20. Jänner 2024 in Chronik
„Viele Medien übergehen Unschuldsvermutung bei kirchlichen Missbrauchsfällen, besonders wenn es um glaubenstreue Bischöfe geht und beim seit Jahren in sprungbereiter Feindseligkeit medial attackierten Papst Benedikt.“ Gastkommentar von Hubert Hecker
München-Vatikan (kath.net)
1. Mediale Vorverurteilung
Mit der Präsentation des Gutachtens der Münchener WSW-Kanzlei zum Bistum München-Freising am 20. Januar 2022 begann eine beispiellose Rufmordkampagne gegen den emeritierten Papst Benedikt.
Doch schon am 4. Januar, also 14 Tage vor der Gutachten-Publikation, hatte die ZEIT auf ihrer Titelseite die Erwartungen der Medien an das kommende Gutachten so formuliert: „Wie viel Schuld trägt Benedikt XVI. am Treiben eines Sexualtäters in seinem alten Bistum?“
Das Frageinteresse der Zeitung ging nicht dahin, ob Erzbischof Ratzinger vor 40 Jahren schuldig geworden war am Seelsorgeeinsatz eines Priesters aus einer anderen Diözese, zu dem die Diagnose Pädophilie nicht mitgeteilt worden war, sondern wie hoch der Schuldanteil des emeritierten Papstes an den Missbrauchstaten des damaligen Klerikers sei.
Laut Pressekodex gilt in Deutschland bei Verdachtsfällen von Fehlverhalten die Unschuldsvermutung. Viele Medien übergehen diese Rechtsnorm bei kirchlichen Missbrauchsfällen, insbesondere wenn es um glaubenstreue Bischöfe geht und erst recht bei dem seit Jahren in sprungbereiter Feindseligkeit medial attackierten Papst Benedikt.
Jedenfalls markierten nach der obigen Formulierung die ZEIT-Redakteure den Papst schon vor der Gutachtenveröffentlichung als schuldig Verurteilten. Die Medien spielten sich mit ihrem Vor-Urteil als gesellschaftliche Richterinstanz auf.
Schon Anfang 2010, als die Medien in Deutschland die Missbrauchsfälle im Bereich der Kirche als Skandal aufmachten, geriet der inzwischen zum Papst gewählte Benedikt XVI. in den Sucher der Leitmedien. Der Spiegel setzte damals dreizehn Redakteure an, um dem Papst Verwicklungen in Missbrauchsfälle anzuheften. Das berichtete der damalige Spiegel-Redakteur Matthias Matussek. Obwohl die Journalisten nichts Belastendes gegen Ratzinger fanden, titelte das nachrichtenkreative Magazin: „Missbrauchsfall im Ratzinger-Bistum aufgedeckt.“ Mit ähnlicher Überschrift: „Ratzingers Bistum setzte pädophilen Pfarrer ein“, versuchte auch die Süddeutsche Zeitung auf die billige Tour der Wortassoziation vom „Ratzinger-Bistum“ den Papst als amtlichen Beihelfer zu Missbrauchstaten anschwärzen.
2. Kein gutachterlicher Nachweis von Fehlverhalten, trotzdem Verdächtigungen und Unterstellungen
Nach zahlreichen Nachfragen und Vorhalten von Seiten des WSW-Gutachters Wastl blieb Papst Benedikt bei seiner protokollgestützten Aussage, zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufnahme des Priesters H. in der Ordinariatssitzung am 15. 1. 1980 habe er keine Kenntnis über die Vorgeschichte des Ankommenden gehabt. Gegenüber dieser Feststellung konnte RA Wastl keinerlei Gegenbeweise oder Indizien für Fehlverhalten anführen. Gleichwohl verweigert er die zwingende Bewertung, dass in diesem Fall kein konkreter Vorwurf gegen den damaligen Erzbischof Ratzinger zu erheben möglich war.
Stattdessen verlegt sich der Gutachter auf Mutmaßungen, Gerüchte, moralische Vorwürfe und Überlegungen zur „allgemeinen Lebenserfahrung“, die allerdings nach Auftrag und Methode des Gutachtens juristisch irrelevant und irreführend waren.
Er machte Ratzinger bzw. dem Bistum München Vorwürfe wie „nicht nachvollziehbare Ignoranz gegenüber“ dem Priester H. sowie fehlende Nachfragebereitschaft. Dann führt er zwei Zeitzeugen an, die vom Hörensagen gewusst haben wollten, dass Kardinal Ratzinger in späterer Zeit nach der Ordinariatssitzung im Januar 1980 bis Mitte 1982 doch Kenntnisse von der Vorgeschichte des Peter H. gehabt haben müsste. Schließlich glaubt er „plausibel“ machen zu können, dass der Priester H. in seiner ersten Seelsorgestelle im Bistum München missbräuchlich aufgefallen wäre, was der Beschuldigte bestritt.
