Wenn Gott vollkommen gut ist, warum gibt es so viel Böses?

12. Juni 2024 in Kommentar


Frag den Theologen – Pater Dominikus Kraschl OFM: „Sie sprechen eine große Frage an, auf die es keine einfache Antwort gibt! Gehen wir davon aus, dass…“


Salzburg (kath.net/Antonius) kath.net übernimmt den Beitrag von Pater DDr. habil. Dominikus Kraschl OFM aus dem „Antonius“ in ursprünglicher Länge und dankt der Zeitschrift der österreichischen Franziskaner für die freundliche Erlaubnis zur Weiterveröffentlichung. Dieser Beitrag erscheint in einer gekürzten Version in: ANTONIUS Franziskanisches Magazin für Evangelisierung und Leben, 2024 (05/06).

Als Christ glaube ich, dass Gott die Liebe ist; aber wie ist das damit vereinbar, dass es sehr viel Böses in der Welt gibt? (Christoph Mühlig, 32)

P. Dominikus Kraschl: Sie sprechen eine große Frage an, auf die es keine einfache Antwort gibt! Gehen wir davon aus, dass Gott allmächtig, allwissend und vollkommen gut ist, scheinen wir angesichts der vielen Übel in der Welt tatsächlich vor einem Vereinbarkeitsproblem zu stehen. Fragen wir uns zunächst: Was ist eigentlich ein Übel?

Was ist ein Übel?

Mit dem Ausdruck Übel bezeichnen wir das teilweise oder gänzliche Fehlen einer Vollkommenheit, die eine Wirklichkeit haben sollte. So ist Sehschwäche ein Vollkommenheitsmangel oder Übel, sofern es besser ist, gut zu sehen als schlecht oder gar nicht. Und Krankheit ist ein Übel, sofern es besser ist, gesund zu sein als krank. Zu unterscheiden sind moralische und natürliche Übel: Moralische Übel ergeben sich aus moralischem Versagen (etwa einem Mord), während das bei natürlichen Übeln (etwa Erdbeben) nicht der Fall ist.

Preis und Risiko der Freiheit

Schon der heilige Augustinus (354-430) argumentierte: Sofern Gott keine willfährigen Marionetten, sondern liebesfähige Gegenüber erschaffen wollte, musste er um des Gutes moralisch relevanter Freiheit willen die Möglichkeit ihres Missbrauchs in Kauf nehmen. Ohne solche Freiheit könnten wir unseren Charakter nicht zum Guten oder Bösen formen und uns nicht für oder gegen ein Leben mit Gott entscheiden. Um des Gutes moralisch relevanter Freiheit willen scheint Gott demzufolge gerechtfertigt zu sein, moralische Übel in Kauf zu nehmen. Gott kann sozusagen nicht beides auf einmal haben: kreatürliche Freiheit und ihre systematische Kontrolle.

Und die natürlichen Übel?

Warum aber lässt Gott Krankheiten, Dürren, Seuchen und viele andere natürliche Übel zu? Zunächst wäre darauf zu verweisen: Freiheit und Verantwortung vollziehen sich im Rahmen planvollen Handelns, das durch eine stabile, regelhafte, kausale Ordnung ermöglicht wird. Würde Gott natürliche Übel immer oder meistens verhindern – etwa durch übernatürliche Interventionen –, wäre eine solche Ordnung und mit ihr ein verantwortliches Handeln auf der Grundlage vorhersehbarer Folgen wohl nicht mehr gegeben.

Nun stellt sich die Frage: Könnte die kausale Ordnung der Welt nicht weniger natürliche Übel mit sich bringen, aber ebenso viel Freiheit und Liebe ermöglichen? Wir stoßen hier an menschliche Erkenntnisgrenzen: Für die Beantwortung dieser spekulativen Frage fehlen uns allem Anschein nach verlässliche Beurteilungsmaßstäbe.

Was dürfen wir erwarten?

Einige verbreitete Erwartungen gegenüber Gott erweisen sich genauer besehen als problematisch:

(i) Beispielsweise wäre es etwa verfehlt zu erwarten, dass Gott eine unüberbietbar vollkommene Welt erschafft. Wenn Gott eine von ihm verschiedene Welt erschafft, wird sie mehr oder weniger unvollkommen sein; denn nur Gott ist unüberbietbar vollkommen; nur er ist einzig, unendlich, notwendig, unabhängig, allmächtig und so fort.

(ii) Sodann wäre es problematisch zu erwarten, dass Gott die beste aller möglichen Welten erschafft. Nach allem, was wir wissen, gibt es eine solche Welt nämlich nicht. Bereits Thomas von Aquin (1225-1274) nahm eine unendliche Hierarchie möglicher Welten an. So ist etwa zu jeder Welt mit einer endlichen Zahl n glücklicher Bewohner eine ähnliche Welt mit n+1 glücklichen Bewohnern denkbar. Abgesehen davon wäre es vorstellbar, dass es mögliche Welten gibt, die sich nicht in eine axiologische (d. h. wertbezogene) Hierarchie bringen lassen, weil sie nicht oder nur bedingt miteinander vergleichbar sind.

