Der Mann mit der Baskenmütze

1. März 2023 in Chronik


„Johannes Paul II., der Papst aus dem kommunistischen Osten, hatte mich in die Kirche zurückgeführt. Joseph Ratzinger lehrte mich die Schönheit und Tiefe des Glaubens.“ Gastbeitrag von Sigrid Grabner/Vatican Magazin


Vatikan (kath.net/Vatican Magazin) Auf dem Petersplatz in Rom Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts: Meine Freundin macht mich auf einen Priester mit Aktentasche aufmerksam: ein schmaler Mann in Soutane, darüber ein Mantel, auf dem Kopf eine schwarze Baskenmütze. Zielstrebig überquert er den Platz.

„Kardinal Ratzinger“, sagt die Freundin, „er geht in sein Büro.“ Dass die evangelische Oberstudienrätin aus Wuppertal Papst Johannes Paul II. verehrt, weiß ich, aber dass sie sich auch in der katholischen Kirchenhierarchie auskennt und die Büros der Würdenträger lokalisieren kann, ist mir neu.

Ich hatte für zehn Tage Ausgang ins „kapitalistische Ausland“ erhalten, um in Rom Recherchen für ein Buch über italienische Frauen des Mittelalters zu betreiben. Die Freundin hatte die Reise organisiert und finanziert, anders wäre sie nicht möglich gewesen. Nun stand ich auf dem Petersplatz, trunken von Rom, und schaute sie fragend an. Ich erfuhr, Ratzinger sei der ehemalige Erzbischof von München, ein kreuzgescheiter Theologe, weswegen ihn die Dummen in der Kirche nicht mochten und Ideologen ihn verunglimpften. Johannes Paul II. habe ihn gedrängt, das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation zu übernehmen, bis er nicht länger ablehnen konnte.

Am Vortag waren wir am Gebäude der Glaubenskongregation vorbeigegangen, vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Heilige Offizium. Ich hatte in der DDR meinen Bildungsweg von der Grundschule bis zur Universität absolviert und dabei gelernt, das Heilige Offizium habe in seinen Kellern Unschuldige gefoltert, sogenannte Ketzer verfolgt, Galileo Galilei verurteilt, Giordano Bruno verbrannt. Auch in der Gegenwart werde es von dunklen Gestalten regiert und stünde für verbrecherische Machenschaften der Kirche. Zwar konnte ich historische Fakten von Propaganda unterscheiden, aber ein leichtes Unbehagen erfasste mich den noch, als ich dem „Großinquisitor“ nach schaute. Ich fragte nicht weiter. Theologen, und was ich bisher von ihnen gelesen hatte, verstand ich ohnehin nicht.

Die begeisterten Worte meiner klugen Freundin über Kardinal Ratzinger gingen mir dennoch nicht aus dem Sinn. Ihnen nachgehen konnte ich nicht. Internet gab es noch keins. In der DDR eingemauert, kam ich kaum an Bücher aus dem Westen. Außerdem interessierte mich zu jener Zeit mehr, was in Russland unter Gorbatschow und in Polen mit der Solidarność und Johannes Paul II. passierte.

1989 verjagte der Volkszorn die sozialistischen Potentaten in der DDR und überall im Osten von ihren Thronen. Nun hätte ich frei reisen und lesen können, was der „kreuzgescheite“ Kardinal geschrieben hatte. Doch es war nicht die Zeit für die Lektüre akademischer Schriften. Die turbulenten Jahre nach dem Mauerfall forderten mein Engagement vor Ort in Potsdam, und in Wuppertal starb meine Freundin, die mir den Zugang zur Ewigen Stadt geöffnet und mir Kardinal Ratzinger „vorgestellt“ hatte.

Ich weiß nicht mehr, wer mich 1996 auf das Gesprächsbuch von Peter Seewald mit Kardinal Ratzinger „Salz der Erde“ aufmerksam machte. Ich las das Buch, ohne es einmal aus der Hand zu legen. Die Fragen, die Seewald stellte, waren meine Fragen. Die Antworten des Präfekten der Glaubenskongregation erstaunten mich. Da sprach ein Mann Gottes mit einer mir noch nie zuvor begegneten Klarheit, Direktheit und Tiefe, ganz aus unserer Zeit und dennoch über sie hinaus. Das war kein verquastes Theologendeutsch, mit dem ich mich bisher vergeblich abgemüht hatte. In seinen Worten verbanden sich Überzeugungskraft mit poetischer Anmut gleichsam zu einem Gesamtkunstwerk. Von nun an las ich alles, was ich von ihm erreichen konnte.

Johannes Paul II., der Papst aus dem kommunistischen Osten, hatte mich in die Kirche zurückgeführt. Joseph Ratzinger lehrte mich die Schönheit und Tiefe des Glaubens.