Wastl kann aus diesen Plausibilitätsangaben natürlich keinen gutachterlichen Vorwurf destillieren. Im Gegenteil musste er resümieren, dass aus diesen unbewiesenen Annahmen „ein etwaiges pflichtwidriges und/oder unangemessenes Verhalten“ von Kardinal Ratzinger „nicht angenommen werden kann und jedenfalls nicht nachweisbar ist“ (S. 182 des WSW-Gutachtens). Diese Unschuldsannahme gelte ebenso für die spätere Versetzung von Peter H. in einen zweiten Einsatzort im Bereich der Erzdiözese.
Wenn der juristische Kern des Gutachtens in einem Freispruch Ratzingers vom Vorwurf des Fehlverhaltens bestand – warum führte der Gutachter dann die zahlreichen Annahmen, Mutmaßungen und Verdächtigungen an, die in ihrer Gesamtheit doch ein Fehlverhalten des Erzbischofs unterstellten? Offenbar waren sie für die Verdachtsbestärkung und Schuldigsprechung in der medialen Öffentlichkeit bestimmt, wie sich später herausstellte.
Die Münchener Kanzlei WSW hatte in ihrem vorhergehenden Missbrauchsgutachten für das Erzbistum Köln ähnlich spekulativ-moralisch argumentiert. Daraufhin beauftragte Kardinal Woelki die Jura-Professoren Jahn und Streng, das WSW-Gutachten bezüglich der „Einhaltung methodischer Standards“ zu prüfen. Der Prüfbericht vom Oktober 2020 kommt zu dem vernichtenden Urteil, dass das Kanzleigutachten „die Mindeststandards einer juristischen Begutachtung in mehrfacher Hinsicht verfehlt“, u. a. durch unklare Begriffe, Vermischung von Faktensammlung und Bewertung, moralisierende Unterstellungen, Verlassen der Neutralitätsstandpunktes und andere Fehler. Eben diese 2020 festgestellten schwerwiegenden methodischen Mängel finden sich auch in dem späteren Münchener Gutachten vom Jan. 2022, wie oben aufgezeigt.
3. Im mündlichen Vortrag des Gutachters wandelt sich der Freispruch zum Schuldspruch
Die WSW-Kanzlei leitete nach der vernichtenden Kritik an ihrem Bericht keinerlei methodische Korrekturen bei der späteren Erstellung des Münchener Gutachtens ein. Im Gegenteil weitete RA Wastl die Passagen mit wagen Verdächtigungen und unbelegbaren Mutmaßungen noch weiter aus. Diese moralisierenden Aufbauschungen blähten das Gutachten auf über 1.800 Seiten auf (im Vergleich zu den 800 Seiten des Kölner Gutachtens von Björn Gercke für das größere Erzbistum Köln).
Bei der öffentlichen Präsentation des Gutachtens unterschlug RA Wastl vollständig seine juristisch korrekten Feststellungen zur Nicht-Belastung von Erzbischof Ratzinger, wie oben anhand der Schriftform dargestellt. Im Gegensatz zu seinen juristisch-gutachterlichen Erkenntnissen fokussierte sich der Kanzlei-Jurist ausschließlich auf seinen schwammigen Verdächtigungsüberlegungen zur Schuld-Unterstellung. So behauptete er, Ratzingers Wissen um die pädosexuelle Vorgeschichte des Priesters H. in der Zeit nach der Ordinariatssitzung am 15.1.1980 sei für ihn „überwiegend wahrscheinlich“. Mit solchen Tendenz- und Plausibilitätsbegriffen listete er weitere subjektive Verdachtsmomente gegen den damaligen Münchener Erzbischof auf. Sie waren – wie gesagt – gutachterlich irrelevant. Bei einem Gerichtsprozess hätte diese Feststellung nach dem Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten mit Sicherheit zu einem Freispruch geführt. Bei der außergerichtlichen Präsentation im Stile eines Tribunals wurde in diesem Fall die besagte Formulierung als Beleg für das Schuldigsein vermittelt und verstanden. Denn die Begriffe und Bewertungen des Vortrags waren offensichtlich auf die Zuhörer und besonders die Medienvertreter gemünzt. Die Gutachtenpräsentation bediente das oben aufgezeigte Medieninteresse an einem Schuldspruch gegen den prominenten Angeklagten. Doch der Höhepunkt der Anklagerede sollte erst noch kommen.
