„Wir lehnen jede Beihilfe zum Suizid ausnahmslos ab – Ein Arzt soll Leben retten, nicht vernichten“

4. Juli 2023 in Interview


Susanne Wenzel (CDL) zur kommenden Bundestagsentscheidung über Suizidbeihilfe: Schon jetzt „lassen wir Menschen in ihrer vermutlich schwächsten und verletzlichsten Phase allein und liefern sie monetären Interessen aus“. Interview von Petra Lorleberg


Berlin (kath.net/pl) Im November 2014 hatte der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das die gewerbsmäßig organisierte Suizidhilfe unter Strafe stellte. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende Februar 2020 entschieden, dass der § 217 StGB, der das Verbot geregelt hatte, verfassungswidrig und damit nichtig ist. Nach Ansicht der Richter hat jeder Mensch das Recht, sich das Leben zu nehmen und auch das Recht, die Hilfe Dritter dabei in Anspruch zu nehmen. Wir haben mit Susanne Wenzel, der Bundesvorsitzenden der Christdemokraten für das Leben e. V. (CDL), über die aktuelle Situation gesprochen.

kath.net: Der Bundestag will in der kommenden Woche die Neuregelung der Suizidbeihilfe beschließen. Es liegen ferner zwei Anträge zur Suizidprävention vor. Worüber genau wird der Bundestag abstimmen?

Wenzel: Es liegen aktuell zwei interfraktionelle Gesetzentwürfe vor.  Da ist zunächst der Antrag um die Gruppe der Abgeordneten Lars Castellucci (SPD), Ansgar Heveling (CDU) und Dr. Stephan Pilsinger (CSU). Diese Gruppe sieht nach wie vor eine Regelung im Strafrecht vor, also einen neuen § 217 StGB, der grundsätzlich die geschäftsmäßige, also auf Wiederholung angelegte, Beihilfe zum Suizid unter Strafe stellt. Es werden dann Bedingungen formuliert, unter denen die Beihilfe ausnahmsweise nicht strafbar und auch nicht rechtswidrig sein soll. Dazu gehört, dass der Suizidwillige volljährig und einsichtsfähig ist, also die Entscheidung wirklich selbstbestimmt getroffen hat, was in zwei mehrere Wochen auseinanderliegenden Untersuchungen durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie nachgewiesen werden muss. Dies setzt ein „ergebnisoffenes“ Beratungsgespräch voraus. Zwischen der letzten Untersuchung und dem Suizid liegt eine Wartefrist von mindestens zwei Wochen, von der in Härtefällen abgewichen werden kann. Bislang hatte dieser Entwurf mit 111 Abgeordneten die meisten Unterstützer.

Der zweite Gesetzentwurf wurde erst vor wenigen Tagen vorgestellt, ist aber bislang nicht auf der Webseite des Bundestages zu finden – und das kurz vor der Abstimmung. Hierbei handelt es sich um eine Zusammenlegung der beiden Entwürfe der Gruppe um Kathrin Helling-Plahr (FDP) und der Gruppe um Renate Künast (B90/Grüne), die möglichst wenige Einschränkungen vorsehen. Bereits dem Titel des Gesetzesentwurfs „Gesetz zum Schutze des Rechtes auf selbstbestimmtes Sterben und zur Regelung der Hilfe zur Selbsttötung“ kann man entnehmen, dass es darum geht, das durch das Bundesverfassungsgericht postulierte „Recht auf Suizid“ durchzusetzen. Auch hier steht die freie Entscheidung, also der autonom gebildete von Dritten unbeeinflusste Wille im Zentrum. Das Beratungsangebot ist durch die Länder sicherzustellen. Im Übrigen kann die Beratung hiernach von allen Ärzten vorgenommen werden, ist also nicht an einen Facharzt gebunden. Schon hier stellt sich unter anderem die Frage, wie das im normalen Praxisalltag funktionieren soll. Wir hören ja fortlaufend Schilderungen, dass die Ärzte im täglichen Praxisgeschäft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen. Wie soll denn hier adäquat auf einen Menschen eingegangen werden, der in einer absoluten Ausnahmesituation steht? Eine suizidale Krise ist ein Notfall, der ein echtes Gespräch verlangt, das nicht zeitlich eingeschätzt werden kann, sondern Zeit braucht. Beide Gruppen haben jeweils einen Antrag zur Suizidprävention eingebracht. Während die Gruppe um Castellucci und Heveling zumindest noch ein Gesetz zur Suizidprävention fordert, reicht es der Gruppe um Helling-Plahr, wenn die Regierung eine Nationale Strategie zur Suizidprävention vorlegt.

"Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist aus unserer Sicht absolut fehlgeleitet"

kath.net: Welche Position vertritt die CDL?

Wenzel: Wir lehnen jegliche Beihilfe zum Suizid ausnahmslos ab, insofern sind wir mit keinem der Gesetzentwürfe einverstanden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist aus unserer Sicht absolut fehlgeleitet und hat die Autonomie des Menschen über alles andere gestellt, geradezu dramatisch überhöht. Zur Realität gehört, dass der Einzelne zwar am Suizid nicht gehindert werden kann durch den Staat, aber die Rechtsordnung muss die Tat als solche klar ablehnen und darf sie nicht auch noch fördern. Menschen sind gerade am Lebensende, bei schwerer Erkrankung oder Depression, auf Solidarität, Unterstützung und medizinische Betreuung angewiesen. Wir dürfen sie mit dem Suizidwunsch nicht allein lassen. Das ist sowohl ethisch als auch rechtlich geboten und darin zeigt sich auch echte Humanität.

kath.net: Die Bundesärztekammer und weitere Fachverbände kritisieren, dass die Abstimmung zu früh ohne angemessene Diskussion kommt und vor einer Regelung zur Suizidbeihilfe zunächst ein Präventionskonzept gesetzlich verankert werden solle. Teilen Sie diese Auffassung?

Wenzel: Unbedingt. Auch aus unserer Sicht kommt der Suizidprävention eine entscheidende Bedeutung zu. Präventive Maßnahmen sind gesetzlich zu verankern. Die Palliativ- und Hospizversorgung sind auszubauen und es muss auch viel mehr über diese Möglichkeiten informiert werden. Angebote zur Krisenintervention müssen rund um die Uhr an allen Tagen des Jahres niedrigschwellig erreichbar sein. Das ist nur eine sehr kleine Aufzählung. Die Fachgesellschaften haben hierzu Konzepte vorgeschlagen. Und dies sollte zu allererst geregelt werden. Die bisherige Debatte ist nach unserer Auffassung nahezu ausschließlich auf die Durchsetzung eines angeblichen „Rechtes“ auf Suizid, quasi auf die Durchsetzung der „totalen“ Autonomie ausgerichtet. Das aber kann nicht Aufgabe des Staates sein.

kath.net: Es gibt Stimmen, die generell überhaupt kein Gesetz machen würden, weil das Urteil der Richter doch jedem das Recht auf Suizid und die Hilfe Dritter hierzu zubilligt. Derzeit haben wir ja auch keine Regelung. Sollten wir es dabei belassen?

Wenzel: Das hielte ich für vollkommen falsch und ich finde, diese Ansicht ist auch ein bisschen naiv.

Zunächst einmal haben wir derzeit die liberalste Regelung überhaupt. Nämlich gar keine. Das heißt, es ist allem und jedem Anbieter Tür und Tor geöffnet. Entsprechende Organisationen haben ja bereits bei einer dreistelligen Zahl von Menschen seit dem Urteil im Februar 2020 auch ihre „Dienste“ angeboten. Und das ohne jede Möglichkeit, den Betroffenen Alternativen zu eröffnen oder eine Krisenintervention anzubieten.

Das heißt konkret, wir lassen momentan die Menschen in ihrer vermutlich schwächsten und verletzlichsten Phase vollkommen allein und liefern sie damit monetären Interessen aus.

Gleichzeitig müssen wir auch sehen, was mit Einrichtungen passiert, in denen diese Gruppen tätig werden. Es wurde bereits in Senioren- und Pflegeheimen Beihilfe geleistet. Ich glaube, es ist unrealistisch anzunehmen, dass dies nicht auch etwas mit den anderen Bewohnern macht. Es gibt da leider derzeit keinen konkreten Überblick, aber ich bin davon überzeugt, dass die Gefahr von Nachahmungseffekten, des sogenannten „Werther-Effektes“, durchaus real ist. Und die Betreiber haben keine Chance, dagegen etwas zu unternehmen und die ihnen anvertrauten Menschen zu schützen. Sie sind zwar nicht zur Beihilfe gezwungen aber sie haben eben auch keine Chance, die Suizidbeihilfe rechtssicher in ihren Einrichtungen zu verbieten. Dazu wird es Regelungen geben müssen. Für die Betreiber. Aber auch für deren Belegschaft zur Wahrung ihrer Gewissensfreiheit.

"Der Gesetzgeber könnte es riskieren, dass auch das neue Gesetz vor dem Höchstgericht landet"

kath.net: Also doch eine Regelung, die Ausnahmen vom Tötungsverbot zulässt?