Ein wortloses Lächeln

Bei einem meiner Aufenthalte in Rom um die Jahrtausendwende besuchte ich zu Ostern eine feierliche Messe mit Papst JohannesPaul II. Am Ende fluteten die Menschen dicht an dicht nach draußen. Mir fiel es schwer, mich von dem eben Erlebten zu trennen, und so wandte ich mich im Narthex der Basilika noch einmal zum Hochaltar um. Im Gedränge hinter mir ein einfacher Priester. Unsere Blicke begegneten sich. Er lächelte mich an, als seien wir gute Bekannte. Was für hellwache Augen er hat, dachte ich und lächelte zurück. Erst, als ich schon weiter geschoben wurde, durchfuhr es mich: Das war doch Kardinal Ratzinger!

Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln. Nie bin ich dem Menschen Joseph Ratzinger näher gekommen als in diesem wortlosen Lächeln von Unbekannt zu Unbekannt inmitten einer schwatzenden, drängelnden Menge. Hätte nach dieser unvergesslichen Sekunden-Begegnung jemand prophezeit, ich sei dem künftigen Papst begegnet, hätte mich das weniger beeindruckt als die Erkenntnis jenes Augenblicks, dass der Mensch Joseph Ratzinger seine Titel und ausgeübten Funktionen weit überstieg.

Ein paar Jahre später wurde er Papst! Dem Polen Karol Wojtyla folgte ein Deutscher im Amt, beide seit Jahrzehnten eng verbunden im Dienst an der Kirche. Welch eine Symbolik! Meine überschwängliche Freude war nicht ungetrübt. Würde der zerbrechlich wirkende Mann den Strapazen des Amtes standhalten können? Der Zustand der Kirche war zwar 1978 bei der Wahl Karol Wojtylas nicht besser gewesen als 2005, aber der Pole war damals zwanzig Jahre jünger als jetzt der Deutsche, und er konnte sich auf eine glaubensstarke polnische Kirche stützen. Seinem Nachfolger schlug nach der ersten Überraschung in Deutschland Skepsis entgegen. Die Freude bei katholischen Würdenträgern und Pastoralreferenten, auch bei vielen Katholiken, hielt sich in engen Grenzen. Vorerst noch hinter vorgehaltener Hand war vom Panzerkardinal die Rede, vom unerbittlichen Glaubenshüter, vom weltfremden Professor, vom Reaktionär. Die „sprungbereite Feindseligkeit“, die Papst Benedikt 2009 benennen sollte, lauerte schon im Verborgenen.

Wie würde der genuine Gelehrte, anders als sein Vorgänger nicht von der Statur eines Volkstribuns, die Anfeindungen aushalten? Ich hätte dem feinsinnigen, bescheiden auftretenden Kardinal den Ruhestand gegönnt, in dem er vielleicht mit weiteren Büchern der Welt das Christentum zum Leuchten bringen würde.

Der Heilige Geist hatte anders entschieden und mit Joseph Ratzinger die deutsche Stunde der Kirche eingeläutet.

Das Wunder geschah! Papst Benedikt gewann die Herzen der Gläubigen in aller Welt im Sturm – auf seinen Reisen, mit drei Enzykliken, seinen Reden, den Katechesen auf dem Petersplatz, seinem gewinnenden Auftreten. Jeden Mittwoch wartete ich ungeduldig auf die ins Internet eingestellten Katechesen und druckte sie aus, um sie immer parat zu haben. Mehr denn je wurde er mir zum Lehrer und stärkte mich in meinem Glauben.

Auch noch drei Bände über Jesus von Nazareth schenkte er der Welt. Wenn mir bei der Arbeit an meinem Buch über Gregor den Großen Kraft und Mut abhanden kamen, richtete mich das Vorbild des alten Papstes im Apostolischen Palast wieder auf. So wurde das Buch auch eine Hommage an ihn. Woher nimmt dieser betagte, zerbrechliche Mann nur die Kraft, fragte ich mich oft und wusste doch die Antwort: „Meine Hilfe kommt vom Herrn.“

Wo das Heilige ist, rüsten die Dämonen zum Kampf. Die offenen Angriffe ließen nicht lange auf sich warten. Mit voller Wucht setzten sie nach der Regensburger Rede ein und steigerten sich nach der Veröffentlichung des Apostolischen Schreiben „Summorum Pontificium“ über die Liturgie 2007 und der WilliamsonAffäre 2009, all die Jahre begleitet von Vorwürfen, als Glaubenspräfekt sexuellen Missbrauch durch Priester vertuscht zu haben. Bösartige Unterstellungen, Lügen, Spott und Hohn verfolgten Benedikt während seines Pontifikats, ob von Politikern wie Angela Merkel, den Medien oder aus der eigenen Kirche. Mir erging es ähnlich wie den vielen einfachen Katholiken, die Benedikt liebten und deren Stimmen von Hass und Hetze in den Massenmedien übertönt wurden: „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, haben mich getroffen.“

Vereint im Leib der Kirche

Meine dritte Begegnung mit Joseph Ratzinger/Papst Benedikt ereignete sich zu Pfingsten 2011. Die Papstmesse fand diesmal nicht auf dem Petersplatz, sondern in der Basilika statt. Ich wollte gern dabei sein, aber es gab keine Karten mehr, wo ich auch vorsprach, wie ich auch bettelte, wenigstens um einen Stehplatz ganz hinten. In buchstäblich letzter Minute erhielt ich durch die Vermittlung von Guido Horst eine Karte von höchster Stelle, zu meiner Überraschung ganz vorn. Sie berechtigte zum Empfang der Heiligen Kommunion durch den Papst.

