Verteidigungskrieg, Notwehr, Nothilfe: Eine Aufhebung der Absolutheit des Rechts auf Leben?

14. März 2023 in Interview


„Die Verschwörer des 20. Juli 1944 fanden sich in der Lage, den Völkermörder Hitler auszuschalten oder mit ‚reinem Gewissen‘ seinem Treiben bis zum bitteren Ende zuzuschauen.“ Gespräch mit Kard. Gerhard Ludwig Müller. Von Lothar C. Rilinger


Rom (kath.net) Das Recht auf Leben wird von der Kirche als ein absolutes gedacht. Keine noch so extreme Situation soll es relativieren. Allerdings wird das Töten im Falle eines Angriffskrieges, einer Notwehr oder Nothilfelage als möglich angesehen. Zwar erfüllt die Tötungshandlung nach unserer staatlichen Rechtsordnung nach wie vor den Straftatbestand einer Tötungsnorm, doch wird die Tötungshandlung durch Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt, so dass eine Strafbarkeit ausgeschlossen ist. Durch diese Rechtskonstruktion ist gesichert, dass das Recht auf Leben grundsätzlich Bestand hat, es allerdings im Rahmen einer Kollision der Rechte des Angreifers und denjenigen des Angegriffenen für den Angreifer beschnitten wird. Das für absolut erklärte Menschenrecht auf Leben wird in den oben beschriebenen Lagen eingeschränkt und erfährt dadurch auf Seiten des Angreifers eine gesetzlich festgelegte Relativierung. Der Angreifer muss, bedingt durch seine Rechtsverletzung, die Einschränkung seiner Rechte hinnehmen. Vor diesem Hintergrund staatlichen Rechts haben wir mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller gesprochen, um von ihm die kirchliche Position zu erfahren.

Lothar C. Rilinger: Auch wenn das Menschenrecht auf Leben als ein Recht angesehen wird, das konstituierend für eine Gesellschaft und einen Staat gilt, stellt sich die Frage, ob es als absolut angesehen werden muss, also als ein Recht, das keine Einschränkung erfahren darf. Könnten Sie sich vorstellen, dass das Recht auf Leben des Angreifers durch dessen Tötung infolge einer Notwehrhandlung des Angegriffenen oder durch eine Nothilfehandlung seitens eines Dritten zurücktreten muss?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Es gibt die Schule des Rechtspositivismus, die das vom Staat gesetzte Recht (selbst in einer totalitären Diktatur) völlig von seiner Verankerung in der Moral ablöst. Unter Moral und Ethik verstehen wir die Orientierung unseres bewussten und freien Handelns an der Wirklichkeit des Guten. Der Vorrang der Politik vor der Moral geht letztlich auf Machiavelli’s zynische Konzeption der Staatsräson zurück. Dort wird das Machtinteresse des Fürsten über das Wohl der von ihm regierten Menschen gestellt. Das staatliche Gesetz, über das der Souverän frei verfügt, sei die höchste Autorität, die über Recht und Unrecht entscheidet. Deshalb könne das Handeln nach der Forderung des natürlichen oder göttlichen Sittengesetzes eine Handlung nicht rechtfertigen, sondern lediglich das Befolgen der vorgeschriebenen Regeln (vgl. Thomas Hobbes, Leviathan 26). Der von Hans Kelsen theoretisch vollendete Rechtspositivismus war letztlich argumentativ hilflos gegen die nationalsozialistischen oder sowjetkommunistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil sie nicht gegen die herrschenden Gesetze verstießen. Die schlimmsten Verbrecher konnten sich auf einen Befehlsnotstand berufen, und die deutschen Gerichte taten sich schwer, offensichtliche Unrechtsurteile aus der Nazi-Zeit aufzuheben, nur weil sie nach den damaligen Gesetzen regelkonform zustande gekommen sind. Hier sind immer noch die Bücher von Hannah Arendt (Über das Böse, 1965) und Eric Voegelin (Hitler und die Deutschen, 1964) lesenswert.

In der klassischen Lehre von der legitimen Notwehr eines Individuums oder eines Gemeinwesens wird keineswegs das göttliche Gebot „Du sollst nicht töten“ suspendiert, also dem Bedrohten ein Recht zugesprochen, einen anderen Menschen zu töten. Wenn bei der Selbstverteidigung der Angreifer zu Schaden kommt, ist dies nur die Folge seines unmoralischen Verhaltens, die er selbst mit seinem Gewissen vor Gott zu verantworten hat.

