Papst Pius XII. half verfolgten Juden und protestierte gegen deren Massenmord

13. Februar 2025 in Chronik


Pinchas Lapide: Der Heilige Stuhl hat zur Zeit des Nationalsozialismus mehr getan, den Juden zu helfen als jede andere Organisation des Westens, einschließlich des Roten Kreuzes. Gastkommentar von Hubert Hecker


Vatikan – Berlin (kath.net) Seit dem Theaterstück des deutschen Schriftstellers Rolf Hochhuth von 1963 unter dem Titel „Der Stellvertreter“ wird in immer neuen Anläufen Papst Pius XII. unterstellt, er habe nichts gegen die NS-Judenverfolgung getan und gesagt. Weitere Autoren wie Goldhagen und Cornwell haben den Pius-Papst zum Sündenbock oder „Buhmann für alles“ gemacht, wie Ruth Lapide 2002 formulierte. Auf der Verleumdungswelle reitet auch der amerikanische Sozialwissenschaftler David J. Kertzer mit seinem Buch von 2020: „Der Papst, der schwieg“. Der deutsch-französische Sender Arte, eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, hat sich in diese Verdächtigungskampagne eingeklinkt, indem die Anstalt auf der Basis des Buches am 23. Januar 2025 eine „Filmdokumentation“ präsentierte.

In dem Film wird das anstehende Thema nicht als eine offene Frage unter verschiedenen Aspekt untersucht, wie das für eine seriöse Dokumentation geboten ist. Ein wissenschaftliches Defizit besteht auch darin, dass die Hintergründe für die päpstlich-diplomatische Kommunikationsstrategie nicht erörtert, sondern als „lächerlich“ abgetan werden (Min 33).

So ist ein tendenziöses Projekt entstanden, bei dem eine vorurteilsbehaftete Behauptung am Anfang steht: die These von der „Passivität“ oder dem „Schweigen“ des Papstes gegenüber der Judenverfolgung. Methodisch werden selektiv vorwiegend Quellen herangezogen, mit denen die Eingangsthese illustriert wird. Aus diesem voreingenommenen Ansatz entsteht ein Tendenz-Beitrag mit Falschaussagen. Dazu kommen haltlosen Behauptungen und geschwätzige Kolportage – etwa mit der Wendung: „Im Vatikan sagte man: Der (Papst) redet nicht wie Jesus“. Positive Aktionen des Papstes zugunsten der Juden fallen bei dem Suchfilter „Passivität“ heraus, wie das folgende Beispiel zeigt.

• Der Film weist auf den weitverbreiteten säkularen Antisemitismus in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin. Er vermittelt den Eindruck, Papst Pius XII. sei damit im Einklang gestanden und sogar „bestärkt“ worden, wie es in einer Rezension heißt. Tatsächlich verweigerten auf der internationalen Flüchtlingskonferenz von Évian im Sommer 1938 viele westliche Staaten die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland mit antisemitischen Begründungen. Papst Pius XII. dagegen organisierte als vatikanischer Staatssekretär noch im gleichen Jahr auf diplomatischen Wegen knapp 20.000 Ausreisevisa für deutsche Juden – mehr als auf der Évian-Konferenz an Aufnahmezusagen von 32 westlichen Ländern zusammengekommen waren. Der Papst setzte sich also entgegen der antisemitischen Tendenzen in Westeuropa, Kanada und Australien für die Juden ein.

• Auch innerhalb der Kirche habe eine antisemitische Stimmung geherrscht, behauptet der oben erwähnte David J. Kertzer als Kronzeuge des Films. Seine These: Insbesondere die Gemeindepfarrer hätten in ihren Sonntagspredigten eine negative Charakterisierung der Juden betrieben (Min 28). Kertzer beschwört die Auswirkungen – wohl als Anfälligkeit für die säkulare Judenverfolgung der Nationalsozialisten. Die These in dieser Allgemeinheit dürfte der Professor kaum belastbar belegen können. Dagegen gibt es für Deutschland unverdächtige Quellen, die das Gegenteil erweisen. Im Lagebericht zu dem Regierungsbezirk Arnsberg/Westfalen für 1935, dem Jahr der Nürnberger Rassegesetze, bescheinigte die Gestapo dem niederen Klerus nachhaltige Resistenz gegen die antisemische Rassenlehre der Nazis: „Der niedere Klerus lehnt das Ideengut vor allem den Gedanken von Rasse und Blut des Nationalsozialismus kurzer Hand als areligiös ab. Einen besonders großen Raum nimmt in den Predigten die Rassenfrage ein. Die Maßnahmen gegen das Judentum und das Sterilisationsgesetz sind daher Gegenstand dauernder Hetze.“

Im Übrigen spricht es für die geschlossene Abwehrfront des katholischen Klerus gegen die NS-Ideologie, wenn von den damals 21.000 Geistlichen in Deutschland nur 0,5 Prozent Mitglieder der NSDAP waren. Das war die mit Abstand geringste Quote gegenüber allen anderen Berufsgruppen wie etwa den protestantischen Pfarrern und Bischöfen mit etwa 20 Prozent oder Medizinern mit bis zu 80 Prozent an Mitgliedschaften in NS-Organisationen.

