„Abtreibung entkriminalisieren? Eine Gefährdung der Demokratie“

30. April 2024 in Prolife


„Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission für die Reform des Abtreibungsrechtes hat den Weg aufgezeigt, wie die demokratische Grundordnung verändert werden könnte.“ Von Lothar C. Rilinger


Berlin (kath.net) Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat im Artikel 1 GG festgelegt, dass die Würde des Menschen unantastbar sein soll. Danach ist jedem Menschen die Würde intrinsisch – sie ist jedem Menschen von Natur aus verliehen, ohne dass es eines besonderen Rechtsaktes bedürfe. Damit sind alle Menschen als gleich zu behandeln, unabhängig, ob sie geboren sind oder noch nicht geboren, ob gesund oder krank, ob behindert oder nicht, ob klug oder nicht klug, ob sie über sich selbst nachdenken können oder eben über kein Selbstbewusstsein verfügen und welcher sexuellen Disposition sie sich zugehörig fühlen. Jeder Mensch wird – religiös gesprochen – als imago Dei, als Ebenbild Gottes angesehen. Alle Menschen haben die gleiche Würde und sind damit „gleich“ allen anderen Menschen. Verstößt eine Regelung gegen diesen Grundsatz, wird sie als rechtswidrig angesehen und muss folglich aufgehoben werden. Grundrechte können zwar eingeschränkt, aber grundsätzlich nicht aufgehoben werden. Dies gilt auch für das Recht auf Würde. Grundrechte bestehen aus zwei Kreisen, dem inneren und dem äußeren. Um die Grundrechte der Staatsbürger gegeneinander abzuwägen und für beide Seiten gelten zu lassen, ist es zwar statthaft, in den äußeren Bereich einzugreifen, wobei beide Seiten von der absoluten Geltung ihrer Rechte absehen müssen. Allerdings verbietet sich grundsätzlich ein Eingriff in den inneren Bereich, in den Kernbereich, da dadurch Grund- und Menschenrechte vollständig aufgehoben werden würden. Einem Menschen darf das Menschenrecht auf Leben nur unter den Voraussetzungen der Notwehr und Nothilfe oder zur Verteidigung in einem Angriffskrieg entzogen werden. Nur wenn der Staatsbürger angegriffen und sein Leben bedroht ist, nur wenn ein Dritter einem Angegriffenen zur Hilfe kommt oder wenn ein Land sich gegen die Okkupation durch einen Drittstaat wehrt, darf der Angreifer getötet werden. Diese Rechtstradition ist auch von der Kirche übernommen worden: Kein Gläubiger muss es hinnehmen, von einem Angreifer getötet zu werden. Durch die Tötung des Angreifers wird zwar dessen Recht auf Leben vollständig ausgeschlossen, doch dieser Ausschluss ist auch von der katholischen Moraltheologie und von der Ethik sowie von der Rechtsordnung gerechtfertigt.

Allerdings gibt es Bestrebungen, sich von dieser tradierten Auffassung zu verabschieden und die Zuordnung der Würde zu relativieren und damit gleichzeitig den Gleichheitsgrundsatz für obsolet zu erklären. Es soll ein neues Menschenbild durchgesetzt werden. Im Transhumanismus, der die intellektuelle Grundlage des Wokeismus, der immer mehr an Gewicht gewinnt, bildet, machen sich die Vertreter Gedanken darüber, wie das christliche Menschenbild, das auch zur Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seitens der UNO aus dem Jahr 1948 erkoren wurde, wie dieses Menschenbild, das von der Gleichheit aller Menschen ausgeht und das allen Menschen Würde attestiert, überwunden werden könnte, ja müsste. Grundlage des christlichen Menschenbildes ist die Einheit von Körper und Geist, was zur Folge hat, dass unabhängig von dem Umfang des Geistes jeder Mensch Adressat der Menschen- und Grundrechte als intrinsische Rechte ist. Auch ein ungeborener Mensch verfügt über die verfassungsrechtlich garantierte Würde, ebenso ein Mensch, der vollkommen dement ist. Durch diese Einheit ist gewährleistet, dass kein Mensch rechtlos gestellt ist. Jeder kann, eventuell unter Zuhilfenahme eines vertraglich oder gerichtlich bestellten Vertreters oder Pflegers, diese Rechte geltend machen.

