7. Juni 2023 in Interview
Ein Gespräch zwischen dem Leiter der internationalen Kommunikation von Christian Solidarity International, Joel Veldkamp, und Lothar C. Rilinger
Hannover (kath.net) Nach dem Krieg im Jahr 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet Berg-Karabach und notdürftiger Schlichtung durch Russland wurde es dem Staat Aserbaidschan zugeschlagen. Allerdings stehen sich die Völker von Aserbaidschan und Berg-Karabach in Feindschaft gegenüber – mit der Folge, dass Aserbaidschan das Volk der Karabach-Armenier auslöschen möchte. Immer wieder kam es zu Übergriffen seitens des aserbaidschanischen Staates. Die armenische Bevölkerung wurde vertrieben, und das kulturelle und religiöse Erbe wurde und wird systematisch vernichtet. Seit bald einem halben Jahr blockiert nunmehr das autoritär geführte Land den Latschin Korridor, der die einzige Verbindungsstraße zwischen Armenien und Berg-Karabach bildet, sowie die Strom- und Gasversorgung. Lebenswichtige Versorgungsgüter können nicht mehr eingeführt werden. Für die Karabach-Armenier wird deshalb die Situation immer dramatischer. Es droht ein weiterer Genozid an den christlichen Armeniern Wir sprachen mit Joel Veldkamp über die Lage in Berg-Karabach. Er ist Leiter der internationalen Kommunikation bei Christian Solidarity International und leitet zahlreiche Projekte in der Region.
Lothar C. Rilinger: Aserbaidschanisch blockiert seit über 160 Tagen mit dem Latschin-Korridor die einzige Verbindungsstraße von Armenien nach Berg-Karabach. Wie sind die Reaktionen darauf?
Joel Veldkamp: Seit den ersten Tagen der Blockade haben zahlreiche Regierungen Aserbaidschan aufgefordert, den Latschin-Korridor zu öffnen, darunter die Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. Der Internationale Gerichtshof hat Aserbaidschan direkt aufgefordert, die Straße zu öffnen. Aserbaidschan hat sie alle einfach ignoriert. In dieser Zeit des Krieges in Europa scheint der Westen beschlossen zu haben, dass die Freundschaft und die Öllieferungen Aserbaidschans zu wertvoll sind, um energische Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermordes zu riskieren. Russland, dessen Friedenstruppen angeblich den Korridor schützen sollen, scheint genauso zu denken.
Rilinger: Was bedeutet die Blockade für die Menschen in Berg-Karabach?
Veldkamp: Die Menschen in Berg-Karabach sind von wichtigen Versorgungsgütern abgeschnitten. Vor allem an Obst und Fleisch, aber auch an notwendigen Hygieneartikeln mangelt es. Für Babys gibt es kaum noch Windeln. In den Krankenhäusern müssen Operationen abgesagt werden, da Medizinprodukte fehlen. Auch die Strom- und Gasversorgung ist abgeschnitten. Viele Menschen vor Ort fürchten daher den völligen Zusammenbruch der Versorgung.
Rilinger: Der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern eskaliert seit dem Ende des Sowjetsystems in unterschiedlich schweren Graden. Was sind die Hintergründe des Konfliktes?
Veldkamp: Die Sowjetunion eroberte die Region im Jahr 1920. Ein Jahr später zog Josef Stalin, der sowjetische Kommissar für Nationalitäten, die Grenzen der Region neu, so dass Berg-Karabach - das zu 95 % aus Armeniern bestand - innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik lag. Als sich die Sowjetunion 1988 zu öffnen begann, begannen die Armenier von Berg-Karabach für ihre Freiheit zu protestieren. Aserbaidschan und die Sowjets reagierten mit einer Blockade der Region und der Vertreibung Zehntausender Armenier aus ihren Häusern. Die Armenier wehrten sich, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 begann die Republik Armenien an ihrer Seite zu kämpfen. Der Krieg endete 1994 mit einem brüchigen Waffenstillstand, und Berg-Karabach wurde zu einer unabhängigen, wenn auch nicht anerkannten, Republik. Leider waren Hunderttausende Aserbaidschaner gezwungen, während der Kämpfe aus ihrer Heimat zu fliehen. Der Frieden hielt bis 2020, als Aserbaidschan mit Militär, das durch massive Ölgewinne finanziert wurde, und mit Hilfe der Türkei und Tausender Dschihadisten aus Syrien, einen neuen Krieg zur Vernichtung der Armenier begann.