Rilinger: Auch nach der von Ihnen zitierten klassischen Lehre von der legitimen Notwehr wird der Angreifer getötet und damit wird sein Recht auf Leben negiert. Selbst wenn der Angreifer zu Schaden kommt, weil dies die Folge seines unmoralischen Verhaltens sein soll, ist durch die Notwehrhandlung des Angegriffenen gleichwohl das Menschenrecht auf Leben des Angreifers aufgehoben, dieser ist schließlich getötet worden. Unabhängig davon, dass der Täter die Folge seines unmoralischen Verhaltens vor Gott rechtfertigen muss, bleibt die Tatsache, dass der Angegriffene getötet hat – dass sich also der Angegriffene über das Gebot „Du sollst nicht töten!“ hinweggesetzt hat, schließlich hat er das Recht auf Leben des Angreifers negiert. Wie ist es theologisch zu erklären, dass durch die Negierung des Rechts auf Leben auf Seiten des Angreifers die Tötung in Notwehr pp. nicht die Absolutheit des Rechtes auf Leben einschränken soll?

Kard. Müller: Das Leben kommt jedem Menschen von Natur aus zu. Im Licht des Offenbarungsglaubens sind wir davon überzeugt, dass Gott der Schöpfer des Alls in seinem Willen unmittelbar jeden individuellen Menschen als sein personales Gegenüber geschaffen hat und ihn schließlich in seinem Sohn Jesus Christus zu seinem Sohn oder seiner Tochter berufen hat. Mit dem unbedingten Recht auf Leben ist der Schutz des Einzelnen gemeint, nicht einem ungerechten Angriff ausgesetzt zu werden. Das schließt aber keineswegs das Recht ein, den Mitmenschen unbegrenzt schaden zu dürfen, so dass sie das Recht auf ihr Leben nicht verteidigen dürften. Eine Frau, die von einem Vergewaltiger an Leib und Leben tödlich bedroht wird, hat nicht nur das Recht, sondern auch die sittliche Pflicht, sich mit allen Mitteln zu verteidigen bis – auf welche Weise auch immer – der Angreifer außer Gefecht gesetzt ist. Ein Vater braucht nicht zuzusehen, wie eine Verbrecherbande eines nach dem anderen seiner Kinder tötet, wenn er die Möglichkeit hat, die Aggressoren zu stoppen. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 fanden sich in der schwierigen Lage, den Völkermörder Hitler auszuschalten oder mit „reinem Gewissen“ seinem Treiben bis zum bitteren Ende zuzuschauen.

So grauenhaft es auch ist, einen Menschen zu töten (und Hitler mit seiner ganzen Entourage in der Wolfsschanze auszuschalten), so kann doch in dieser extremen Situation die gewaltsame Beseitigung des Tyrannen vor Gott auch im christlichen Gewissen verantwortet werden. Was der Attentäter immer an Schuld dabei auf sich laden mag, so hat er die Gewissheit, dass Gott sie ihm vergeben wird, weil es seine reine Intention war, dem radikal Bösen – soweit menschenmöglich – Einhalt zu gebieten.

Rilinger: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirft erneut die Frage auf, wie die Kirche Kriegshandlungen bewertet. Auch wenn verständlicherweise der Angriffskrieg keinerlei Rechtfertigung erfahren darf, ergibt sich aber im Rahmen der Verteidigung gegen Angriffe immer die Frage nach dem bellum iustum, nach dem gerechten Krieg. Dieser wurde lange Zeit auch von der Kirche als legitim betrachtet, so dass legale Kriegshandlungen akzeptiert worden waren. Rechtfertigt deshalb die massenhafte Verletzung des Menschenrechts auf Leben durch die russischen Streitkräfte die Ukraine, sich gegen die Aggression Russlands zu wehren und dadurch ebenfalls massenhaft Menschen zu töten?

Kard. Müller: Die von Augustinus und Thomas entwickelte Lehre vom gerechten Krieg hat keineswegs, wie man bei einer ungenauen Lektüre aus dem Begriff entnehmen könnte, die Absicht, den Krieg, also den Kampf um die Macht, mit den Mitteln der Verletzung und Tötung des Gegners in einen positiven Zusammenhang mit der Gerechtigkeit und dem Recht zu stellen. Jeder Krieg ist Brudermord, wie es archetypisch in der Geschichte von Kain und Abel dargestellt wird. Das Böse, das sich Menschen antun, ist die Folge ihres verlorenen Verhältnisses zu Gott, der die Schöpfung an seiner Gutheit teilhaben lässt und sie auf seine Güte hin ausrichtet (vgl. René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse eines Menschheitsverhängnisses, Freiburg 2009).

In dieser der Sünde unterworfenen Welt ist daher eine Selbstbehauptung gegen ungerechte Angriffe mit polizeilichen und militärischen Mitteln als ein Zugeständnis erlaubt, aber keineswegs in sich gutgeheißen, weil Übel und Leiden, die den Menschen zustoßen oder die sie sich zufügen, niemals als solche dem Heilswillen Gottes entsprechen. Christus, der Sohn Gottes, hat das Unrecht der Welt auf sich genommen, obwohl er selbst ohne Sünde war, um uns von dem Bösen – in uns und um uns – zu erlösen und uns frei zu machen, in allem das Gute zu tun. Das heißt dann: Gerade auch in einem Verteidigungskrieg ist alles zu tun, was dem gerechten Friedensschluss und dem Ende des Tötens dient, die Verwundeten beider Seiten zu pflegen und die Gefangenen menschlich zu behandeln.

