensarg mit dem Leichnam des Papstes auf den Platz gebracht wurde. Er glich dem, in dem vor fast 18 Jahren Johannes Paul II. bestattet worden war, und selbst der Teppich, auf den man ihn stellte, war derselbe. Dann betraten Erzbischof Gänswein und ein päpstlicher Zeremoniar die Bühne und legten das aufgeschlagene Evangeliar auf den Sarg, dass dieses Mal nicht, wie bei Johannes Paul, vom Wind wieder zugeschlagen wurde. Kein Lüftchen regte sich an diesem Morgen, zu schwer hingen die Nebelwolken über der Stadt.
Der Sekretär und treue Freund Benedikts, der gewissermaßen zu seinem Ziehsohn geworden war und jetzt seinen Vater verloren hatte, verbarg seine Trauer nicht. Noch einmal kniete „Don Giorgio“ nieder, küsste den Sarg, bevor er sich, gebeugten Hauptes, zurück an seinen Platz begab, wo Schwester Birgit Wansing, die Sekretärin Benedikts XVI., und die vier Laienschwestern der „Memores Domini“, die den Haushalt im Klösterchen besorgt hatten, auf ihn warteten.
Erst jetzt lichtete sich der Nebel und ließ, zunächst durch einen kreuzförmigen Spalt, die Sonne durch. Sogleich spiegelte sie sich wider in der von einem Kreuz gekrönten goldene Erdkugel auf der Spitze der Kuppel Michelangelos, die jetzt, im sanften Morgenlicht, ein wenig an das himmlische Jerusalem erinnerte. Irrte auch die Welt durch die Nebel der Zweifel und Irrtümer, sehnte sich die Kirche, zitternd der Kälte des materialistischen Zeitgeistes ausgesetzt, nach dem Licht und der Wärme des Himmels, so hatte der große Lotse Benedikt, ein Leuchtturm der Wahrheit in seiner Zeit und darüber hinaus, dieses Ziel, die Herrlichkeit Gottes, gerade erreicht.
Irgendwann riss dann auch der kreuzförmige Spalt auf und ließ die Sonne als mattweiße Scheibe, einer Hostie gleich, jenseits der Nebelschwaden erscheinen, so als weise das Sakrament uns den Weg in den Himmel. Papst Benedikt, der überzeugt war, dass Gott auch in Zeichen der Natur zu uns sprach, hätte dieses meteorologische Schauspiel gefallen. Unvergessen, wie am Himmel ein Regenbogen erschien, als er in Auschwitz als Deutscher und Papst Gott um Vergebung für die Gräuel der Schoah anrief. Oder wie am Tag seines Rücktritts der Blitz in den Petersdom einschlug und das Ende einer Ära und den Beginn der Endzeit signalisierte.
Nach dem Einzug der Kardinäle betrat auch Papst Franziskus den Petersplatz, genauer gesagt: Er wurde im Rollstuhl zu seinem weißen Lederthron gebracht. Das feuchtkalte Wetter muss ihm zugesetzt haben, ganz sicher auch der Tod seines geschätzten Vorgängers, der ihm die eigene Sterblichkeit vor Augen hielt. So wirkte er die nächsten anderthalb Stunden lang eher starr und unbeweglich, während stellvertretend für ihn Kardinal Re, der Dekan des Kardinalskollegiums, die Totenmesse zelebrierte. Selbst ein paar Schritte hinunter zum Sarg waren Franziskus unmöglich; erst ganz am Ende, als dieser an ihm vorbei zurück in die Basilika getragen wurde, legte er segnend seine Hand auf ihn und erwies ihm still seine Referenz.
Lediglich die Predigt hielt der Papst und vielleicht war auch das ein Fehler. Zu viele auf dem Platz hatten noch die Abschiedsworte Kardinal Ratzingers an Johannes Paul II. vom 8. April 2005 in den Ohren, die alle, die sie hörten, zutiefst berührten. Sie spiegelten die Jahre der engen Freundschaft zwischen dem Polen und dem Deutschen wider, zeugten von Liebe und Respekt zweier Brüder im Geiste. Vor allem aber sprachen sie jedem von den 3,5 Millionen Pilgern, die auf dem Petersplatz, in den umliegenden Straßen und in ganz Rom versammelt waren, um Abschied zu nehmen, zutiefst aus dem Herzen. Als sie mit der Verheißung „Wir können sicher sein, jetzt steht Johannes Paul am Fenster des Hauses des Vaters und sieht uns und segnet uns. Ja, segne uns, Heiliger Vater!“ schlossen, hatten wir alle Tränen in den Augen und mancher flüsterte damals, vorausahnend, wie es dann auch kommen würde: „Habemus Papam“.