Wenzel: Nein, ganz und gar nicht. Die CDL ist hier eindeutig und ganz klar: die Beihilfe muss verboten sein. Leider macht das keiner der beiden Entwürfe. Der Gesetzgeber könnte durchaus auch eine Regelung beschließen, die nicht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes entspricht, er ist an das Urteil nicht gebunden.

Und der Gesetzgeber könnte es riskieren, dass auch das neue Gesetz vor dem Höchstgericht landet. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass die Richter auch noch einmal anders entscheiden. Zur Autonomie des Menschen gab es früher ganz andere Aussagen des Gerichtes, die den Menschen nicht als „selbstherrliches“, nur sich selbst verpflichtetes Wesen definiert haben, sondern als Teil der Gemeinschaft, der natürlich im Gesamtgefüge auch Einschränkungen unterworfen ist, die der „Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens zieht“, wie es in einer Entscheidung heißt. Es ist Teil unserer Lebensrealität, dass wir uns als Mensch erst in Abhängigkeit von anderen und in Beziehung mit anderen erfahren.

kath.net: Fachleute sprechen von der Notwendigkeit einer großangelegten Informations- und Aufklärungskampagne u. a. für Hospiz- und Palliativangebote. Gibt es da schon genug oder ist hier wirklich Bedarf?

Wenzel: Da ist nach Auffassung der CDL eine Menge Luft nach oben. Wenn wir uns zum Beispiel die öffentliche Berichterstattung ansehen, ist diese doch bisher ziemlich einseitig und lässt überwiegend Menschen zu Wort kommen, die versuchen, ihr „Recht auf Suizid“ durchzusetzen und die bislang durch Bestimmungen daran gehindert werden. Das ist aus meiner Sicht keine angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema, denn diese Art der Berichte beeinflusst die allgemeine Diskussion in eine bestimmte Richtung. Und das ist aus mehreren Gründen bedenklich. Zum einen kennen wir den gerade schon genannten „Werther-Effekt“, der davon ausgeht, dass die Berichterstattung über Suizide immer Nachahmer erzeugt, also zu weiteren Suiziden führt. Deshalb wird z. B. seit Jahren nicht mehr über Suizidmethoden berichtet, und in der Presse wird unter Artikeln zum Thema immer auf Hilfsangebote wie die Telefonseelsorge hingewiesen.

Völlig zu kurz kommt aber, dass es auch eine entgegengesetzte Auswirkung gibt, nämlich den sogenannten „Papageno-Effekt“, der besagt, dass nach Berichten über die Überwindung von Suizidwünschen und suizidalen Krisen die Nachfrage nach Hilfen und Intervention steigt. Würde also vermehrt darüber berichtet, dass Menschen psychologische bzw. medizinische Hilfe bekommen durch Palliativangebote oder wie sie ihre suizidale Krise überwunden haben, hätte das sicher einen positiven Effekt.

Es hat im Frühjahr eine Studie darüber gegeben, dass bei Umfragen zum Thema Suizidbeihilfe die Fragestellung entscheidend für die Zustimmung ist. Das gilt letztlich natürlich für alle Umfragen, aber hier ist es doch besonders wichtig, da bislang ja immer ein anderer Eindruck erzeugt wurde. So konnte nachgewiesen werden, dass die Zustimmung ganz entscheidend abnimmt, sobald die Fragestellung erweitert wird um Hilfsangebote, wie z. B. Palliativ- und Hospizversorgung. Das Ergebnis kehrt sich quasi um und es gibt keine breite Zustimmung mehr für Suizidhilfe.

Auch sogenannte „Awareness-Kampagnen“, in denen über Krankheitsbilder aufgeklärt wird, spielen eine große Rolle. So gibt es schon eine sehr gute Kampagne zu Depressionen, für die sich u.a. der Schauspieler Simon Licht als Testimonial engagiert. Solche Dinge sind essenziell, weil wir so auch lernen, aufeinander zu achten.

kath.net: Was sollte der Bundestag aus Ihrer Sicht denn nun machen?

Wenzel: Er sollte tatsächlich auf die Abstimmung am Donnerstag verzichten. Er sollte auf die Fachgesellschaften hören, die Wissenschaft mit einbeziehen, ein Schutzkonzept, also ein „Suizidverhinderungskonzept“ erarbeiten und dann noch einmal in einer gesonderten Debatte über die Frage debattieren, wie er den Zusammenhalt der Menschen in unserem Land stärken und Rahmenbedingungen für eine solidarische und sich umeinander sorgende Gesellschaft schaffen will. Während der Coronamaßnahmen wurde fortlaufend der Zusammenhalt und das Miteinander der Gesellschaft beschworen. Beim Thema Energieverbrauch im letzten Winter dasselbe. Wo sind diese Reden jetzt? Richtig ist, dass man das nicht überstrapazieren darf, aber hier ist es angebracht. Eine solche Debatte wäre wirklich mal eine „Sternstunde des Parlaments“ wie es immer heißt bei diesen ethischen Fragestellungen.