• Dokumente, die positiv für Haltung und Handlungen des Papstes sprechen, werden im Film einseitig zitiert und interpretiert. Ein Beispiel:

Aus der päpstlichen Enzyklika „Summi pontificatus“ kurz nach dem Ende des Polenkriegs von Seiten Hitlers und Stalin stellt der Film nebensächliche Stellen in den Vordergrund, um die Hauptaussagen des Dokuments zu marginalisieren. Der Papst beklage zwar den Überfall auf Polen, aber nicht als Verstoß gegen das Völkerrecht, behauptet ein Filmsprecher (Min 12). Dagegen heißt es in dem Text: Ein totalitäres Regierungssystem „raubt dem Völkerrecht seine Grundlage und Kraft … und verhindert Einigung und friedlichen Verkehr.“

Unter der Überschrift: „Gegen Rassismus und jede Gewaltherrschaft“ fasst Wikipedia die wichtigsten Grundsätze des päpstlichen Schreibens zusammen: Aus der Einheit der Menschheit in Ursprung und Natur resultiert die vernunftmäßige Gleichheit der Menschen und Nationen ohne irgendwelche Überlegenheit oder Unterordnung von Rassen. Sie verpflichtet aber auch die Menschen und Völker zur Respektierung der naturrechtlichen Gesetze der Solidarität und Brüderlichkeit, zu Vertragstreue, gegenseitigem Austausch von Gütern und friedlichen Beziehungen der Nationen. Diese menschen- und völkerrechtlichen Maximen des Papstes sind deshalb bedeutsam, weil sie im Ansatz bereits die späteren Grundsätze der UNO-Charta einschließlich der Menschenrechte enthalten. Der Film unterschlägt diese Kernaussagen. Stattdessen versucht er mit sinnloser Sophisterei herumzumäkeln: Die Enzyklika würde zwar die Gleichheit aller Menschen postulieren, aber sie vergesse zu erwähnen, dass die Juden dazugehören – als wenn sie in dem Begriff aller Menschen nicht schon eingeschlossen wären.

Die New York Times charakterisierte den päpstlichen Protest unter der Überschrift: „Diktatoren, Vertragsbrüche und Rassismus werden vom Papst in seiner ersten Enzyklika verurteilt.“ Die deutsche NS-Regierung stoppte den Druck und die Verbreitung des päpstlichen Schreibens, die Gestapo ermittelte gegen Personen, die die Enzyklika gelesen oder zu verbreiten versucht hatten – Polizeimaßnahmen wie 100 Jahre vorher zu dem Hessischen Landboten von Georg Büchner. Alliierte Flugzeuge warfen im Gegenzug fast hunderttausend Kopien über Deutschland ab.

• Der Film vermittelt den Eindruck, dass Papst Pius XII. bei dem Besuch des deutschen Außenministers Ribbentrop im März 1940 eine Art Pakt geschlossen hätte (Min 13): Hitler würde die Kirche und Priester nicht weiter verfolgen, wenn Papst und Kirche sich nicht mehr kritisch zu politischen Themen und der Rassenpolitik NS-Deutschlands äußern würden. Der Film spricht nicht ausdrücklich von einer Vereinbarung, aber solche Zwischenbemerkungen wie: „Pius sieht das genauso wie Hitler“ verstärken den oben genannten Eindruck.

Die historische Entwicklung strafte die Film-Interpretation einer Übereinkunft Lügen: Statt Zurückhaltung verschärfte Hitler ab diesem Zeitpunkt die Kirchenverfolgung mit dem sogenannten Klostersturm. Die NS-Regierung beschlagnahmte und enteignete mehr als 300 katholische Klöster und kirchliche Einrichtungen und vertrieb die Bewohner. Angesichts der aggressiven Politik Hitlers erneuerte der Papst seine Kritik an der NS-Religions- und Rassenpolitik, indem er dem deutschen Vertreter Hitlers eine lange Liste Gräueltaten und religiöser Verfolgungen von Christen und Juden in Deutschland und in Polen vorlas, so der Historiker Martin Gilbert.

