24. Juni 2024 in Aktuelles
Opfer erleben laut interdisziplinärem Forschungsprojekt massive psychische und physische Gewalt - Appell zur Anhebung des Ehe-Mindestalters auf 18 Jahre und mehr Hilfen
Wien (kaht.net/KAP) Das Phänomen der Zwangsheirat kommt auch in Österreich vor - bei Ehen, die bereits im Ausland geschlossen wurden, etliche jedoch auch im Inland. In welchem Ausmaß es diese schwere Menschenrechtsverletzung hierzulande gibt, versucht erstmals ein Lagebericht zu klären, der nach eineinhalb Jahren intensiver Arbeit eines interdisziplinären Teams am Monat in Wien präsentiert wurde und in vollständiger Form Anfang Juli vorliegen soll. Internationalen Studien zufolge sind zumindest 22 Millionen Menschen weltweit von Zwangsverheiratung betroffen, neun Millionen davon sind Kinder.
Um Datenmaterial für Österreich bemühte sich das Projekt FORMA ("Forced Marriage"). Beteiligt waren dabei Expertinnen und Experten des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte, der Universität Wien, des Vereins Orient Express sowie die Caritas der Erzdiözese Wien, deren Rechtsberaterin Maryam Alemi das Forschungsprojekt leitete. Finanziell unterstützt wurde das im Auftrag des Innenministeriums und der Frauen- und Gleichstellungssektion im Bundeskanzleramt durchgeführte Projekt von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG).
Um nicht nur auf die Kriminalstatistik, Akten und Gerichtsentscheidungen angewiesen zu sein, wurden qualitative Interviews mit Fachleuten aus NGOs, Behörden und internationalen Organisationen geführt, jedoch auch mit Betroffenen. Das Projektteam analysierte 370 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und wertete 129 Akten der Frauenberatungsstelle "Orient Express" aus, die sich an Frauen bei familiären und partnerschaftlichen Problemen, Gewalt und Missbrauch sowie Verwandtschaftsgewalt wendet und mit dem Phänomen Zwangsheirat schon lange vertraut ist.
Das Ergebnis: In 70 Prozent der untersuchten Fälle von "Orient Express" waren Personen von Zwangsheirat bedroht oder betroffen, berichtete Projektleiterin Alemi. In allen Fällen hätten Betroffene psychische Gewalt erlebt, in 90 Prozent der Fälle auch physische Gewalt. Bei der Präsentation geschildert wurde etwa der Fall einer 17-jährigen Betroffenen, die von ihren Eltern zwangsverlobt wurde, als diese von einer heimlichen Beziehung erfuhren. Die junge Frau erfuhr massive physische und psychische Gewalt von ihrem Verlobten und der eigenen Familie. Mithilfe ihres Freundes und der Kinder- und Jugendhilfe gelang ihr schließlich die Flucht in eine Schutzeinrichtung, nur wenige Wochen vor der geplanten Hochzeit.
Neben den Studienergebnissen präsentierten die Forscher auch Empfehlungen. Präventiv sei mehr Aufklärung und Bewusstseinsarbeit vonnöten, insbesondere bei jungen Menschen, sowie genaues Monitoring und bessere Datenerhebung. Gendersensible Daten und Statistiken zu Verdachtsfällen von Zwangsheirat sollten systematisch erhoben und regelmäßige Berichterstellung sowie unabhängiges Monitoring für Fortschritte bei der Umsetzung von Gegenmaßnahmen eingeführt werden. Auch verstärkte Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen und Schulen sei zu empfehlen, weiters die Anhebung des Mindestalters für Eheschließungen auf 18 Jahre und mehr Beratung für Ehekandidatinnen und -kandidaten, sagte Helmut Sax vom Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte.
Die Identifikation und der Schutz von Betroffenen sei freilich schwierig, würden sie doch aufgrund von fehlendem Bewusstsein und Scham oft zögern, Hilfe zu suchen oder gar Anzeige zu erstatten, erklärte Projektleiterin Alemi von der Wiener Caritas-Rechtsberatung. Wichtig sei daher bereichsübergreifende Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen etwa mit der Jugend- und Sozialarbeit, Strafverfolgung und Justiz, mit Behörden und dem Gesundheitswesen. Niederschwellige Anlaufstellen für mehrsprachige psychosoziale Beratung sollten zudem ausgebaut werden.
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