Folgen des Erdbebens in Syrien – „Die Sanktionen steigern das Leid der Syrer ins Unermessliche“

5. April 2023 in Interview


„Die EU-Sanktionen gegen Syrien müssen sofort beendet werden, wie auch die Österreichische Bischofskonferenz fordert.“ Vorsitzender von Christian Solidarity International/Sektion Deutschland, Pfarrer Peter Fuchs, im Gespräch mit Lothar C. Rilinger


München (kath.net) Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat unermesslich viele Schäden verursacht. Häuser, die nicht erdbebensicher errichtet worden waren, sind massenhaft eingestürzt und haben Zehntausende von Menschen, von denen nur wenige lebend gerettet werden konnten, unter sich begraben; die Infrastruktur ist zusammengebrochen, so dass die Überlebenden nur mühsam versorgt werden können. Obwohl umfangreiche Hilfsmaßnahmen in der Türkei sofort angelaufen sind, konnten wir dies in Syrien nicht feststellen. Auf Grund des Krieges in diesem Land wurden die Hilfsbedürftigen im Wesentlichen ihrem Schicksal überlassen und mussten fast ohne syrische Hilfe oder solche aus dem Ausland auskommen, um ihr Elend zu ertragen und zu mildern. Die Welt empörte sich über das Elend, doch gleichwohl konnten die Hilfsorganisationen nur äußerst eingeschränkt Hilfe leisten – die Kriegslage steht dem entgegen. Die Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International betreut zahlreiche Hilfsprojekte, unter anderem in den schwer von den Erdbeben betroffenen Gebieten in Syrien. Der Vorsitzende dieser Hilfsorganisation für Deutschland, Pfarrer Peter Fuchs, hat die Erdbebengebiete in Syrien aufgesucht, um sich ein Bild zu machen, wie die Hilfe verstärkt geleistet werden könnte. Gleich nach seiner Rückkehr aus dem Krisengebiet konnten wir mit ihm über die Lage sprechen.

Lothar C. Rilinger: Herr Pfarrer Fuchs, Anfang Februar hat sich in Syrien und der Türkei ein schweres Erdbeben ereignet. Was sind die schwerwiegendsten Folgen?

Pfarrer Peter Fuchs: Das apokalyptische Erdbeben vom 6. Februar hat die Türkei und Syrien mit brutaler Wucht getroffen. CSI ist in Syrien aktiv und mit dem Land seit vielen Jahren vertraut. Jetzt haben über 6000 Syrer ihr Leben verloren. In der Millionenstadt Aleppo, einem Zentrum der syrischen Christenheit, sind unzählige Häuser in sich zusammengebrochen. Einsturzgefährdete Wohnblocks wurden evakuiert. Menschen leben noch immer in Zelten an den Straßen. Wir gehen von Hunderttausenden Obdachlosen in Syrien aus. Die Verletzten stellen ein unüberschaubares Heer dar, dessen Zahl niemand genau benennen kann.

Rilinger: Steht die Hilfe für Syrien im Schatten der Hilfe für die Türkei, werden die Syrier also von internationalen Hilfsorganisationen benachteiligt?

Pfr. Fuchs: Bergungsarbeiten für Verschüttete waren in der Türkei und Syrien gleichermaßen notwendig und Nothilfe ist es noch.

Doch die Syrer wissen, dass man einen Unterschied zwischen ihnen und den Betroffenen in der Türkei macht. Sie sehen, dass Hilfsflüge von EU-Staaten in der Türkei ankommen. In Syrien landete bisher ein einziges EU-Flugzeug. Und die Bundesregierung in Berlin hat bei ihrer Hilfe für Syrien hautsächlich das nordwestsyrische Idlib im Sinn, das von islamistischen Kämpfern der Hayat Tahrir al-Scham (HTS), der Nachfolgeorganisation der Nusra-Front, kontrolliert wird. UN-Generalsekretär António Guterres musste deshalb am 14. Februar betonen, dass humanitäre Hilfe alle Syrer gleichermaßen erreichen müsse und forderte alle Staaten auf, den UN-Hilfsfonds für Syrien in Höhe von 397 Millionen US-$ zu finanzieren.

Rilinger: Aus Syrien kommen aber auch Klagen, die UN hätten das Land im Stich gelassen. Was ist da dran?