Es ist vor allem in dem Entwurf von Helling-Plahr und Künast die Rede von der Entstigmatisierung des Suizides. Das ist aus meiner Sicht ein völlig falscher Ansatz. In dem Moment, in dem wir den Suizid als etwas Normales in unserer Gesellschaft, als etwas, was dazugehört oder gar als „medizinische Behandlungsalternative“, ärztliche Dienstleistung etc. definieren, haben wir als humane Gesellschaft verloren. Das Tötungsverbot gehörte immer zu den Grundsäulen unserer Kultur- und Gesellschaftsordnung, nicht umsonst ist es in Recht gefasst. Der Arzt hat die Aufgabe, Leben zu retten und zu heilen, nicht Leben zu vernichten. Und wir müssen alles dafür tun, dies zu halten. Das zeigen uns übrigens auch die Entwicklungen in anderen Ländern. In allen Ländern, in denen Sterbehilfe möglich ist, erlebt man eine eklatante Steigerung der Zahlen und gleichzeitig eine allmähliche Ausweitung der Indikationen sowie eine Veränderung in der Gesellschaft, die so weit geht, dass Schwerstkranke sich rechtfertigen müssen, wenn sie nicht sterben wollen. Der Umgang mit schwachen, kranken und alten Menschen wird allmählich von einer Kosten-Nutzenerwägung geprägt.

Leben ist immer wert, gelebt zu werden und jeder Mensch ist gleich wertvoll, da gibt es keine Abstufungen. Wir müssen deshalb die Suizidwünsche entstigmatisieren und nicht den Suizid selbst und uns mit ihnen in aller Offenheit auseinandersetzen, die Klagen der Betroffenen hören. Ich las neulich den Satz „Zu erkennen, dass eine Person sich in einer menschlich schwierigen Situation befindet, ist wesentlich, um zu verhindern, sie in ihrer Not versinken zu lassen!“. Ganz überwiegend sind Auslöser für Suizidwünsche behandelbare psychische Erkrankungen, Depressionen. Hier müssen wir helfen und aufeinander achten. Ganz konkret jeder von uns in seinem Umfeld. Niemand darf allein gelassen werden.

"In Japan und in Großbritannien gibt es nationale Aktionspläne gegen Einsamkeit"

kath.net: Das sagt sich so leicht. Gerade vor ein paar Tagen kam die Meldung, dass der Anteil der Haushalte der Alleinstehenden in Deutschland größer ist als im Rest Europas. Die Zahl der Single-Haushalte wird weiter zunehmen in den kommenden Jahren. Und auch schon während der Corona-Lockdowns haben wir von Vereinsamung gesprochen. Welches Konzept wollen Sie dagegen setzen?

Wenzel: Also, erst einmal ist es doch machbar, z. B. mal genauer auf die betagte Nachbarin zu schauen, die in letzter Zeit so traurig guckt oder nur noch schwer die Treppe raufkommt. Fragen, wie es geht und dann auch wirklich auf eine Antwort warten oder Hilfe beim Einkaufen anbieten, sollte doch machbar sein. Und dann gibt es eben auch noch den größeren Zusammenhang. Ich bin absolut kein Verfechter des sogenannten „Nanny-Staates“ und halte staatliche Eingriffe in die Gesellschaft nur in Ausnahmesituationen für gerechtfertigt, aber hier ist aus meiner Sicht wirklich der Staat gefragt. Einsamkeit und Isolation sind jetzt schon und werden noch sehr viel stärker ein gesamtgesellschaftliches Problem werden in den nächsten Jahren.

In Japan und in Großbritannien gibt es nationale Aktionspläne gegen Einsamkeit. Und wir haben bei CDL klar formuliert, dass dies ganz zwingend zur Prävention und Vorsorge dazugehört. Wie das im Einzelnen ausgestaltet ist, ist von den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten abhängig. Das ist in Japan sicher anders als bei uns. Dieses Thema könnte man doch auf die ministeriale Ebene heben und da gibt es ja schon Ansätze, z. B. die CDU-Landesregierung NRW beschäftigt sich gerade damit.

Aber noch einmal: Wichtig ist, dass wir auch selbst sensibel werden für unseren Nächsten, bei allem Druck der derzeit auf dem Einzelnen lastet. Aber wir können und werden nur überleben, wenn wir uns auf die Solidarität unserer Mitmenschen verlassen können.


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