Wiener Dogmatiker Tück sieht deutsche katholische Kirche in massiver Krise

11. Juli 2023 in Deutschland


"Schlimmer kann es für katholische Kirche in Deutschland kaum kommen. Mehr als eine halbe Million Katholiken sind im Jahr 2022 ausgetreten" - Gründe: Missbrauchskrise, Säkularisierungsschübe und eine schon länger schwelende Glaubenskrise


Wien (kath.net/KAP) Der Wiener katholische Dogmatiker Jan-Heiner Tück sieht die katholische Kirche in Deutschland in einer massiven Krise. "Schlimmer kann es für die katholische Kirche in Deutschland kaum kommen. Mehr als eine halbe Million Katholiken sind im Jahr 2022 ausgetreten", schreibt der selbst aus Deutschland stammende Theologieprofessor an der Uni Wien in einem Gastkommentar für die Tageszeitung "Presse" (Sonntag). Gründe sieht er nicht nur in der Empörung über sexuellen Missbrauch durch Kleriker und die Vertuschung durch Bischöfe, sondern auch in "Säkularisierungsschüben und einer schon länger schwelenden Glaubenskrise".

Die Austrittswelle zeige eine regelrechte "Kirchenschmelze" an, so Tück. Dabei verliere die Gesellschaft als ganze, wenn die Kirche erodiere, zeigte sich der Theologe überzeugt. Er verwies auf das Engagement der Kirche in den Bereichen Bildung, Pflege, aber auch auf ihre klare Positionierung für die Unantastbarkeit der Menschenwürde vom Lebensanfang bis zum Ende, die in säkularen Gesellschaften bioethisch, juristisch und politisch zunehmend aufgeweicht werde. Er warnte vor einem zunehmend "vertikalen Horizont", ohne den der Blick auf die beschleunigten Lebenswelten flach zu werden drohe.

Kirchliche Präsenz bleibe wichtig, "auch wenn die Austrittswelle anhält und Kirche zu einer qualifizierten Minderheit wird", betonte Tück. Die Kirche stelle etwa dem "mitleidlosen Umgang mit Modernisierungsverlierern" ihr Eintreten für Schwache entgegen. Dem "verbreiteten Bezichtigungsfuror, andere auf ihre Fehler zu fixieren", begegne sie mit einer Kultur der Vergebung. "Die Humanität ist bedroht, wo Gnade fehlt und Menschen auf ihre Leistungen reduziert werden. Die soziale Temperatur in der Gesellschaft könnte ohne die Kirche kälter werden", so der Theologe.

Auch die Schere zwischen kirchlicher Verkündigung und heutiger Wissensgesellschaft sei größer geworden. "Begriffe wie Schöpfung, Sünde, Gnade oder Erlösung haben ihre orientierende Kraft eingebüßt", schrieb Tück. Viele hätten sich "in einem Rahmen der Immanenz eingerichtet und leben, als ob es Gott nicht gäbe". Schließlich kämen finanzielle Gründe hinzu. "Warum soll man, wenn das Leben teurer wird, noch Kirchensteuer zahlen und Entschädigungssummen mit begleichen, für die man keine Verantwortung trägt?", sei eine berechtigte Frage, die sich viele stellten.

Wie die Kirche auf "diese epochale Dämmerung" reagiert, sei entscheidend, so Tück. In ihrem "ekklesiologischen Narzissmus und ihrer Sorge um Machtsicherung" habe die Kirche Opfer verraten und dabei Christus, den Gekreuzigten, vergessen. "Er ist auch in vielen Reformdiskursen der große Abwesende", meinte Tück wohl in Anspielung auf den deutschen Reformprozess "Synodaler Weg". Die "sterbenden Kirchen, die wie entlaubte Bäume in der spätmodernen Landschaft stehen", würden aber zu neuem Leben erst finden, wenn sie sich auf ihre Mitte rückbesinnen und die Lektion der Selbstbeschneidung lernten. "Erst, wo gestutzt wird, können neue Triebe wachsen."

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