Thomas von Aquin: Lehrer der katholischen Wahrheit

26. September 2024 in Kommentar


„Im Christentum ist kein Platz für Weltschmerz, Fatalismus und Nihilismus, weil wir alle in Gottes Hand sind.“ Von Gerhard Card. Müller


Rom (kath.net) kath.net dokumentiert Ausführungen von Kardinal Gerhard Ludwig Müller, emeritierter Präfekt der Glaubenskongregation, über den hl. Thomas von Aquin im deutschsprachigen Original und dankt S.E. für die freundliche Erlaubnis zur Weiterveröffentlichung:

Allen Menschen das „Evangelium Gottes… und von seinem Sohn… Jesus Christus, unserem Herrn“ (Röm 1,-1-4) zu verkünden ist der wesentliche Auftrag der Kirche.

Damit sie ihre göttliche Sendung ausführen kann, „führt der Heilige Geist sie in alle Wahrheit ein, eint sie in der Gemeinschaft und Dienstleistung, bereitet sie und lenkt sie durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen Gaben und schmückt sie mit seinen Früchten.“ (Lumen gentium 4).

Es ist Ausdruck ihrer hierarchisch-sakramentalen Verfassung, wenn die Apostel und ihre bischöflichen Nachfolger den Auftrag Jesu ausführen, der in göttlicher Vollmacht zu ihnen gesagt hat: „Geht zu allen Völkern… und lehrt sie alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Mt 28, 19).

Und zugleich ist die Fähigkeit zum Lehren auch eines der freien Charismen, durch die der Heilige Geist den einen Leib Christi in der Verschiedenheit seiner Glieder zusammenfügt und aufbaut: „Wer zum Lehren berufen ist, der lehre!“ (Röm 12, 7) – sagt der Apostel Paulus den Christen in Rom, damit jeder mit der ihm zugeteilten Gabe dazu beiträgt, dass die Kirche in Liebe aufgebaut wird.

Die christliche Theologie ist eine wesentliche Funktion der Kirche des inkarnierten Logos – gleich ob sie von Professoren im Priester- oder Laienstand vertreten wird. Und sie darf diesen doppelten Bezug niemals vergessen, dass sie sowohl im Auftrag Christi und der apostolischen Kirche verankert ist als auch dass sie nur dann vor einem kalten Rationalismus und humorlosen Positivismus bewahrt wird, wenn sie ihr charismatisches Element nicht vergisst. „Denn niemand kann sagen ‚Jesus ist der Herr‘ – wenn er nicht im Heiligen Geist redet… Denn jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt,… (etwa) das Charisma Weisheit mitzuteilen und Erkenntnis zu vermitteln.“ (1 Kor 12, 3.7.8).

Die Theologie ist nämlich die dritte Form des Lehrens in der Kirche nach der offiziellen Vorlage der geoffenbarten Glaubens durch das Lehramt und nach seiner katechetischen und homiletischen Vermittlung im liturgischen und sozialen Leben der Gläubigen. Die Theologie bedient sich der wissenschaftlichen Methoden und der logischen Argumentation. Denn jedem, der nach dem „Logos der unserer Hoffnung “ (1 Petr 3, 15) fragt, gebührt eine rationale Antwort. Diese darf zwar die Wahrheiten der Offenbarung nicht der begrenzten Einsichtskraft der natürlichen Vernunft unterwerfen. Aber die Vernunft des Glaubens (ratio fidei) nimmt durch das Licht des Heiligen Geistes am Logos Gottes teil, der sich in Jesus Christus in den Verstehenshorizont des Menschen hineinbegeben, ihn erweitert und erhöht hat. „Denn das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt… und allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1, 9.12).

Der hl. Thomas von Aquin, dessen 800. Geburtstag wir feiern, vereint in einzigartiger Weise alle drei Dimension des christlichen Lehrens, die letztlich alle in dem vom Heiligen Geist eingegossenen Glauben und von ihm erleuchteten Verstand vereinigt sind. Der von der Kirche als allgemeiner Lehrer (Doctor communis) anerkannte Professor der Theologie war sich demütig bewusst, dass wir Gott als die Wahrheit und das Heil des Menschen im Glauben nur erkennen und in Freiheit annehmen können, wenn sich unsere Vernunft zu allererst vom Heiligen Geist erleuchten lässt. Die Wahrheit Gott wird von uns zuvor empfangen und dann vermag die vom Glauben erleuchtete Vernunft „mit dem heiligen Thomas als Meister, die Heilsgeheimnisse in ihrer Ganzheit spekulativ tiefer durchdringen und in ihrem Zusammenhang zu verstehen, um sie, soweit möglich zu erhellen.“ (II. Vatikanum, Optatam totius 16).

Thomas verstand sich nicht als autonomer Philosoph, der am Ende seines Denkweges Gott als notwendige Idee der Vernunft postuliert oder affirmiert. Er sieht sich vielmehr als „Lehrer der katholischen Wahrheit“ (Summa theologiae I. prol.), die die Selbstoffenbarung Gottes als Wahrheit und Leben jedes Menschen präsentiert und die in Jesus Christus definitiv geschichtliche Wirklichkeit geworden ist.

Aber er lehnt auch die kreuzestheologisch oder subjektphilosophisch begründete Widerspruchsdialektik zwischen Gott und Welt ab, die aufgrund der Sünde oder der absoluten Autonomie der endlichen Vernunft einen unversöhnlichen Gegensatz von Natur und Gnade oder von Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis für das Wesen des Christentums hält, beziehungsweise darin postchristlich damit Unversöhnbarkeit von Offenbarung und Vernunft begründet sieht. Der Schein-Gegensatz zwischen dem Christentum und der Moderne in der Philosophie und in den empirischen Wissenschaften hat in der abgelehnten thomanischen Synthese von Glauben und Vernunft einen seiner Ursprünge.