Ich konnte es kaum fassen: Da durfte ich, die als DDR-Bürgerin vor mehr als einem Vierteljahrhundert zum ersten Mal den Namen Ratzinger mit leisem Unbehagen gehört hatte, zum Fest des Heiligen Geistes über dem Petrusgrab Christus vom Petrus dieser Zeit empfangen. So viel war seither geschehen. Schönes, Schweres, Einmaliges hatten wir erlebt, jeder auf seinem ihm von Gott zugewiesenen Platz und doch vereint im Leib der Kirche.

Der Deutschland-Besuch im September dieses Jahres muss den Papst Überwindung gekostet haben. Das offizielle Berlin wollte sich zwar mit dem deutschen Papst schmücken, ihm aber am liebsten den Mund verbieten. Das Erzbischöfliche Ordinariat stimmte nur widerwillig dem Vorschlag einer Messe im Olympiastadion zu, denn so viele Menschen kämen bestimmt nicht. Ein ostdeutscher SPD-Bundestagsabgeordneter meinte, der Papst sei eine Person, „den die Mehrheit der Deutschen für verdammungswürdig hält“. Die Linken wollten den Papst mit seinen „politischen Botschaften, die weit in die zurückliegenden Jahrtausende gehören, aber nicht in die Neuzeit“ nicht im Bundestag sehen. Die Grünen warfen ihm „Missachtung der Menschenwürde“ vor. Berlin schien wieder von der DDR-Nomenklatura regiert.

Der Gast aus Rom ertrug äußerlich gelassen die kaum verbrämten Belehrungen der Staatsführung unter Christian Wulff und Angela Merkel und revanchierte sich mit einer eindrucksvollen Rede im Bundestag. Die abendliche Eucharistiefeier im voll besetzten Olympiastadion mag ihn für die Strapazen des Tages entschädigt haben.

Bei seiner Ankunft schlugen ihm jubelnde Freude und Zuneigung entgegen. Während der Messe herrschte eine unbeschreiblich gesammelte Atmosphäre. Nach dem Schlussgebet stimmte die Menge das Tedeum an. Sie sang beim Auszug des Papstes weiter, statt in die üblichen Benedetto-Rufe auszubrechen. Der Gesang der Zehntausende schwoll an und die letzte Strophe wurde zu einem dringlichen Gebet unter dem roten Abendhimmel: „Herr erbarm, erbarme dich./Lass uns deine Güte schauen; deine Treue zeige sich,/ wie wir fest auf dich vertrauen./Auf dich hoffen wir allein:/Lass uns nicht verloren sein!“

Die Polizisten vor dem Stadion und auf unserem Rückweg zur S-Bahn lächelten; einen so problemlosen Dienst an diesem Ort hatten sie wohl noch nie erlebt.

Das offizielle Deutschland und die Kirchen trugen vor Benedikt geradezu penetrant ihre politisch korrekte Überheblichkeit zur Schau, die Medien mäkelten an ihm herum, doch die Menschen auf den Plätzen, vor allem in der hiesigen Diaspora, umfingen ihn mit Liebe als einen der ihren. Im Bundestag und im Konzerthaus Freiburg redete der Papst sanft, aber deutlich und bestimmt, wie es seine Art war, selbstgefälligen Politikern und fortschrittstrunkenen Kirchenleuten ins Gewissen. Genützt hat es nichts, aber seine Worte blieben fortan als Stachel im Fleisch der Welt.

Am Abend des 11. Februar 2013 schlug ein Blitz in die Peterskuppel ein. Wenige Stunden zuvor hatte Papst Benedikt seine Demission vom Amt erklärt. Wie unzählige Gläubige litt ich unter seiner Entscheidung. Aber die tiefe Dankbarkeit für den Mann Gottes, der den Glauben in meiner Lebens zeit zum Leuchten gebracht hat, war und bleibt stärker als der Schmerz jener Tage im Februar.

Leseprobe aus dem aktuellen Vatikan Magazin: siehe Link

Sigrid Grabner, geboren1942, studierte Indonesienkunde und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, Promotion 1972, seither arbeitet sie als Schriftstellerin und schrieb zahlreiche Sachbücher, Romane und Essays.

 


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