22. November 2024 in Weltkirche
Lemberger Ordensmann P. Stanchyshyn fordert Umdenken Europas und auch des Vatikans hinsichtlich Putins Angriffskrieg auf die Ukraine - "Keine Versöhnung ohne Reue möglich"
Wien (kath.net/KAP) Als einen "Kampf um Freiheit, Würde und Demokratie - Werte, die Europa und die Ukraine verbinden" bezeichnet der ukrainische Jesuit P. Mykhailo Stanchyshyn den nun bereits 1.000 Tage dauernden Angriffskrieg Russlands auf sein Heimatland. Angesichts des immensen Leids, welche der Krieg verursacht habe, sei ein Umdenken Europas und auch des Vatikans hinsichtlich der Einschätzung Russlands und der möglichen Wege zum Frieden vonnöten: "Russisches Gas und Öl dürfen nicht die Werte Europas sein", forderte der Ordensmann in einem aktuellen Interview mit dem Medienbüro der Österreichischen Ordenskonferenz.
In einem auf Facebook veröffentlichten Brief hatte der katholische Priester auch Papst Franziskus kritisiert. Dessen Aufruf zur Versöhnung komme verfrüht, da wichtige Vorbedingungen dafür wie echte Reue und Wiedergutmachung nicht stattgefunden hätten. "Wer von Versöhnung spricht, sieht die frischen Wunden nicht, die täglich gerissen werden. Die Mutter, die ihren Mann und den Vater ihrer Kinder begraben hat, will keine Versöhnung hören, wenn keine Reue gezeigt wird", so P. Stanchyshyn. Ein tieferes Verständnis für die Realität in der Ukraine sei somit in Europa und auch vom Vatikan vonnöten.
Die Wurzeln des Krieges lägen durchaus auch im Umgang Europas mit Russland in den vergangenen Jahrzehnten, sei dessen Präsident Wladimir Putin doch lange "hofiert" oder als "Demokrat" bezeichnet worden - letzteres etwa vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder unmittelbar nach den Tschetschenienkriegen. Dies habe laut dem Jesuiten Putin in seinem Handeln bestärkt. Er wolle mit dem Krieg erreichen, "dass das Ukrainische aufhört zu existieren, aber er hat sich verschätzt. Die Ukraine lebt - und kämpft", so der Geistliche, der sich von einem weiter bestehenden "unerschütterlichen Willen der Ukrainer" beeindruckt zeigte.
Freilich: Die Situation in der Ukraine sei im angebrochenen dritten Kriegswinter erbärmlich und schlimmer denn je. 1.000 Tage Angst durch ständige Bombenalarme und Flucht in die Dunkelheit der Keller oder U-Bahnstationen habe die Bevölkerung schwer gezeichnet, besonders die Kinder und Jugendlichen. "Viele Kinder fingen mit zehn oder zwölf Jahren wieder an, ins Bett zu machen, weil sie ständig Angst hatten", berichtete P. Stanchyshyn. Er selbst leide bis heute an Schlafstörungen, nachdem er die Explosion einer Bombe direkt vor seiner Wohnung im April 2022 - der Priester war damals im mehrmonatigen humanitären Hilfseinsatz in Charkiw - glücklich überlebte.
Während man im Westen oft an die seit Februar 2022 getöteten Zivilisten denkt - offiziellen Zahlen zufolge über 12.000 - sind für den Ordensmann besonders auch die getöteten Soldaten relevant. Über 70.000 Gefallene gebe es auf ukrainischer Seite, dazu 300.000 Schwerverwundete. "Es sind meine Brüder, die ihr Leben für unsere Freiheit gegeben haben", so der Jesuit. Westlichen Schätzungen zufolge könnte die Zahl jedoch auch über 80.000 ukrainische Gefallene und eine halbe Million Verwundete betragen, auf russischer Seite belaufen Schätzungen auf 115.000 gefallene Soldaten. Allein am Lemberger Friedhof gebe es 1.000 neue Gräber, berichtete P. Stanchyshyn.
Wie groß das seelische Leid der Menschen sei, erlebe er als geistlicher Begleiter tagtäglich, so der Lemberger Priester weiter. Eine Mutter habe ihm gesagt: "In was für einer Zeit leben wir eigentlich, dass eine Mutter sich freut, eine Leiche begraben zu können?" Hintergrund sei, dass Familien sonst oft nur knapp über den Tod ihrer Männer, Väter oder Söhne benachrichtigt würden. Von einer anderen Frau habe er zu hören bekommen, sie sähe ohne ihre kleinen Kinder keinen Grund mehr zum Weiterleben. "Ich höre zu, bleibe bei ihnen und wische die Tränen ab", so der Priester über den Umgang mit den trauernden Hinterbliebenen.
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