Missbrauch – und kein Ende. Das gewordene Dauerthema und seine Umstände

8. Mai 2023 in Aktuelles


Ein Übel, das aus dem Dunkel des Verschweigens ans Licht zu bringen und so in seiner Krankhaftigkeit und Verworfenheit sichtbar zu machen ist. Von Walter Kardinal Brandmüller


Rom (kath.net/wb/as) „Der wütende Massenprotest auf dem Essener Katholikentag von 1968 gegen Pauls VI. Enzyklika Humanae vitae zeigt, wie weit die ethischen Normen der katholischen Moral schon in Frage gestellt waren.“

„Jetzt endlich sollten wenigstens jene Bistümer und Orden, deren Missbrauchs-Bericht noch aussteht, eiligst daran gehen, diesen zu erstellen – und dann gemeinsam, gleichzeitig zu veröffentlichen, um damit einen Schlusspunkt zu setzen.“

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Wie ein schriller übeltönender Cantus firmus bestimmt seit nahezu zwanzig Jahren das Thema „Missbrauch“ von Kindern und Jugendlichen das deutsche Medienkonzert. Keine Frage: ein rundum abscheuliches Geschehen, das zu verurteilen ist. Ganz besonders verwerflich ist es, wenn dergleichen im Raum der Kirche, von deren geistlichem und weltlichem Personal begangen wird.

Noch schlimmer ist es jedoch, dass, obwohl seit einigen Jahren in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt, nur in wenigen Diözesen – wie in vorbildlicher Weise Köln und München – entsprechende Untersuchungen und dann auch Maßnahmen ergriffen worden sind, um dem Skandal ein Ende zu bereiten. Die Mehrzahl der deutschen Bistümer ist unverständlicherweise bis heute untätig geblieben. Einige Initiativen der Bischofskonferenz können jedoch die Aufarbeitung des Problems durch die einzelnen Diözesen nicht ersetzen. Dazu nun einige Überlegungen.

I

Fragen wir zuerst nach der Wahrnehmung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene, so fällt ins Auge, wie wenig davon bis an die Jahrtausendwende überhaupt an die Öffentlichkeit gedrungen ist, und ob, wenn dies in Einzelfällen geschehen ist, man darin ein wirkliches Problem erkannte. Selbst so spektakuläre Fälle wie jener der „Odenwaldschule“, von dem höchste Gesellschaftskreise betroffen waren, gelangten erst spät an die Öffentlichkeit. Hinzu kam die im Gefolge der 68er-Bewegung propagierte Schleifung moralischer Bastionen – man denke an das Treiben von „Kommunen“, Promiskuität, „Kinderläden“ etc. Auch prominente Politiker der „Grünen“ propagierten „Sex mit Kindern“ als eine Form der Emanzipation von „bürgerlich-spießigen“ Moralvorstellungen. Welcher Politiker, welche gesellschaftlich maßgeblichen Kräfte haben damals gegen die politisch propagierte menschenfeindliche Amoral protestiert?

Der wütende Massenprotest auf dem Essener Katholikentag von 1968 gegen Pauls VI. Enzyklika Humanae vitae zeigt, wie weit die ethischen Normen der katholischen Moral schon in Frage gestellt waren.

Damit war der Boden für die Ausbreitung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen bereitet, entscheidende Hemmungen für manchen Täter gefallen.

Nur so ist das Überhandnehmen dieses Übels zu verstehen. Nun aber kommen noch andere Momente hinzu: Es wurde – obwohl immer wieder auf diesen Zusammenhang verwiesen wurde – zu leugnen versucht, dass es hier nicht sosehr um Kindesmissbrauch ging und geht, sondern um Missbrauch von Jugendlichen jenseits der Pubertät – und zwar männlicher Jugendlicher. Da nun wäre eigentlich von Homosexualität die Rede. Doch eben dies wird von jenen Kreisen geflissentlich bestritten oder verschwiegen, die die man mittlerweile als „katholische“ Homo-Lobby bezeichnen möchte, und die sich seit neuestem selbst bischöflicher etc. Sympathie erfreut. Wie anders wäre die Forderung der „Frankfurter“ Synodenmehrheit nach Segnung homosexueller Paare zu erklären?