In seiner 1800-seitigen Philosophiegeschichte bezeichnet der nachmetaphysisch denkende Jürgen Habermas in frappierender Überstimmung mit der Enzyklika „Fides et ratio“ des Papstes Johannes Paul II. die Beziehung von Glauben und Vernunft als das einzige Thema, das die okkzidentale Kultur und damit heute die Weltzivilisation ausmacht. Die Beziehung von Vernunft und Glauben ist damit für das Schicksal der Menschheit bedeutender als die Klimaneutralität und totale Wokeness.

Es ist die Frage, welchen Sinn das Sein überhaupt hat oder ob nicht vielmehr das Nichts der ziellose Anfang und das trostlose Ende von allem ist. Aber zugleich ist unsere Vernunft nicht nur das Denken des physisch und psychisch Gegebenen und der metaphysischen Prinzipien des Seins und der Erkenntnis, sondern auch die Offenheit des Hörens auf das Wort. Denn durch das Wort, das im Anfang war und das Gott ist, ist alles geworden ist. Und dasselbe Wort, durch das die gesamte Schöpfung ist, hat in seinem Sohn Jesus Christus auf menschliche Weise zu uns gesprochen und unter uns gewohnt. (Joh 1, 1.14).

Im Wesentlichen ist das gewaltige Werk des hl. Thomas eine Widerlegung und Überwindung des antiken und neuzeitlichen Gnostizismus, der mit seinem metaphysichen Dualismus das Sein in einen unaufhebbaren dialektischen Widerspruch zerreißt und den Menschen jeder Aussicht auf die Gemeinschaft mit Gott in Wahrheit und Liebe beraubt und uns alle einem existentialistischen oder kosmologischen Nihilismus ausliefert.

Den hermeneutischen Schlüssel zum katholischen Verständnis des Christentums bildet die Analogie von Natur und Gnade, von Vernunft und Glaube, Wille und Liebe. Der Glaube stützt sich auf die Autorität des sich offenbarenden Gottes im lebendigen Zeugnis der Apostel und der Kirche. „Aber die heilige Lehre nimmt die Vernunft in ihren Dienst; nicht um den Glauben zu beweisen; denn dadurch würde sie das Verdienst des Glaubens aufheben; sondern um den einen oder anderen ihrer Lehrsätze näher zu erläutern. Da nämlich die Gnade die Natur nicht unterdrückt, sondern im Gegenteil vollendet, so gehört es sich, dass die natürliche Vernunft ganz im Dienst des Glaubens stehe, wie die natürlichen Neigungen des Willens der übernatürlichen Liebe gehorchen.“ So schreibt der Apostel, er wolle ‚jeden Verstand gefangen nehmen um ihn Christus gehorsam zu machen‘.“ (Thomas von Aquin, Summa theologiae I q. 8 a. 8. ad 2).

Alle biblischen Theologien von der alttestamentlichen Genesis bis Paulus bis Johannes setzen bei der absoluten Gut-Sein der Schöpfung an, in der sich Gott als Ursprung und Ziel offenbart. In der Teilhabe am Sein und Leben Gottes ist alles Seiendes in sich unum, verum et bonum. Und im Kreuz Jesu offenbart Gott nicht einen Schmerz des Andersseins, der sich im ewigen Hervorgang des Sohnes aus dem Vater ereignen würde und der sich bei dem Hervorgang der Schöpfung als natureigner Widerspruch zwischen Gott und Welt manifestiert – wie es eine gnostisch gefärbte Kreuzestheologie von Luther bis Hegel insinuiert. Im Kreuz Jesu haben wir vielmehr die Vergebung der Sünden und den Anfang der erlösten Welt in der hochzeitlichen Einheit von Christus und der Kirche im Vorausblick auf die Neue Schöpfung. Im Christentum ist kein Platz für Weltschmerz, Fatalismus und Nihilismus, weil wir alle in Gottes Hand sind.

Thomas von Aquin ist wie alle Menschen und selbst die größten Denker, mit Ausnahme des Menschen Jesus von Nazareth, dem Fleisch gewordenen Gott-Logos, ein Kind seiner Zeit. Aber in der Darstellung der katholischen Wahrheit und der Reflexion ihrer Prinzipien, die im Intellekt des sich offenbarenden Gottes begründet sind, ist er für jeden Lehrer des Glaubens sowohl im kirchlichen Lehramt, in der katechetischen Vermittlung und wissenschaftlichen Forschung ein ausgezeichnetes Vorbild in der Beachtung neuer anthropologischer Fragestellungen und fortschreitender Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, „damit tiefer erfasst wird, wie Glaube und Vernunft sich in der einen Wahrheit treffen.“ (II. Vatikanum, Gravissimum educationis 10).

Was Thomas mit seinem gewaltigen Meisterwerk, der Summa theologiae, intendierte, nämlich die Christliche Religion so darzustellen, dass auch die Anfänger in der heiligen Wissenschaft motiviert werden, das legt auch das II. Vatikanum den Lehrern an den katholischen Universitäten und Schulen nahe. Mit Thomas als Lehrer und Vorbild „sollen die Studierenden zu Menschen herangebildet werden, die in ihrer Wissenschaft bestens bewandert, wichtigen Aufgaben im öffentlichen Leben gewachsen und Zeugen des katholischen Glaubens in der Welt sind.“ (II. Vatikanum, Gravissimum educationis 10). Amen.


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