(iii) Aus dem eben Gesagten ergibt sich: Gibt es eine unendliche Hierarchie möglicher Welten, so erscheint es sinnlos zu fordern, dass Gott stets die bessere von zwei möglichen Welten erschafft: denn zu jeder Welt a, die besser als Welt b ist, gibt es eine noch bessere Welt c und so fort ad infinitum.

(iv) Schließlich ist unklar, ob es ohne Gott überhaupt objektiv Gutes und Böses geben könnte. Nach Thomas von Aquin wird nämlich „nichts gut genannt, es sei denn, insofern es eine Ähnlichkeit mit dem Gutsein Gottes hat.“ (ScG I, 40) Der christliche Philosoph William L. Craig (*1949) verteidigt ein moralisches Argument, dem zufolge es keine objektiven moralischen Werte und Pflichten gäbe, wenn Gott nicht existierte. Gott sei der einzig plausible Kandidat, um solche Werte und Pflichten ontologisch zu fundieren. Wenn dieses Argument gültig ist, dann macht die Frage, warum es objektiv Böses gibt, letztlich nur Sinn, wenn es einen absoluten Maßstab des Guten gibt, den wir Gott nennen. Das wiederum würde bedeuten: Was von atheistischer Seite als das stärkster Beleg gegen die Existenz Gottes ins Feld geführt wird, könnte sich bei Licht betrachtet sogar als Beleg für Gott erweisen.

Aus dem Gesagten ergibt sich: Es wäre nicht vernünftig von Gott etwas zu erwarten, was schlicht nicht möglich ist. Hingegen erscheint es vernünftig zu erwarten, dass Gott eine Welt erschafft, die mit seiner unübertrefflichen Natur und seinem vollkommenen Liebe-Sein (1 Joh 4,16) vereinbar ist. Die Frage ist also weniger, warum es überhaupt Übel gibt, als vielmehr, ob ihr Ausmaß mit Gottes unübertrefflicher Natur und den aus ihr fließenden Heilsplänen vereinbar ist.

Wenn Gott eine Welt erschafft, die natürliche Übel beinhaltet, dann um Willensfreiheit und mit ihr zusammenhängende Güter wie moralische Verantwortlichkeit und anderes mehr zu ermöglichen. Das Ausmaß der mit Gottes Vollkommenheit vereinbaren Übel ist für uns schwer auszumachen. Wir können darüber nur spekulieren.

Für eine Vereinbarkeit der Übel in der Welt mit Gottes Natur spricht jedoch, dass es gute Gründe und Argumente für die Existenz eines maximal mächtigen, wissenden und gütigen Schöpfers gibt. Wenn es aber rational ist anzunehmen, dass Gott existiert, dann ist es auch rational anzunehmen, dass die Übel in der Welt mit Gottes Natur grundsätzlich vereinbar sind – und zwar auch dann, wenn wir nicht erfassen können, warum genau das so ist.

Die Leiden der gegenwärtigen Zeit…

Welche Vision entwirft der christliche Glaube vom Leben? Der Sinn des Lebens besteht aus christlicher Sicht nicht einfach darin, von Leid verschont zu werden und das Leben zu genießen. Er besteht vielmehr darin, Versuchungen zu widerstehen, Herausforderungen anzunehmen, in der Liebe zu wachsen und uns in Freiheit für ein Leben mit Gott zu entscheiden. Eine billige Liebe bliebe alles in allem zu billig. Der Mensch weiß in der Tiefe seines Herzens, dass wahre und tiefe Liebe etwas kostet: genau genommen die Bereitschaft, sich für andere hinzugeben. Diese Liebe gibt es aber nicht ohne Leiden (Hebr 5,8).

Wir erahnen mithin einen tiefen Zusammenhang von Lieben und Leiden, wenngleich derselbe für uns rätselhaft bleibt. Gelüftet wird sein Schleier wohl erst im Eschaton. Für jetzt bleibt die tröstliche Überzeugung des Apostels Paulus, „dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“ (2 Kor 4,17) Der Glaube schenkt die Hoffnung, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nicht umsonst sind. Er schenkt die Zuversicht, dass Gott einst alle Tränen abwischen wird (Offb 21,4). Besonders die Tränen jener, die in diesem Leben nichts zu lachen hatten.

P. DDr. habil. Dominikus Kraschl OFM lehrt Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz und am Internationalen Theologischen Institut Trumau

k-tv-Interview mit Pater Dominikus Kraschl: Über das Denken zum Glauben – Von der Philosophie über Theologie zu den Franziskanern I by@tini


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