II

Nun aber soll versucht werden, diesen Befund in einem weiteren gesellschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang zu betrachten, damit ein nüchtern-sachliches, nicht von Emotionen getrübtes Bild der Wirklichkeit gewonnen werden kann. Zu diesem Zwecke ist zunächst die bisher hauptsächlich auf die katholische Kirche begrenzte Sicht des Missbrauchsphänomens auf die gesamtgesellschaftliche Situation auszuweiten.

In der Tat haben auch andere kirchliche Gemeinschaften  spät und eher zögerlich derlei Vorfälle in ihren Reihen eingeräumt. Der Journalist Thomas Klapp: „Die mediale Öffentlichkeit hat sich ausschließlich auf die katholischen Vorgänge gestürzt. Die Protestanten haben sich neun Jahre lang im medialen Windschatten der katholischen Skandale ausgeruht“ (Deutschlandfunk, 28.2.2019).

Ähnliches wird von den Sportvereinen, selbst von Olympia-Teams berichtet. In diesem Milieu erleichterte das Autoritätsverhältnis des Sportlers zum Trainer solche Übergriffe, die im Hinblick auf Karriere geduldet, ertragen wurden. Auch hier kommen erschütternde Tatsachen ans Licht.

Hinzu kommt der Missbrauch innerhalb der Familien, sogar durch Eltern. Dass von diesen besonders schlimmen Fällen die große Mehrzahl nie bekannt oder geahndet wird, ist wegen des Nahverhältnisses von Opfer und Täter erklärbar.

Nun endlich sollten einschlägige Untersuchungen auch in Jugendorganisationen durchgeführt werden. Wie weit homosexuelle Propaganda bereits in den 1980er-Jahren z. B. in der Pfadfinderschaft gediehen war, konnte Vf. selbst sehen, als ihm die Führerzeitschrift eines Pfadfinderbundes zugespielt wurde, in der alle möglichen homosexuellen Praktiken in Wort und Bild beschrieben waren.

Und nun die Frage: warum ist all dies in weit geringerem Maße Gegenstand der öffentlichen Diskussion als die Vorgänge in der katholischen Kirche? Nun, wohl auch deshalb, weil hier die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders offenkundig und unerträglich ist.

III

Hier angelangt sind nun einige Fragen genannt, wie eine Gemeinschaft, wie die Kirche, sich diesem Problem zu stellen habe.

Dabei ist zunächst zwischen unseren Zeitgenossen und der Generation zu unterscheiden, die sich dem Übel in jenen Jahren zu stellen hatte, in denen ein entsprechendes Problembewusstsein noch nicht entwickelt war. Und – das kommt erschwerend dazu- dass sexueller Umgang mit Kindern sogar von der 68er-Bewegung und von Politikern einer bestimmten Richtung propagiert wurde.

In der Tat wandelt sich das Problembewusstsein, wandeln sich die Moralvorstellungen der Gesellschaft. So wird denn manches heute als unproblematisch hingenommen, gar propagiert, was frühere Generationen als verwerflich betrachtet hatten-und umgekehrt.

Einige Beispiele nur: Im Zeitalter der Industrialisierung hatte man keine Bedenken, große Schutthalden anzulegen, chemische Abfallsubstanzen in Gewässer einzuleiten oder einfach im Boden zu vergraben. Erst die nächsten Generationen mussten die vorher ungeahnten bitteren Folgen davon tragen.

Man denke auch daran, dass immer wieder bei Bauarbeiten im Untergrund giftiger Chemiemüll entdeckt und deshalb manches Bauvorhaben nicht verwirklicht werden kann. Man hatte „damals“ diese Giftstoffe ahnungslos im Boden „entsorgt“. Ähnliche Fälle sind mittlerweile bekannt geworden, und nicht selten hatten sie ein kompliziertes juristisches Nachspiel.

Wer hätte auf dem Höhepunkt der industriellen Entwicklung des 19. Jahrhunderts auch daran gedacht, dass die Anlage von Bergwerken dazu führen könnte, dass noch nach hundert Jahren über einer solchen Grube entstandene Häuser einmal einstürzen könnten, weil der Untergrund sich bewegte?

Der Beispiele für ähnliche Fälle sind nicht wenige. Die Frage ist nur: wer trägt daran die Schuld?