• In einer früheren Version des Films, ausgestrahlt vom ARD-Sender Phönix am 4.11.2024, wird die These von einem Deal zwischen Hitler und dem Papst noch weiter ausgeschlachtet. Papst Pius XII. hätte mit Hitlers Unterhändlern „ausgemacht“, zu der Judenverfolgung zu schweigen, wenn die NS-Medien mit ihrer Hetzkampagne gegen die Kirche wegen homosexueller und pädophiler Geistlicher aufhörte. Bei zwei Gesprächen im Vatikan jeweils im Frühjahr 1939 und 1940 hatten Hitlers Emissäre tatsächlich ein solches Verhandlungsangebot angedeutet. Der Papst ging darauf natürlich nicht ein. Denn Hitler hatte schon im Sommer 1937, also zwei Jahre vor den Verhandlungen, die Welle der sogenannten Sittlichkeitsprozesse stoppen lassen, um die „innenpolitische Konfliktlage“ mit den Katholiken zu befrieden, wie das Historische Lexikon Bayerns feststellt. Der „Stopp“ konnte also gar nicht mehr Verhandlungsgegenstand sein. Zum andern war es nicht die Art des Papstes, mit einem solchen Deal von seinen Handlungsmaximen abzurücken. Auch aus den Gesprächsprotokollen, die der Film zitiert, ist kein entsprechendes Aushandlungsergebnis  herauszulesen. Trotzdem bleibt der Film in seinem Schluss-Resümee bei dieser unwahren und verleumderischen Behauptung: „Pius sicherte mit seinem Schweigen (zu der Judenverfolgung) den Bestand der Kirche und erkaufte sich, dass Hitler den sexuellen Missbrauch in der Kirche nicht ans Licht kommen ließ“ (Min 14).

• Bei seiner Weihnachtsansprache im Jahre 1942 knüpfte der Papst an die Enzyklika vom Oktober 1939 gegen den Polenkrieg an, in der er die Gleichheit der Menschen und Nationen betont hatte. Auch in der Ansprache drei Jahre später befasste er sich größtenteils mit Menschenrechten und Prinzipien für die Völkerverständigung und zivilgesellschaftlichem Umgang. In diesem Rahmen ging er auf die „Hunderttausenden“ von Unschuldigen ein, die allein „aufgrund ihrer Nationalität oder Rasse zum Tode oder allmählichen Aussterben verurteilt“ seien. Auch wenn der Papst die Täter und Opfer nicht namentlich nannte, ergab sich aus den Begriffsbedeutungen der Anklage, nämlich Massenmorde an unschuldigen Menschen aus rassistischen Motiven, die zwingende Folgerung, dass damit nur Hitlers Völkermord an den Juden gemeint sein konnte. Auf Nachfrage hat der Pius-Papst ausdrücklich diese Intention bestätigt – und so hat gemäß einer Studie auch die internationale Presse die Rede verstanden. Als Gegenprobe für dieses Verständnis kann das nationalsozialistische Reichssicherheitshauptamt angeführt werden, das den Papst beschuldigte, nunmehr ein „Sprachrohr“ der Juden zu sein. Im Filmkommentar meinte dagegen der Moraltheologe Klaus Kühlwein, die Alliierten hätten die Redepassage sicherlich nicht so verstanden bzw. verstehen können (Min 41). Diese Behauptung ist nachweislich falsch: Francis Osborne, der britische Vertreter im Vatikan, schrieb zu der Papstrede: Die Passagen in seiner Weihnachtssendung seien „eindeutig auf die Verfolgung der Juden bezogen“. Der amerikanische Diplomat Harold H. Tittmann identifizierte die Botschaft des Papstes als „Anklage gegen den Totalitarismus“ Hitlers, bei der der „Hinweis auf die Verfolgung der Juden und die Massendeportationen unverkennbar“ sei.