4. Aus einer versehentlich unrichtigen Angabe skandalisierte man eine „Bilanz des Schreckens“
Während der Erstellung des Gutachtens hatte RA Wastl dem emeritierten Papst zahlreiche Dokumente und Berichte vorgelegt mit der Bitte um Stellungnahme. Der 94jährige Benedikt konnte damals auf die Mithilfe von fünf Juristen zurückgreifen bei der Durchsicht von 8.000 relevanten Dokumentseiten. Auf dieser Basis beantwortete das Juristenteam die Fragen des Gutachters in Form einer 82seitigen Stellungnahme. Darin wurden die Unterstellungen und Verdächtigungen gegen Ratzinger zurückgewiesen.
In dem Text stand allerdings auch der unrichtige Satz, dass Erzbischof Ratzinger in der Ordinariatssitzung vom 15.1.1980 nicht anwesend gewesen wäre, obwohl sein Name in der Anwesenheitszeile vermerkt war. Die fehlerhafte Aussage war offensichtlich aus Versehen in die Endredaktion des Textes gerutscht, wie es bei der Prüfung von 8.000 Dokumentseiten vorkommen kann. So charakterisierte es der Papstsekretär Gänswein am Tag nach der Gutachtenpräsentation. Jedenfalls sprach für ein unabsichtliches Versehen und gegen eine absichtliche Falschaussage auch eine frühere Erklärung Benedikts, nach der er selbstverständlich seine Sitzungsanwesenheit anerkenne, wenn sein Name im Protokoll als anwesend vermerkt sei.
RA Wastl vermittelte dagegen bei seiner Gutachtenpräsentation den Eindruck, die irrtümliche Aussage sei eine bewusste Täuschung Benedikt gewesen. In seiner „dramaturgisch“ inszenierten Rede, wie er selbst sagte, spielte er sich als tribunaler Ankläger auf mit einer Argumentation ad personam: Durch den unrichtigen Satz in dem Schriftstück (der Juristen) sei Benedikts Glaubwürdigkeit und die der von ihm unterschriebenen Stellungnahme grundsätzlich infrage zu stellen. Damit bestätigte er endgültig die Schulderwartung der Medien gegen den ehemaligen Papst.
Darüber hinaus bediente RA Wastl auch das mediale Skandalinteresse, indem er seine gesamten Ausführungen ankündigte als Bilanz des Schreckens, was im schriftlichen Gutachten sachlich und fachlich korrekt als pflichtwidriges bzw. unangemessenen Verhalten von kirchlichen Führungskräften bezeichnet wurde. Mit dem Skandalwort waren Assoziationen gesetzt von der Kirche als Schreckenskammer oder gar Schreckensherrschaft.
5. Bild-Zeitung und FAZ einig in der Bezichtigung der vorsätzlichen Lüge
Die Medien stürzten sich auf die Skandalvorlage von Wastl. DPA titelte: „Bilanz des Schreckens. Gutachten belastet Benedikt“. Der Spiegel setzte wie immer noch eins drauf: „Irreparabler Schaden durch Benedikt“. Ein Tagesspiegel-Redakteur glaubte zu wissen, dass „Ratzinger sein Leben in Schande beschließen werde“.
Die Bild-Zeitung hatte 2005 dem neugewählten Papst Benedikt ein ‚Hosianna‘ bereitet („Wir sind Papst“). Als er jetzt bei der Gutachtenvorstellung zur medialen Hinrichtung präsentiert wurde, stand das Blatt im Kreuzigungs-Chor an vorderster Stelle, um Benedikt in seinem öffentlichen Ansehen zu vernichten. Der FAZ-Journalist Daniel Deckers stieß mit seiner Titel-Zeile „Benedikts Lüge“ ins gleiche Horn. Deckers behauptet in der Ausgabe vom 21. 1. 2022: Der vormalige Papst „hat die Gutachter belogen – und das mit Vorsatz“. Die versehentliche Aussage in der Stellungnahme platzierte er noch ein drittes Mal als „manifeste Lüge“.