Rilinger: Inwiefern ist der Konflikt religiös motiviert?
Veldkamp: Aserbaidschan ist ein autoritäres System. In der Propaganda schmückt man sich gerne mit den Rechten von Minderheiten. Dies aber nur solange, wie die Minderheiten auch absolut systemtreu sind. Was man in Aserbaidschan niemals zulassen würde, das ist eine selbstbewusste, christlich-armenische Minderheit. Deshalb zielt auch alles auf vollständige Vertreibung der Karabach-Armenier ab. Die Blockade zielt genau darauf ab, die Lebensumstände vor Ort unmöglich zu machen und die Menschen letztendlich dazu zu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. In der aserbaidschanischen Kriegsrhetorik bezieht man übrigens immer wieder gegen den christlichen Glauben der Karabach-Armenier Stellung. Am Krieg 2020 haben sich Dschihadisten aus Syrien beteiligt, um gegen die Ungläubigen zu kämpfen. Und nicht zuletzt werden die uralten Glaubenszeugnisse der Armenier vernichtet, sobald Gebiete unter aserbaidschanischer Herrschaft sind.
Rilinger: Beobachter fürchten mittlerweile sogar einen Völkermord an den Karabach-Armeniern. Warum?
Veldkamp: Wir kennen zahlreiche schwerste Verbrechen, die an Armeniern im Zuge des letzten Krieges begangen wurden. Ein Beispiel: Als Aserbaidschan im September 2022 in Armenien einmarschierte, massakrierten sie sieben armenische Gefangene und vergewaltigten, ermordeten und schändeten die Leiche einer armenischen Soldatin. Wir wissen das, weil die Soldaten, die diese Dinge getan haben, sie auf Video aufgenommen und ins Internet gestellt haben – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Dies ist die Definition eines Klimas für Völkermord. Sollte es zu einem bewaffneten Konflikt um Karabach kommen, wird es mit ziemlicher Sicherheit zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen, die jeden Krieg, den Aserbaidschan seit 1988 gegen die Armenier geführt hat, begleitet haben.
Rilinger: Vor kurzem trafen sich Vertreter der Konfliktparteien in Brüssel zu Verhandlungen. Wie schätzen Sie die aktuellen Chancen auf dauerhaften Frieden ein?
Veldkamp: Die USA und die Europäische Union scheinen Armenien in einen Frieden zu Lasten der Menschen in Berg-Karabach drängen zu wollen. Dahinter steckt ganz klar der Wunsch, problemlos an Öl- und Gaslieferungen aus Aserbaidschan zu kommen. Das könnte das Ende der uralten christlichen Kultur in Berg-Karabach, das eigentlich Arzach heißt, bedeuten. Auf Grund des großen Drucks scheint sich Armenien aber darauf einlassen zu wollen.
Rilinger: Wie könnte es aus Ihrer Sicht zu einer dauerhaft guten Lösung des Konflikts kommen?
Veldkamp: Die Wurzel des Konflikts ist Aserbaidschans Aggression gegen die Armenier und seine Weigerung, das Selbstbestimmungsrecht des Volkes von Berg-Karabach zu akzeptieren. Eine dauerhafte Lösung des Konflikts könnte gefunden werden, wenn die Verbündeten Aserbaidschans - insbesondere die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Europäische Union - die Aggression Aserbaidschans eindämmen und deutlich machen, dass sie nicht zulassen werden, dass die Armenier von Berg-Karabach aus ihrer Heimat vertrieben werden.
Bevor Aserbaidschan im Jahr 2020 in Berg-Karabach einmarschierte, lief unter der Leitung der Minsk-Gruppe (unter dem gemeinsamen Vorsitz der USA, Frankreichs und Russlands) ein Friedensprozess, um ein Friedensabkommen zu erreichen, das auf den Grundsätzen der Selbstbestimmung, der territorialen Integrität und der Nichtanwendung von Gewalt beruht. Der einzige Grund für die Unterbrechung des Friedensprozesses ist, dass Aserbaidschan erkannt hat, dass es mit Gewalt erreichen kann, was es will. Wenn die aserbaidschanische Aggression gestoppt würde, könnte der Friedensprozess wieder aufgenommen werden.
Rilinger: Vielen Dank, Herr Veldkamp.
Lothar Rilinger (siehe Link) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R. und stellvertretendes Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes a.D.
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