19. Februar 2025 in Kommentar
Zum Zweck der Verteidigung der staatskirchlichen Privilegien und der Konkordate huldigt die Kirche der postchristlichen Mehrheitsgesellschaft. Gerade das würgt ihre evangelisierende Verkündigung ab. Gastkommentar von Martin Grichting
Chur (kath.net)
Die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz sind schlimm. Aber zum Glück ist das Land klein. Interessant ist sein Fall vor allem deshalb, weil die Dinge in der Schweiz weiter gediehen sind als in Deutschland und Österreich. Deshalb lohnt sich ein Blick darauf.
In kirchlich Helvetien wird es immer absurder. Bislang fehlten die Gläubigen. In einer gewöhnlichen Pfarrei der Deutschschweiz steht ein Pfarrer oder ein „Gemeindeleiter“ einer immer überalterteren und trostloseren Gottesdienstgemeinschaft gegenüber. Es ist der Normalfall, wenn es einem Priester nicht durch würdige Liturgie und lehramtstreue Verkündigung gelingt, die vitalen Gläubigen eines ganzen Dekanats zu sammeln. Was jetzt aber noch hinzukommt: Es fehlt zusehends auch das „Personal“. Im Bistum Basel gehen bis in 10 Jahren die Hälfte der „Angestellten“ in Pension. In den anderen Bistümern rechnet man mit vergleichbaren Zahlen. Was Priesteramtskandidaten betrifft, wurde die letzte Ausnahme, das Bistum Chur, in den letzten vier Jahren auf die Verhältnisse von Basel und St. Gallen herunternivelliert: gegen Null. Selbst angehende Laientheologen gibt es kaum noch. Da die relativ wenigen diesbezüglichen Studenten in Deutschland von den Diözesen problemlos angestellt werden können, weil auch dort Unterbestand herrscht, kommen sie nicht mehr scharenweise in die Schweiz. Man hat sich deshalb mit Quereinsteigerprogrammen beholfen, die aber kaum etwas bringen. Weiterhin versucht man, Priester auf dem Weltmarkt einzukaufen, wobei Polen und selbst Afrika inzwischen kaum noch liefern können. Es bleibt vorderhand Indien als das Land der Hoffnung. Aber es reicht nicht mehr.
Trotz des Gläubigenmangels und des Personalmangels mangelt es dank des Staatskirchentums an einem nicht: an Geld. Es dient nicht nur dazu, ein überdimensioniertes Pfarreinetz aufrechtzuerhalten. Das Steuergeld fordert zwingend, dass diese Strukturen erhalten bleibt. Denn kein Kirchensteuerzahler versteht, warum man das Steuergeld nicht ausgibt, das in Hülle und Fülle vorhanden ist. Deshalb laboriert man inzwischen in verwaisten Pfarreien mit Nichttheologen als „Netzwerkern“ oder „Ansprechpersonen“. Die Reformierten, die trotz verheirateten Pfarrern und Pfarrerinnen noch grössere personelle Probleme haben, wollen gar einen drei Monate dauernden Schnellbleichkurs anbieten, um ein Pfarramt führen zu können.
Hinter solch immer sinnfreieren Vorgehensweisen steht unausgesprochen ein Denkverbot: Man darf auf keinen Fall die staatskirchlichen, also finanziellen Privilegien in Frage stellen sowie den öffentlich-rechtlichen, also staatsähnlichen Charakter der Kirche. Dieser gesellschaftliche Status muss um jeden Preis gewahrt werden. Und der Preis, den man dafür zu zahlen bereit ist, ist der Verzicht auf die evangelisierende Verkündigung des Glaubens ohne Abstriche.
An dieser Stelle tut sich der tragische Interessenkonflikt auf: Je lehramtstreuer die Kirche in Bezug auf den Kernbereich des Glaubens – Gottheit und Auferstehung Jesu Christi, Berufung zur Heiligkeit und ewiges Leben – und in Fragen der Familie und des Lebensrechts verkündigt, desto zurückgebliebener und bemitleidenswerter macht sie sich in den Augen der postchristlichen Gesellschaft. Einen solchen Imageschaden und dadurch drohende „Kirchenaustritte“ gilt es jedoch zu vermeiden. Deshalb geht die amtliche Verkündigung den eigentlichen Themen des Glaubens so gut wie möglich aus dem Weg. Was heute von vielen Kanzeln tropft, könnte man am passendsten mit dem Begriff Theophilanthropismus bezeichnen: Gutmenschentum in der Sprache Kanaans – wenn man bestimmte Glaubensinhalte, die anstössig sind, nicht gleich relativiert oder gar bekämpft. Stattdessen heult man mit den woken, linksgrünen, genderistischen und migrationsfreundlichen Wölfen. Lehramtstreue Priester, Laientheologen – das gibt es! – und Laien hingegen stören diese Politik. Denn sie stellen den faulen Frieden mit der postchristlichen Gesellschaft in Frage. Deshalb werden sie, wenn sie dort durch unverkürzte Glaubensverkündigung „negativ“ auffallen, isoliert, marginalisiert oder gar stummgeschaltet. Und es ist klar: Wenn die Kirchenleitung und ein erheblicher Teil der Mitarbeiter den Idealen der postchristlichen Mehrheitsgesellschaft huldigen, wird nicht mehr das Evangelium verkündet. Das jedoch entfremdet diejenigen Gläubigen, die aus religiösen Gründen der Kirche angehören, ihren Hirten. Letztere werden immer weniger gehört und als kaum noch hilfreich für das eigene Christsein wahrgenommen. Und die Neigung, in den Dienst einer Staatskirche zu treten, die primär um den Erhalt ihrer Privilegien kämpft statt unerschrocken Zeugnis zu geben, sinkt dadurch immer weiter. Es ist vor aller Augen.