Die Beurteilung einer Aussage als Lüge beinhaltet, dass der Beschuldigte im Wissen um die Falschheit seiner Aussage handelte, eben mit Vorsatz. Eine solche willentliche Absicht Benedikts konnten aber Außenstehende wie Wastl und Deckers nicht wissen und schon gar nicht beweisen. Es gehört zur journalistischen Berufsethik, in diesem Fall des Nichtwissens mindestens die Alternative des Versehens zu erörtern. Deckers dagegen ging mit seiner moralisierenden Tatsachenbehauptung sogar noch weiter, indem er Ratzingers vermeintliche Lüge als Folge von seinen ‚lebensgeschichtlichen Schattenseiten‘ darstellte. So schloss sich Deckers den Angriffen von Journalisten und Theologen an, die aufgrund ihrer Mutmaßung über eine einzige Aussage das gesamte kirchlich-theologische Lebenswerk von Joseph Ratzinger zu desavouieren versuchten.
Diese Attacke mit Bezug auf den Missbrauchskomplex ist deshalb besonders infam, weil Ratzinger als Kardinal und Papst seit 1990 mehr gegen Missbrauchsvorkommen in der Weltkirche getan hat als jeder andere Kirchenführer. Er hat die kirchliche Prozessordnung reformiert, als Glaubenspräfekt dafür gesorgt, dass etwa 500 Missbrauchspriester laisiert wurden, die Aufstellung bzw. Verschärfung der Richtlinien für nationale Bischofskonferenzen initiiert, in zahlreichen Reden, Schriften und Reisen den Missbrauch von Klerikern angeprangert und mit vielen Opfern gesprochen.
6. Eine mediale Rufmordkampagne gegen Papst em. Benedikt
Ein weiterer Vorwurf von Journalisten und auch Kirchenleuten gegen Benedikt bestand darin, dessen juristische Stellungnahme zu den gutachterlichen Beschuldigungen als ungehörig und unpassend zu verurteilen. Was nach unserer Rechtsordnung jedem Bürger rechtlich garantiert wird, dass er sich mit sachlichen Hinweisen und Argumenten gegen Anklagen und Beschuldigungen verteidigen kann, wurde dem emeritierten Papst abgesprochen. Bischof Bätzing hat damals ebenfalls mit den medialen Wölfen aufgeheult, Benedikts Verteidigung gegen (unberechtigte) Vorwürfe des Gutachtens sei „desaströs“. Er hätte seine Schuld als quasi systemische eingestehen sollen, „egal ob er bei einer bestimmten Sitzung dabei war“ oder nicht, wie Bätzing erst kürzlich wieder im ZEIT-Interview vom 14. 9. sagte. Auch dieses Ansinnen widerspricht fundamental unserer Rechtsordnung, nach der es nur eine persönliche Schuld gibt. Darum ging es ja auch in dem Gutachten, ob Ratzinger in seinen Amtshandlungen und -entscheidungen persönliches Fehlverhalten nachgewiesen werden konnte – und um die Frage ging es auch in seiner Stellungnahme.
Aber diesen rationalen Diskursrahmen wollten die deutschen Medien nicht anerkennen. Ihr schon vorab erklärtes Ziel war es (siehe oben), den emeritierten Papst als Schuldigen im kirchlichen Missbrauchskomplex gebrandmarkt zu sehen - selbst ohne den Nachweis von (persönlichem) Fehlverhalten. Die gleiche mediale Skandalisierung ist bei Kardinal Woelki zu beobachten, „auf dem alle einschließlich der DBK herumhacken, obwohl er den Gutachtern zufolge nichts vertuscht hat“, so die ZEIT-Journalistin Evelyn Finger. Der Grund für die Medienkampagnen gegen die beiden führenden Kirchenmänner Woelki und Ratzinger liegt wohl in ihrer glaubenstreuen Grundhaltung. Denn sogenannte Reform-Bischöfe mit nachweislichem Fehlverhalten wie Marx und Bode werden von den Medien in Watte gepackt. Wenn Bischof Bätzing in dem ZEIT-Gespräch betont: „Woelki stellt sich gegen die Mehrheitsentscheidungen des Synodalen Weges“, bestätigt er indirekt den Hintergrund für dessen mediale Skandalisierung.
Die Zerstörung des öffentlichen Ansehens von Papst em. Benedikt ist den Medien jedenfalls gelungen. Nach einer Studie von Media Tenor zu der Reputation von führenden katholischen Kirchenleuten im Zusammenhang mit der Missbrauchsdebatte im Jahre 2022 lag der deutsche Papst mit weitem Abstand an unterster Stelle. Seine oben beschriebenen Verdienste um die Bekämpfung des Missbrauchs in der Weltkirche wurden durch die mediale Stigmatisierung in der öffentlichen Erinnerung ausgelöscht, ein wesentlicher Teil seines Lebenswerkes durch die Rufmordkampagne der damnatio memoriae preisgegeben.
Archivfoto: Papst em. Benedikt XVI. im Februar 2022
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