Pfr. Fuchs: Die Kritik der Regierung in Damaskus bezog sich nicht auf die UN. Schon am Tag des Erdbebens hatte sich das syrische Außenministerium mit einem Hilfeersuchen an alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gewandt.

Ein Sprecher der EU-Kommission aber erklärte am 7. Februar, dass man aus Damaskus kein Hilfsbegehren vorliegen habe. Der EU-Katastrophenschutz-Mechanismus sei daher nur für die Türkei ausgelöst worden.

Damaskus kooperiert mit den Vereinten Nationen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz erklärte David Beasley, Direktor des UN-Welternährungsprogramms (WFP), am 18. Februar gegenüber Reuters, dass die Regierungen in Ankara und Damaskus sehr gut mit dem WFP kooperierten.

Rilinger: Welche Rolle spielen hierbei die Sanktionen gegen Syrien?

Pfr. Fuchs: Aufgrund der Sanktionen von EU und der NATO-Staaten sind Banküberweisungen nach Syrien und von Syrien weiterhin unmöglich. In der EU lebende Syrer können ihren durch das Erdbeben obdachlosgewordenen Verwandten in Aleppo, Jable oder Latakia kein Geld überweisen. Kein syrisches Krankenhaus kann medizinische Geräte, Ersatzteile, Medikamente oder Generatoren im Ausland kaufen, wenn es diese nicht per Überweisung bezahlen kann.

Aufgrund der Sanktionen kann die syrische Ölindustrie keine Ersatzteile kaufen. Ölquellen im Osten des Landes sind von den USA besetzt. Seit Jahren herrscht deshalb ein dramatischer Treibstoffmangel. Ohne Treibstoff können aber Bagger und Krankenwagen nicht funktionieren. Ohne Öl und Diesel können auch keine Heizaggregate oder Stromgeneratoren laufen.

Es ist allgemein bekannt, dass die UN-Sonderberichterstatterin zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen, Prof. Alena Douhan, die Sanktionen gegen Syrien in einem Bericht vom 10. November 2022 in die Nähe eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit rückte. Die westlichen Sanktionen sind eine Kriegswaffe zum Zweck des Regimechange. Der syrische Staat wird durch die Sanktionen geschwächt. Damaskus kann seinen Bürgern keine sozialen Dienstleistungen mehr anbieten. Unter den Sanktionen leidet vor allem die Zivilbevölkerung. Vielbeschworene humanitäre Ausnahmen greifen nicht.

Dr. Nabil Antaki, Arzt, Katholik, Direktor der Hilfsorganisation Blaue Maristen und verlässlicher Projektpartner von Christian Solidarity International (CSI) in Aleppo betonte erst vor wenigen Tagen wieder, dass die Sanktionen Menschen töten.

Rilinger: In welcher Form ist die Christenheit in Syrien betroffen?

Pfr. Fuchs: Alle Syrer im Erdbebengebiet sind betroffen und es ist gute syrische Tradition, keine Unterschiede zwischen den Bürgern des Landes zu machen. Aber es ist wahr, dieses Erdbeben ist eine Katastrophe, zusätzlich zur Katastrophe des Krieges. Ich fürchte, dass nun noch mehr Menschen Syrien für immer verlassen werden – Christen und Muslime. Es besteht die reale Gefahr, dass die syrische Christenheit völlig ausbluten wird.

Rilinger: Wie können Europäer den Menschen in Syrien jetzt helfen?

Pfr. Fuchs: Die EU-Sanktionen gegen Syrien müssen sofort beendet werden. Die Österreichische Bischofskonferenz hat diese Forderung in einer weitsichtigen und mutigen Presseerklärung vom 17. März an die Staaten des Westens gerichtet. Die Sanktionen steigern das Leid der Syrer ins Unermessliche. Zudem brauchen die Menschen in Syrien unsere Unterstützung, um täglich zu überleben. Schon vor dem Erdbeben lebten 90 Prozent der Syrer unter der Armutsgrenze. Spenden für Nothilfe in allen ihren Formen sind weiterhin dringend nötig!

Rilinger: Pfarrer Fuchs, vielen Dank für Ihren ersten Bericht aus der Unglücksregion.

Archivfoto Pfr. Fuchs © Christian Solidarity International


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