14. Juli 2023 in Kommentar
„Wer ein Recht auf Abtreibung und ein Recht auf assistierten Suizid einfordert, steht gegen das kulturelle Erbe Europas und verhöhnt das Christentum.“ Gastbeitrag von Thorsten Paprotny
Hannover (kath.net) Katholische deutsche Bischöfe – es gibt lobenswerte Ausnahmen wie Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg – fremdeln schon seit einiger Zeit mit dem Begriff „Abendland“. Dessen Gebrauch scheint für viele prominente Christenmenschen verstörender zu sein als die hohe Zahl der Kirchenaustritte. Auch Papst Benedikt XVI. sprach am 21. September 2011 im Deutschen Bundestag vom kulturellen Erbe des Kontinents: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“ Die politisch kontrovers diskutierten Begriffe „Abendland“ oder gar „christliches Abendland“ wählte er nicht. Der christliche Europäer heute darf sich indessen durchaus freimütig, beherzt und dankbar zum Abendland bekennen – wie einst Konrad Adenauer.
Der ehemalige Bundeskanzler schreibt in seinen „Erinnerungen“, dass er von Verbrechen gehört habe, die an Juden begangen worden seien, also von Deutschen an Deutschen verübt worden waren. Die Erfahrungen, dass der religionsfeindliche NS-Staat geherrscht habe und das deutsche Volk in den Abgrund und ins Chaos gestürzt hätte, waren ihm gegenwärtig bis ans Ende seines Lebens. Er berichtet von der Überzeugung nach Kriegsende, dass eine Volkspartei die christlich-abendländische Weltanschauung und die Grundsätze der christlichen Ethik jeder neuen gottlosen Herrschaft, ob kommunistisch oder faschistisch, widerstehen müsse und könne. Die Würde menschlichen Person stehe über allem, aber auch über der staatlichen Macht – und diese Überzeugung sei aus dem „Wesen des abendländischen Christentums“ erwachsen. Mitten im Kalten Krieg, am 20. Juli 1952, sprach Bundeskanzler Adenauer in Bamberg (siehe Link) vor der „Gemeinschaft katholischer Männer Deutschlands“: „Ich kann Ihnen nur aus tiefster Überzeugung sagen, dass der Untergang des christlichen Abendlandes greifbar nahe ist, wenn wir nicht alle Kräfte zusammenfassen und uns zusammenschließen zu einer unbesiegbaren Front. Lassen Sie mich noch einmal betonen: Nicht über Einzelheiten stolpern und sich nicht in Einzelheiten aufhalten. Das ist in Zeiten wie den unsrigen einfach nicht möglich und ist unverantwortlich. Wir müssen uns klarmachen, wie wir stehen; wir müssen uns klar werden über das Ziel, was wir erreichen wollen, und da müssen wir im Vertrauen auf Gott unser Herz in die Hand nehmen und müssen die nötigen Schritte tun. Jeder von uns und namentlich jeder von uns katholischen Christen ist verpflichtet, mitzutun und mitzuhandeln, denn, glauben Sie: Es geht darum, ob Europa christlich bleibt oder ob Europa heidnisch wird.“ Der Nationalsozialismus verstoße ebenso gegen die göttliche Ordnung wie der sowjetrussische Nationalismus. Konrad Adenauer bekannte sich zum christlichen Abendland, glaubwürdig, deutlich und unmissverständlich. Wie wohltuend ist es doch heute, diese Worte aus dem Mund eines katholischen Politikers zu hören. Dieses Bekenntnis wäre Europa heute sehr zu wünschen, das sein christliches Erbe vergessen zu haben scheint – wie dies sich unverkennbar bei den Bestrebungen abzeichnet, den Schutz des Lebens konsequent auszuhebeln. Wer ein Recht auf Abtreibung und ein Recht auf assistierten Suizid einfordert, steht gegen das kulturelle Erbe Europas und verhöhnt das Christentum.
Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer hat sich am 16. Januar 2019 in einer Ansprache (siehe Link) eindeutig zum „christlichen Abendland“ bekannt. Seine Worte sprechen in unsere Gegenwart hinein: „Das Christentum ist die prägende, die öffentlich prägende Kraft der Kultur Europas. Es gibt kein Europa im geistigen Sinn vor dem Christentum. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass es immer auch Nischen und Ghettos gab und geben wird. Im Falle des Judentums war dies zunächst kulturbedingt und daher selbstgewählt. Aber die öffentlich prägende Kraft für Europa – was Menschenbild, Festkultur, Kalender, Rechtskultur, Architektur, darstellende Kunst usw. – ist das Christentum. Die Seele Europas ist das Christentum, und deshalb ist es auch historisch exakt und verantwortbar, vom ‚christlichen Abendland‘ zu sprechen. Ich halte es nicht für vernünftig, diesen Begriff und die Deutungshoheit darüber anderen zu überlassen, die nationalistische Interessen damit verbinden.“ Voderholzer sagte 2019, dass es durchaus berechtigt sei, von der „Gefährdung des christlichen Abendlandes“ zu sprechen – und erinnerte an das, was Peter Scholl-Latour, „einer der besten Kenner des Orients und des Islam schon vor etlichen Jahren gesagt hat: "Sorgen muss sich Europa nicht machen wegen der Stärke des Islam, sondern wegen seiner eigenen geistigen Schwäche.“
Das christliche Abendland, das alte Europa leidet an einer großen Schwäche – und diese Schwäche heißt Apostasie, es ist Gottlosigkeit oder die Gleichgültigkeit gegenüber Gott. Voderholzer erinnert an Wesentliches. Es lohnt sich, heute – nicht allein der Unruhen im laizistischen Frankreich wegen – sich auf seine Worte zu besinnen und sich glaubwürdig sowie angstfrei im Europa dieser Zeit, mitten im Herzen des Abendlandes, zu Christus zu bekennen: „Europa hat eine Seele. Unsere Heimat hat eine Seele. Sie hat unsere Heimat so lebens- und so liebenswert gemacht. Es ist der christliche Glaube. Es kommt darauf an, diese Seele nicht verkümmern zu lassen, sondern frohgemut zu leben!“ Anders gesagt: Auch wir dürfen heute auch alle wieder überzeugte, glaubwürdige Adenauerianer – ob wir einer Partei angehören oder nicht – und ganz normale abendländische Christen sein. So sind wir auch gute Europäer.
Dr. Thorsten Paprotny (siehe Link) lehrte von 1998-2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte 2018 den Band „Theologisch denken mit Benedikt XVI.“ im Verlag Traugott Bautz und arbeitet an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.
kath.net-Buchtipp
Theologisch denken mit Benedikt XVI.
Von Thorsten Paprotny
Taschenbuch, 112 Seiten
2018 Bautz
ISBN 978-3-95948-336-0
Preis 15.50 EUR
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