29. März 2023 in Buchtipp
Die Rede von Freiburg sollte ein Weckruf sein. Benedikt selbst empfand sie als geradezu „revolutionär“. - Auszug 5 aus dem neuen Benedikt-Bestseller-Buch von Peter Seewald
München (kath.net)
Eine nachhaltige Wirkung erhoffte sich der Papst vom Abschluss seines Staats- und Pastoralbesuches, der in Freiburg stattfand. Tatsächlich ging die „Freiburger Konzerthausrede“ als eine der großen Ansprachen Ratzingers in die Geschichte des Pontifikats ein, die das Programm für eine erneuerte Kirche darlegte.
Dabei kam Ratzinger exakt auf das Thema zu sprechen, das ihn seit seiner Zeit als Kaplan in München-Bogenhausen beschäftigte und für das er schon damals den Begriff Entweltlichung gefunden hatte. Ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten sprach er dramatische geistliche Defizite an. „Agnostiker, die von der Frage nach Gott umgetrieben werden“, seien heutzutage vielfach „näher am Reich Gottes als kirchliche Routiniers“, betonte er zum Entsetzen der katholischen Honoratioren in der ersten Reihe, die in der Kirche „nur noch den Apparat sehen, ohne dass ihr Herz … vom Glauben berührt wäre“.
Bei seiner Rede griff er die Frage auf: „Muss die Kirche sich nicht ändern?“
Das war ein extrem wichtiger Punkt. Schließlich erlebe man, leitete der Papst ein, in Deutschland „seit Jahrzehnten einen Rückgang der religiösen Praxis, stellen wir eine zunehmende Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben fest“. Müsse sich Kirche deshalb „nicht in ihren Ämtern und Strukturen der Gegenwart anpassen, um die suchenden und zweifelnden Menschen von heute zu erreichen?“, fragte er rhetorisch. Benedikt antwortete zunächst mit einem Zitat von Mutter Teresa. Diese hatte auf die Frage eines Journalisten, was sich ihrer Meinung nach als Erstes in der Kirche ändern müsse, zur Antwort gegeben: „Sie und ich!“ An dieser kleinen Episode werde zweierlei deutlich, so Benedikt: „Einmal will die Ordensfrau dem Gesprächspartner sagen: Kirche sind nicht nur die anderen, nicht nur die Hierarchie, der Papst und die Bischöfe; Kirche sind wir alle, wir, die Getauften. Zum anderen geht sie tatsächlich davon aus: ja, es gibt Anlass, sich zu ändern. Es ist Änderungsbedarf vorhanden. Jeder Christ und die Gemeinschaft der Gläubigen sind zur stetigen Änderung aufgerufen.“
Tatsächlich müsse sich eine Kirche, die sich an Christus orientiert, notwendigerweise „von der menschlichen Umgebung tief unterscheiden“, zitiert er den Konzilspapst Paul VI. Jesus sei nicht Mensch geworden, argumentierte Benedikt, um die Welt in ihrer Weltlichkeit zu bestätigen und sie dann zu lassen, wie sie ist. Nein, eine Kirche, die „sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht“, verstoße gegen den Auftrag ihres Stifters, „Werkzeug der Erlösung zu sein, sich von Gott her mit seinem Wort durchdringen zu lassen“ – und gerade dadurch „nicht von der Welt“ zu sein. Eine „von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche“ könne „sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden … Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen.“
Immer drängender hatte Benedikt gesprochen, und er war noch nicht zu Ende.
Es sei eine Illusion, zu denken, wenn sich Gläubige angepasst genug verhielten, könnten sie in der säkularen Gesellschaft wieder akzeptiert werden: „Der christliche Glaube ist für den Menschen allezeit – und nicht erst in der unsrigen – ein Skandal. Dass der ewige Gott sich um uns Menschen kümmern, uns kennen soll, dass der Unfassbare zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort fassbar geworden sein soll, dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten haben und gestorben sein soll, dass uns Sterblichen Auferstehung und Ewiges Leben verheißen ist – das zu glauben ist für die Menschen allemal eine Zumutung.“ Dieser Skandal sei „unaufhebbar, wenn man nicht das Christentum selbst aufheben will“.
Es klang für viele der Anwesenden geradezu empörend, dass der Papst sogar ein gutes Wort für Säkularisierungen fand.
Denn diese seien der Kirche in ihrer langen Geschichte immer wieder zu Hilfe gekommen, um wesentlich zu ihrer Läuterung und zur inneren Reform beizutragen. Die Enteignung von Kirchengütern oder die Streichung von Privilegien „bedeuteten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt“.
Es gehe bei der Erneuerung jedenfalls „nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen“. Vielmehr gelte es, „jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht“. Mit anderen Worten: die den christlichen Glauben „ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und
Gewohnheit ist“.
Die Rede von Freiburg sollte ein Weckruf sein. Benedikt selbst empfand sie als geradezu „revolutionär“.
Allerdings musste der Papst erleben, dass seine Ermutigung und sein Impuls weitgehend ignoriert wurden. Viele der versammelten Repräsentanten der Kirche legten Ratzingers Forderung nach „Entweltlichung“ verblüffenderweise so aus, als sei damit gemeint, Kirche solle sich ihre eigene kleine Sonderwelt bauen und auf soziale Dienste in der Gesellschaft verzichten. Das sei natürlich mit Empörung zurückzuweisen.
In Wahrheit ging es dem Papst nicht um Abkehr von den Menschen, sondern um Abkehr von Macht, vom Mammon, von der Konvention, vom falschen Schein, vom Selbstbetrug. Abkehr von der Welt hieß für ihn: Hinkehr zu den Seelen, Erhaltung der geistlichen Ressourcen der Menschheit. Seine Vorstellung von „Entweltlichung“ hatte nichts mit einem Rückzug aus dem gesellschaftlichen Engagement zu tun, oder gar mit einem Ausstieg aus der christlichen Caritas. Sein Appell war, widerständig zu bleiben, unbequem, unangepasst, wieder zu zeigen, dass christlicher Glaube weit über all das hinausreicht, was mit einer rein weltlichen, materialistischen Weltanschauung verbunden ist.
Es sei ihm natürlich klar gewesen, so Benedikt in der Rückschau, dass die Anregungen seines Deutschland-Besuches „vom etablierten Katholizismus nicht wirklich mitgetragen“ würden.
Insgeheim habe er jedoch gehofft, sagte er, dass sein Pastoralbesuch „im Innern auf seine Weise still wirkt; dass er die stillen Kräfte weckt“. Es blieb ein frommer Wunsch. Acht Jahre später setzte das Establishment der katholischen Kirche in Deutschland nach dem missglückten „Dialogprozess“ einen „Synodalen Weg“ in Gang, bei dem sich die Wegweisung Papst Benedikts nirgendwo niederschlägt.
kath.net Buchtipp
Benedikts Vermächtnis. Das Erbe des deutschen Papstes für die Kirche und die Welt
Von Peter Seewald
ISBN: 9783455012583
Hoffmann und Campe Verlag 2023
Hardcover, 400 Seiten
Preis: Euro 25,70
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