IV

Dabei ist zu beobachten, dass „damals“ bei der Beantwortung nahezu ausschließlich der Täter im Blickfeld war, und – in heute unverständlicher Weise – kaum das Opfer. Und: mangels heute selbstverständlicher psychologischer Kenntnisse meinte man „damals“, dass Reue und guter Vorsatz seitens des Täters genügen könnten, um ihn von weiteren Untaten abzuhalten. Also verordnete man ihm Buße und Strafe, Versetzung in einen anderen Wirkungsbereich, und glaubte, ihm damit einen sittlichen Neubeginn zu ermöglichen.

Erst der Fortschritt der Psychologie, Psychopathologie, erlaubte es, als Ursache der Untaten abgründige seelische Fehlhaltungen zu erkennen, denen mit bloßen Versetzungen nicht zu begegnen war.

Nicht wenige kirchliche Vorgesetzte verdrängten sodann eher das Abscheuliche, das es zudem vor der Öffentlichkeit tunlichst zu verbergen galt, um Ärgernis zu vermeiden.

Dass es von diesen Verbrechen Betroffene gab, und diese tiefgreifende seelische Verletzungen erlitten, blieb merkwürdigerweise, vielleicht auch aus Verlegenheit der Mitwissenden, außer Betracht. Litten doch die Missbrauchsopfer selbst - und leiden zumeist jahrzehntelang – unter tiefsitzender Unfähigkeit, da Erlittene in Worte zu fassen. Ähnliches mag von Personen gelten, die Kenntnis von solchen Fällen hatten.

Es ist ja in der Tat – gerade wegen der Widernatürlichkeit solcher Vorfälle – nicht leicht, darüber zu sprechen.

V

Nun aber ist dies wie in einem Dammbruch geschehen. Die Auseinandersetzung damit war unausweichlich geworden.

Diese allerdings hat häufig in Formen stattgefunden – und dies geschieht noch immer – die dem Ernst und vor allem dem gesamtgesellschaftlichen Ausmaß des Missbrauchs und dessen Opfern nicht gerecht werden. Dass es hierbei nicht um eine leichte Beute für den Boulevardjournalismus geht, sondern um ein bedrückendes Problem, blieb und bleibt häufig außer Betracht.

Für nicht wenige Verantwortliche galt es lange eher, das Ansehen der jeweiligen betroffenen Institution zu schützen. Dass dabei die sittliche Pflicht zur Wahrhaftigkeit zu häufig verletzt wurde, ist nicht zu leugnen.

Inzwischen ist jedoch – man ist ins gerade Gegenteil verfallen – „Missbrauch“ zum Dauerthema geworden. Die Schuld daran liegt nicht zuletzt bei der Deutschen Bischofskonferenz, die nicht in der Lage war - und ist -, die einzelnen Diözesen zu gemeinsamem Vorgehen zusammenzuführen. Gerade dann, wenn es um ein alle Diözesen betreffendes Problem ging, wären gemeinsam getroffene Maßnahmen notwendig gewesen, die zu einem gemeinsamen Bericht und dessen Veröffentlichung hätten führen müssen. Dass das nicht geschehen ist, hat nun zur Folge, dass, wenn immer ein weiterer Missbrauchsbericht bekannt wird, die Diskussion neu angefacht und die Gelegenheit von interessierter Seite neu benutzt wird, um die katholische Kirche – und nur sie – immer wieder neu an den Pranger zu stellen.

Dieses Versagen der Bischofskonferenz – in ihrem ureigenen Kompetenzbereich – d.i. das Verhältnis der Kirche zu Staat und Gesellschaft – wiegt schwer. Dessen ungeachtet leisten wir uns lieber das fatale Abenteuer des Synodalen Weges, als das wahrlich bedrängende Übel des Missbrauchs in Gesellschaft und Kirche in Angriff zu nehmen.

Jetzt endlich sollten wenigstens jene Bistümer und Orden, deren Missbrauchs-Bericht noch aussteht, eiligst daran gehen, diesen zu erstellen – und dann gemeinsam, gleichzeitig zu veröffentlichen, um damit einen Schlusspunkt zu setzen. Zugleich wäre dies eine unmissverständliche Aufforderung an alle gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen – sofern sie mit Kindern zu tun haben oder Jugendarbeit betreiben – in ähnlicher Weise voranzugehen.

So könnte auch in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein der Schwere und der Folgen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen geschärft werden. Eines Übels, das aus dem Dunkel des Verschweigens ans Licht zu bringen und so in seiner Krankhaftigkeit und Verworfenheit sichtbar zu machen ist.

 


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