Diese grundlegende Festlegung wird aber im Transhumanismus außer Kraft gesetzt. Es wird ein Dualismus gebildet, wobei der Körper vom Geist existierend gedacht wird und damit eine Negierung der Einheit von Geist und Körper. Dieser Gedanke hat zur Folge, dass der Körper als Sache angesehen wird und damit als Rechtsobjekt, der über keine Rechte verfügen kann. Nur der Geist wird als Rechtssubjekt angesehen, nur er kann Menschen- und Grundrechte für sich reklamieren – nur er ist Rechtsträger. Deshalb werden auch im Transhumanismus ungeborene Kinder, denen der Geist abgesprochen wird, als „Zellhaufen“ oder „parasitäre Zellhaufen“ und als „Schwangerschaftsgewebe“ bezeichnet. Mit diesen Bezeichnungen soll camouflierend das ungeborene Kind nicht als Sache bezeichnet werden, obwohl es als Sache behandelt wird. Wem keine Menschen- oder Grundrechte zustehen, ist zur Sache degradiert, zur rechtlosen Sache, über die Dritte beliebig verfügen können. Diese Feststellung berührt die Frage nach dem, was ein Mensch ist. Sachen können folgerichtig kein Mensch sein, infolge dessen kann über sie auch nach sachenrechtlichen Voraussetzungen verfügt werden. Als Mensch werden nur die menschlichen Wesen angesehen, die über Geist verfügen und damit über Selbstbewusstsein, wie es schon der australische Philosoph Peter Singer vor über vierzig Jahren propagiert und damit eine weltweite Diskussion ausgelöst hatte. Damals zeigte sich, dass diese Meinung noch nicht mehrheitsfähig war. Infolge dessen war die Kritik – gerade diejenige von Robert Spaemann – gewaltig und diese Ideen verschwanden folglich erst einmal in der intellektuellen Versenkung.

Doch dort wurden sie weiterentwickelt, um jetzt als Transhumanismus die Welt erobern zu wollen. Singer knüpfte das Menschsein an das Vorhandensein von Selbstbewusstsein, im Transhumanismus erhebt nur der Geist das menschliche Wesen zum rechtsfähigen Menschen, der für sich Menschen- und Grundrechte beanspruchen kann.

Aus diesen Annahmen hat die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission allerdings Schlüsse gezogen, die den ersten Versuch darstellen, das Recht auf uneingeschränkte Würde eines jeden Menschen zu relativieren. Aus dem geltenden Menschenrecht auf Leben wird ein positives Recht, das von einer politischen Elite beliebig begrenzt wird. Im Kommissionsbericht wird aufgeführt, dass der ungeborene Mensch in den ersten drei Monaten rechtmäßig und straflos getötet werden darf. Durch die jetzige Regelung wird die Abtreibung zwar als Vollendung einer rechtswidrigen Tötungsstraftat angesehen, doch soll sie gleichwohl straflos sein, also nicht bestraft werden dürfen. Die Kommission hat nun vorgeschlagen, dass die Tötung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft nicht mehr die Vollendung einer Straftat darstellt und deshalb straffrei sein müsse. Der Unterschied liegt darin begründet, dass jetzt noch die Abtreibung kriminalisiert wird, aber aus politischen Gründen unbestraft bleibt. Zukünftig soll die Abtreibung im Frühstadium keine vollendete Straftat mehr darstellen. Im Übrigen schlägt die Kommission auch vor, dass die Abtreibung im mittleren Zeitraum ebenfalls keinen Straftatbestand mehr verwirklichen sollte, so dass die Abtreibung im frühen und mittleren Zeitraum entkriminalisiert werden sollte, also bis zum sechsten Monat der Schwangerschaft.

