Vor 25 Jahren erschütterte eine Bluttat die Schweizergarde

3. Mai 2023 in Chronik


Am 4. Mai 1998 erschoss ein Schweizergardist seinen Kommandanten, dessen Ehefrau und sich selbst - Trotz rascher Aufklärung durch den Vatikan befeuerte der Mordfall die Spekulationen - Von Johannes Schidelko


Vatikanstadt (kath.net/KAP) Die Bluttat erschütterte den Vatikan und sorgte vor 25 Jahren weltweit für Entsetzen: Ein 23-jähriger Vizekorporal der Päpstlichen Schweizergarde erschoss am Abend des 4. Mai 1998 seinen Kommandanten, dessen Ehefrau und sich selbst. Das Motiv für die Kurzschlusshandlung des Wallisers Cedric Tornay schien rasch klar - vielleicht zu rasch: verletztes militärisches Ehrgefühl, weil der neue Garde-Kommandant Alois Estermann ihn gemaßregelt und ihm eine erwartete Auszeichnung verweigert hatte - mit fatalen Folgen für seine berufliche Zukunft. Und auch der Ablauf der Bluttat war schnell aufgehellt: Tornay drang in die Dienstwohnung Estermanns ein, tötete ihn mit zwei Schüssen, verletzte dessen Frau tödlich mit einer einzigen Kugel und starb dann selbst an den Folgen eines Schusses.

Erst am Mittag des Mordtages hatte der Papst Estermann zum Kommandanten seiner 100 Mann starken Schutztruppe ernannt. Der Landwirt aus dem Kanton Luzern war 1980 als Seiteneinsteiger zur Garde gekommen. Ein Jahr später hatte er sich hohe Verdienste bei der Rettung des Papstes beim Attentat vom Petersplatz erworben.

Der Dreifach-Mord überraschte den Vatikan mitten in den Vorbereitungen zum Gardefest. Am Jahrestag des "Sacco di Roma" vom 5. Mai 1527, als die Schweizer Söldner den Papst vor marodierenden Landsknechten retteten und dabei 147 Mann verloren, werden stets die neuen Rekruten vereidigt. Aber statt des spektakulären Zeremoniells im Damasus-Hof wurden diesmal drei Leichen nebeneinander in der Gardekapelle aufgebahrt.

Im ersten Schock stand sogar eine Auflösung der letzten Papst-Garde im Raum. Aber schon bei der Totenmesse für das Ehepaar Estermann im Petersdom brachte der damalige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano Beruhigung. Der Papst erneuere in dieser schwierigen Situation sein Vertrauen in die Garde, versicherte er. Die "schwarze Wolke eines Tages" könne 500 Jahre großherzigen Dienstes nicht verdunkeln. Er sprach den Angehörigen sein Beileid aus, und betete zugleich für den mutmaßlichen Täter und seine trauernde Familie. - Für Tornay leitete am Tag danach der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, Amadee Grab, eine emotionale Totenfeier in der vatikanischen St.-Anna-Pfarrkirche - in kleinerem Rahmen.

Mordfall befeuert Spekulationen

Trotz rascher Aufklärung durch den Vatikan befeuerte der Mordfall die Spekulationen. War noch eine vierte Person im Zimmer - auf dem Tisch standen vier Gläser? Und warum hatte niemand die Schüsse gehört - ein Nachbar sprach nur von dumpfen Geräuschen? Steckte dahinter eine Spionage-Geschichte, eine Lovestory, ein Eifersuchtsdrama? Hatte Tornay eine Affäre mit der attraktiven Kommandantengattin, eine homosexuelle Beziehung zu deren Mann oder gar eine Dreierbeziehung? - Die Familie Estermann forderte öffentlich ein Ende von Verleumdungen.

Die Behauptung, Estermann habe für die Stasi spioniert (Deckname "Werder"), wurde von deren Ex-General Markus Wolf persönlich dementiert. Er outete stattdessen einen inzwischen verstorbenen Pater als seinen "Mann im Vatikan".

Das Abschlussgutachten vom Februar 1999 bestätigte nach Autopsie, zig Tests und 38 Zeugenbefragungen die vatikanische Anfangsdarstellung. Tornay sei charakterlich unreif gewesen, konnte höflich und charmant, aber auch aggressiv und respektlos sein. Er habe gelegentlich Haschisch konsumiert. In seinem Gehirn habe man eine Zyste entdeckt. Hinzu seien Stress, Zukunftsangst um berufliche Perspektiven und eine akute Bronchitis gekommen. All diese Faktoren hätten die Kurzschlusstat ausgelöst.

Für den Vatikan war der Tötungsfall damit juristisch und kriminologisch abgeschlossen, nicht aber für die Mutter Tornays. Sie äußerte von Anfang an Zweifel und machte sie mit Unterstützung von Anwälten öffentlich. Ihr Sohn sei ermordet worden, er sei nicht Täter, sondern Opfer, sagte sie mit Hinweis auf den angeblichen "vierten Mann", auf angeblich unterschiedliche Projektile und auf den angeblich gefälschten Abschiedsbrief. Der Vatikan habe den Vorgang viel zu früh ad acta gelegt und keine weiteren Fragen gestellt oder andere Spuren verfolgt. Ihr Versuch, den Fall 2004 vor die Schweizer Justiz zu bringen, blieb erfolglos.

Psychologische Eignungstests für Bewerber

Der Vatikan reagierte rasch: Vier Monate nach der Tragödie ernannte der Papst einen neuen Kommandeur. Pius Segmüller, Oberst im Schweizer Generalstab und zuletzt mit Sicherheitsfragen in Bern betraut, ordnete für Garde-Bewerber einen psychologischen Eignungstest an. Und um die Dauer-Rivalitäten zwischen Deutsch- und Welschschweizern abzufangen, machte er den Juristen Jean-Daniel Pitteloud zum ersten frankofonen Vize-Kommandanten.

Die Bluttat ist im Gardealltag heute kaum noch präsent; darüber sei Gras gewachsen, hört man. Viele der neuen Hellebardiere, die am 5. Mai ihren Eid auf den Papst ablegen, waren damals noch nicht geboren. Und dennoch ist dieser Tag seither nicht nur mit den 147 Verstorbenen vom Sacco di Roma verbunden, sondern auch mit den drei Toten von 1998.

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