Das ist die Selbststrangulation der steuerfinanzierten Kirche, in der Schweiz, aber auch in den beiden anderen deutschsprachigen Ländern. Denn die Bischofspuppen sehen dort zwar etwas anders aus, aber das Sägemehl, mit dem sie gefüllt sind, ist überall das gleiche, ein paar unerschrockene „Betriebsunfälle“ aus den Amtszeiten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ausgenommen. Im Übrigen ist es nicht so, dass der Apostolische Stuhl, der die Bischöfe ernennt, eine Hilfe wäre, im Gegenteil. Er hängt mit seinen Diplomaten an den Konkordaten sowie am politischen Status der Kirche und ernennt zuverlässig Bischöfe, von denen er erwarten kann, dass sie die im Ergebnis palliative Kirchenpolitik in seinem Interesse weiterführen. Das geistliche Ausbluten der Kirche nimmt man dafür billigend in Kauf.
Es gibt hier nichts Neues unter der Sonne. Es sei kurz an drei Beispielen erläutert: In Frankreich herrschte seit 1801 das napoleonische Konkordat. Es war eine Zwangsjacke, weil es dem Staat erlaubte, die Bischöfe zu ernennen. Zudem waren diese und der Klerus von der staatlichen Besoldung abhängig und wurden entsprechend gegängelt. Es war dann eine Allianz aus sozialistischen, radikalen und freimaurerischen Kirchengegnern, die 1905 gegen den erbitterten Widerstand der Kirchenoberen das Konkordat abschaffte sowie die Trennung von Staat und Kirche herbeiführte. Mit anderen Worten: Die Kirche wurde gegen ihren Willen durch ihre Gegner befreit.
Die Fürstbistümer in Deutschland, deren Ursprung im Feudalismus des ersten Jahrtausends lag und die seit der Entstehung von grossen Flächenstaaten im 18. Jahrhundert aus der Zeit gefallen waren, wurden nicht seitens der Kirche aufgegeben. Man hat sie ihr nehmen müssen durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Die geistliche Blüte der Kirche im 19. Jahrhundert wäre ohne ihre Befreiung aus dynastischen Interessen nicht denkbar gewesen. Die Kirche wurde gegen ihren Willen durch ihre Gegner befreit.
Und der Papst selbst: Zweifellos war der Kirchenstaat im feudalen Mittelalter ein unverzichtbares Instrument für die Erfüllung der geistlichen Sendung der Kirche. Aber als sich Italien im 19. Jahrhundert einigte, war es Zeit, sich von diesem Klotz am Bein zu trennen und sich als weltlicher Herrscher zurückzuziehen. Bekanntlich aber machte sich der Papst von Frankreichs Truppen abhängig und kämpfte im Jahr 1870 bis zur letzten – französischen – Patrone für das, was nur noch ein Anachronismus aus dem Mittelalter war. Die Kirche wurde gegen ihren Willen durch ihre Gegner befreit.
Man muss deshalb realistisch sein: Die Selbststrangulation der Kirche in den deutschsprachigen Ländern wird von der Kirche selbst, aus Einsicht darin, dass es so nicht mehr weitergehen kann, nicht beendet werden. Weder der Apostolische Stuhl noch die sich staatstragend wähnenden Bischöfe – ein deutscher Bischof galt einmal medial so viel wie ein Ministerpräsident – und auch nicht die Mehrheit des kirchlichen „Personals“, das sich finanziell gut eingerichtet hat, wollen dies. Es wird deshalb dauern, bis die Kirche im deutschsprachigen Raum gegen ihren Willen durch ihre Gegner befreit wird. Man kann diese Zeit nicht abkürzen. Denn da die Kirche nicht handeln will, liegt das Gesetz des Handelns bei ihren Gegnern.
Es bleibt in dieser Zeit für diejenigen, die nicht durch Komplizenschaft an der Selbststrangulation mitwirken wollen, sich vor allem ausserhalb der staatskirchlich gelähmten Strukturen einzubringen: in Ordensgemeinschaften und Bewegungen, in neuen Evangelisierungsinitiativen und Gebetskreisen, in freien, der kirchlichen Sendung dienenden Medien sowie in zivilgesellschaftlichen Initiativen etwa im Bereich des Einsatzes für das Leben. Und nicht zuletzt soll man diejenigen Priester und Laienmitarbeiter, die dem ganzen Evangelium dienen wollen und die in einem masochistischen Staatskirchensystem gefangen sind, so gut wie möglich unterstützen. Denn sie leiden in einer wenig beneidenswerten Lage. Auf jeden Fall gilt: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“ (Lk 9,60).
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