Um zu diesem Ergebnis kommen zu können schlägt die Kommission vor, auch im Rahmen der Abtreibung eine Grundrechtsabwägung vorzunehmen. In diesem Fall wird das Menschenrecht auf Leben des ungeborenen Kindes als minderwertig gegenüber dem Menschenrecht der Mutter auf Selbstbestimmung angesehen, so dass das Recht der Mutter über dasjenige des Kindes nicht nur faktisch, sondern vor allem auch dogmatisch triumphiert. Das Recht des ungeborenen Kindes wird als weniger stark angesehen, so dass es zurückweichen muss. Das Recht der Mutter hat die Kraft, dasjenige des Kindes auszulöschen. Damit ist der Weg eröffnet, auch andere Menschen- und Grundrechte als relativ anzusehen und schafft die Möglichkeit, eine Rangfolge der Bedeutung und Gewichtung von Menschenrechten aufzustellen, sie also zu relativieren und von einer Gleichheit aller Menschen abzuweichen. Papst Franziskus hat sich übrigens ebenfalls dieser Möglichkeit der Relativierung von Menschenrechten in Bezug auf das Menschenrecht auf Eigentum in seiner Enzyklika Fratelli Tutti bedient, um seine These zu untermauern, dass die „Reichen“ ihr Eigentum den „Armen“ rechtwidrig entwendet hätten und es deshalb an die wahren Eigentümer, an die „Armen“, zurückgeben werden müsste. Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission hat diese Rechtsfigur jetzt auf das Recht auf Leben angewandt. Das höherwertige Menschenrecht auf Leben der Mutter kann und darf das geringerwertige Recht des ungeborenen Menschen vollständig verdrängen und aufheben.

Durch diese Annahme ist ein Weg beschritten worden, der die Diskussion über das Abtreibungsrecht überschreitet, hin zu einer Relativierung der Menschenrechte an sich, die sogar das demokratische Rechtssystem in Frage stellen könnte. Wenn Menschen- und Grundrechte relativiert werden können, ist es nur ein kleiner Schritt, auch das Grundrecht auf Wahl zu verändern. Da auch dieses Recht im Transhumanismus nur am Geist hängen soll, bestünde die Möglichkeit, den Grundsatz one man, one vote entweder vollständig oder auch nur teilweise außer Kraft zu setzen. Das Wahlrecht soll nur dem geisthabenden Menschen zustehen. Doch wenn auch dieses Recht relativiert werden kann, könnte nicht nur Menschen ohne Geist das Wahlrecht entzogen werden, es könnte auch die Bedeutung und Gewichtung der Stimmen dem Umfang des Geistes angepasst werden.

Wenn aber ein Prinzip aufgehoben wird, verändert sich die Balance zwischen den Menschen- und Grundrechten. Es könnten deshalb Konsequenzen auftreten, die jetzt noch unvorhersehbar erscheinen und deshalb mit dem Totschlagargument der Verschwörungstheorie abgetan werden, um nicht die gewollte Entwicklung zu stören. Derjenige aber, der sich mit den Grundlagen des Staates beschäftigt, sieht deutlich die Konsequenzen. Vor vierzig Jahren wurden die Forderungen von Peter Singer als utopistisch abgetan. Die Entwicklung hat aber gezeigt, dass sie keine Utopie waren, sondern Visionen, die jetzt eine Grundlage der Politik der Bundesregierung bilden. Die Vorschläge der Kommission sind geeignet, die demokratische Rechtsordnung, wonach allen Menschen die Würde zusteht und alle Menschen als gleichwertig anzusehen sind, ins Wanken zu bringen.

kath.net-Buchtipp
Lothar C. Rilinger: Deutschsprachige Theologen in Rom
Eine Begegnung mit ihren Gedanken
Taschenbuch, 310 Seiten
2021 Mainz Verlagshaus Aachen; Patrimonium
ISBN: 978-3-86417-169-7
Preis Österreich: 17.30 Euro

Lothar Rilinger (siehe Link) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R. und stellvertretendes Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes a.D.

Archivfoto Deutscher Bundestag (c) Pixabay


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