Umso nüchterner, im Vergleich, Franziskus, der stets ein Mann der Gesten, nie aber der großen Worte gewesen war. Bis auf den letzten Satz hätte man die gleiche Predigt bei der Bestattung jedes beliebigen Kardinals, eines Bischofs oder auch „des Metzgers von nebenan“, wie anschließend ein deutscher Kardinal nicht ganz zu Unrecht spöttelte, halten können. Nur ihre letzten Sätze versöhnten. Sie sprachen von der „Salbung und Weisheit, dem Feingefühl und der Hingabe, die er uns im Laufe der Jahre zu schenken wusste“ und endete mit den ergreifenden Worten: „Benedikt, du treuer Freund des Bräutigams, möge deine Freude vollkommen sein, wenn du Seine Stimme endgültig und für immer hörst!“
Es war ein schlichtes und feierliches Requiem, zelebriert in Latein, der Sprache der Weltkirche, so wie es sich Benedikt XVI. wohl gewünscht hat. Gewiss, er war schon immer ein Mann der leisen Töne gewesen, einer, der sich nicht so wichtig nahm. So traue ich ihm durchaus zu, den Zeitpunkt seines Todes gewusst gewählt oder im Gebet erbeten zu haben: Nach Weihnachten, um nicht der ganzen Christenheit die Weihnachtsfreude zu nehmen und das ihm liebste Fest zu überschatten, am Silvestertag, als auch der letzte Jahresrückblick geschrieben war und zu früh, um in die Chroniken von 2023 aufgenommen zu werden, zwischen den Jahren wie sein Pontifikat zwischen den Zeitaltern lag, dem Gestern und dem Morgen.
Die stille Trauer lag ihm mehr als der tränenreiche Abschied. Und trotzdem glaube ich, dass er mehr verdient hätte. Schließlich wurde nicht etwa, wie immer wieder betont wurde, der „Papa emeritus“ zu Grabe getragen, sondern der (vorletzte) Papst, der 265. Nachfolger Petri. Genau wie ein emeritierter Bischof ein reguläres Bischofsbegräbnis und nicht etwa die „abgespeckte“ Version erhält, hätte der Theologenpapst, den zukünftige Generationen als Kirchenlehrer ehren werden, ein Staatsbegräbnis erster Klasse verdient, genau wie sein Vorgänger und sicher auch sein Nachfolger.
Erst als zum Abschluss der Totenmesse der Sarg von den zwölf Trägern in den Petersdom gebracht wurde, hatte die manchmal befremdliche Emotionslosigkeit dieser Feier ein Ende. Jetzt erscholl der Applaus der 60.000 Gläubigen, wurden Transparente enthüllt. „Danke, Papst Benedikt“, war darauf zu lesen, aber auch „Santo Subito“ und „Benedetto XVI – Dottore della Chiesa“. Als dann noch die Blaskapelle der Gebirgsschützen die Bayernhymne „Gott mit Dir, Du Land der Bayern“ anstimmte, hatte auch ich Tränen in den Augen. Da war es wieder, dieses „Benedetto“-Gefühl, das acht goldene Jahre lang die Kirche zur Heimat unserer Freude gemacht hatte. Und vielleicht stand jetzt auch er am Fenster des Hauses des Vaters und segnete uns. „Ja, segne uns, geliebter Papst Benedikt!“, entfuhr es mir, „Vergelt’s Gott für alles! Und bete für uns und die Kirche, in Deutschland und in der ganzen Welt, dass sie zurückfindet auf den Kurs, den der Heilige Geist durch Dich ihr gewiesen hat!“
Der Sarg wurde ein wenig später in den Grotten des Petersdomes beigesetzt, dort, wo vor seiner Seligsprechung auch Johannes Paul II. geruht hatte. Am nächsten Morgen wurde im Petersdom das Fest der Erscheinung des Herrn gefeiert, das an die drei Weisen erinnerte, die dem Stern folgten und den kindgewordenen Schöpfer des Universums in der Krippe fanden. Seit dem darauffolgenden Sonntag pilgern tausende Gläubige zum Grab des bescheidenen Bayern, über dem ein Relief der Gottesmutter wacht. Seine Weisheit ist für unsere Generation zum Stern von Bethlehem geworden.
Foto: © Michael Hesemann
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