Rilinger: In einem rechtswidrigen Angriffskrieg soll aus Gründen der Selbstbehauptung die Verteidigung mit militärischen Mitteln, also das Töten, als ein Zugeständnis erlaubt sein, obwohl das Töten keineswegs gutgeheißen wird. Wie kann trotzdem dieses Zugeständnis, sich als Angegriffener zu wehren und zu töten, nicht als Überwindung der Vorstellung von der Absolutheit des Rechts auf Leben angesehen werden?

Kard. Müller: Weil, wie gesagt, das Recht auf Leben nur gedacht ist als Schutz vor ungerechten Übergriffen, nicht aber als Lizenz, ungehindert und gefahrenlos anderen das Leben zu nehmen.

Rilinger: Auch wenn immer versucht werden soll, einen Krieg durch Verhandlungen zu beenden, gibt es gleichwohl Lagen, in denen Waffenstillstandsverhandlungen nur unter Preisgabe von Rechten der angegriffenen Partei geführt werden könnten. Muss der Angegriffene zum Beispiel Landverluste, also Eroberungen des Angreifers, hinnehmen, nur um das Töten im Krieg zu beenden?

Kard. Müller: Es gibt das moralische Prinzip, dass ich um eines größeren Gutes willen in begrenztem Maß Unrecht hinnehmen kann oder vielleicht auch sittlich muss. Konkret ist die Grenze zwischen „Widerstand und Ergebung“ schwer zu ermitteln. In der Ukraine besteht die Aggression seitens der Putin-Truppen fortgesetzt und unbegrenzt fort, wogegen sich die Ukrainer zu Recht mit militärischen Mitteln wehren und eigene Verluste in Kauf nehmen. Der Aggressor kann also nicht die Bedingung stellen, dass es mit dem Blutvergießen vorbei sei, sobald sich die Angegriffenen ihm auf Gedeih und Verderb unterwerfen. Ob die Ukraine berechtigt ist, die Krim, auf der es kaum noch ukrainische Bevölkerung gibt, mit Gewalt zurückzuerobern, mag man mit Recht bezweifeln. Die Geschichte ist voller Ungerechtigkeiten zwischen den Völkern und man kann nur schwer nach rückwärts korrigieren, ohne wieder neues Leid hervorzurufen.

Vollkommenen Gerechtigkeit gibt es nur in Gottes Neuer Schöpfung, wenn „der Tod […] nicht mehr sein [wird], keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21, 4).

Rilinger: Wenn von der Kirche tatsächlich nicht moralisch-dogmatisch Ausnahmen von der Geltung des Menschenrechts auf Leben und von dem Gebot „Du sollst nicht töten!“ hingenommen werden, drängt sich die kirchengeschichtliche Frage auf, aus welchem Grund die Kirche davon Abstand genommen hat, die Todesstrafe und den Tod durch Folter zu erlauben, obwohl diese Strafe Jahrhunderte lang gängige Rechtspraxis auch kirchlicher und kirchlich-staatlicher Gerichte war?

Kard. Müller: Wie gesagt, kann es keine Ausnahmen von der universalen Geltung der Menschenrechte geben. Leider ist das, was sich objektiv aus dem christlichen Menschenbild ergibt, nicht immer in mehr oder weniger christlich geprägten Gemeinwesen befolgt worden.

Auch hat sich nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches in den Folgestaaten erst allmählich ein staatliches und kirchliches Rechtssystem entwickelt. Papst Nikolaus I. hat in einem Brief an einen bulgarischen Fürsten im Jahre 866 die körperliche Folter bei Gerichtsprozessen zur Erzwingung eines Geständnisses als Widerspruch zum göttlichen und menschlichem Recht schärfstens zurückgewiesen (Denzinger-Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 648). Dass später sogar in kanonischen, also kirchenrechtlichen Prozessen die Folter als Mittel der Wahrheitsfindung zugelassen und ausgeübt wurde, ist ein schweres Versagen, das immer dann nicht fern liegt, wenn sich die Kirche mehr vom Zeitgeist als von den Prinzipien der Offenbarung und des christlichen Menschenbildes leiten lässt. Im I. Weltkrieg gab es noch von einem blinden Nationalismus fanatisierte Geistliche, die statt um den Frieden um den Sieg für die eigenen Waffen gebetet haben. Das war ein blasphemischer Missbrauch der geistlichen Autorität, den niemand aus den Wahnvorstellungen des Zeitgeistes rechtfertigen kann, weil schon ein kleines im Glauben unterwiesenes Kind den Widerspruch zu Christi Gebot der Gottes- und Nächstenliebe sieht.

Rilinger: Eminenz, herzlichen Dank!

Archivfoto Kardinal Müller (c) Lothar C. Rilinger


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