• Schließlich ist die Haltung von Papst und Kirche zur NS-Verfolgung der etwa 8.000 Juden in Rom zu erörtern. Anfang September 1943 hatten die deutschen Truppen Rom besetzt. Mitte des Monats befahl Heinrich Himmler als Reichsführer SS die Deportation aller etwa 56.000 italienischen Juden, anfangend mit den Juden Rom. Ab diesem Zeitpunkt bekam Papst Pius XII. täglich Bitt- und Hilferufsbriefe von jüdischen Familien und Gruppen. Der Papst aktivierte verschiedene vatikanische Kanäle zur Intervention, um die drohende Deportation abzuwenden bzw. zu stoppen. Gleichzeitig sandte er Handschreiben an die Äbte und Bischöfe mit der Anweisung, die Klausur der Klöster und Konvente aufzuheben, um Zufluchtsstätten für die verfolgten Juden zu schaffen. Das berichtete Israel Zolli, der Oberrabbiner von Rom. Die päpstliche Anweisung ist auch durch Einträge in Klöstern dokumentiert und gesichert, denn eine Klausur konnte nur vom Papst zeitlich aufgehoben werden. Schließlich bestätigte auch die italienische Historikerin Emma Fattorini im Film den Tatbestand: „Der Papst hat den Juden in Rom geholfen, indem er sie in Klöstern und Ordenshäusern unterbringen ließ, wo er alle Juden willkommen hieß“ (Min 48). Und selbst wenn manche kirchliche Einrichtungen auch ohne ausdrückliche vatikanische Aufforderung handelten, dürften das vorgängige Hilfehandeln des Papstes sowie sein Protest gegen den rassistischen Massenmord an unschuldigen Menschen in seiner Weihnachtsansprache sie motiviert und ermutigt haben.

Laut dem israelischen Forscher Michael Tagliacozzo erhielten 4.238 Juden in 155 römischen Klöstern lebensrettendes Asyl, 477 wurden auf dem vatikanischen Territorium versteckt. Letztlich konnten durch vatikanische, ortskirchliche und bürgerliche Verstecke etwa 7000 römische Juden vor der Deportation gerettet werden.

Angesichts der vielen historischen Nachweise für die päpstlich initiierte Hilfsaktion ist es eine ignorante und arrogante Trotzreaktion, wenn der Filmkommentar die päpstliche Initiative ausdrücklich leugnet und ins Blaue hinein behauptet, was er nicht beweisen kann: alle römischen Klöster und Konvente hätten ausschließlich „von sich aus“ ihre Pforten und Klausuren geöffnet (Min 48).

• Während der frühen Regierungszeit von Papst Pius XII. von 1939 bis 1945 baten ca. 10.000 Juden aus ganz Europa den Pontifex und Vatikan um Hilfe. Gerade in der Zeit der verschärften Verfolgung behielten sie das Vertrauen und die Hoffnung, dass der Heilige Stuhl ihnen helfen könnte. „Retten Sie uns, Heiliger Vater“ war der Tenor vieler Bittbrief. In manchen Fällen konnte der Vatikan selbst helfen, etwa bei finanzieller Not oder bei der Vermittlung von Wohnungen und Verstecke. Bei Bitten um Visa oder Haftbefreiung wandte sich die päpstliche Verwaltung an die jeweils zuständige Stelle. Das sind die ersten Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt der Kirchenhistorikers Hubert Wolf im Vatikan-Archiv.

Ein Gegenstück zu dieser Forschung im Vatikan bildeten die Untersuchungen von Pinchas Lapide in neun mittel- und osteuropäischen Ländern. Der deutsch-jüdische Diplomat und Historiker forschte in den zwei Nachkriegsjahrzehnten zur nazistischen Judenverfolgung in diesen Ländern sowie den Interventionen von Vatikan und ortskirchlichen Stellen zur Rettung von Juden. Nach Lapides Land-für-Land-Recherche gab Pius XII. zum Beispiel direkte Anweisungen zur Rettung bulgarischer Juden. Giuseppe Roncalli, damals Legat für Türkei und Griechenland, bestätigte Lapide gegenüber, dass er die Ausstellung von tausend Blankotaufscheinen für verfolgte Juden „mit Wissen und im Auftrag Pius XII.“ ausgegeben habe. Als Resümee seiner Forschung hielt Lapide fest: Der Heilige Stuhl hat mehr getan, den Juden zu helfen als jede andere Organisation des Westens, einschließlich des Roten Kreuzes. „Pius XII. hat während des Krieges durch diskrete Hilfe von kirchlichen Stellen direkt oder indirekt das Leben von etwa 860.000 Juden gerettet.“

In dem Film: „Papst Pius XII. und der Holocaust“ werden viele voreingenommene und einseitige Thesen vertreten sowie das positive Handeln des Papstes unterschlagen, so dass der Streifen kaum als seriöse Dokumentation angesehen werden kann.

Literaturempfehlung zu dem amerikanischen Historiker José M. Sánches: Pius XII. und der Holocaust. Anatomie einer Debatte, Schöningh-Verlag, 167 Seiten


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