Der Mann, der die Kirche von Golgatha aus leitet

20. Oktober 2004 in Interview


Wie das Pontifikat von Johannes Paul II. durch dessen zunehmende körperliche Schwäche beeinflusst wird: Interview mit Papst-Biograph George Weigel.


New York (www.kath.net / zenit)Wie hat sich das Pontifikat von Johannes Paul II. in diesen letzten Jahren, in denen er gesundheitlich schwächer geworden ist, verändert? ZENIT hat den päpstlichen Biographen George Weigel gefragt, ob er irgendwelche Veränderungen beim alternden Heiligen Vater sieht, der am Samstag das 26-jährige Jubiläum seines Pontifikates feierte.

Wie haben die körperlichen Gebrechen von Johannes Paul II. sein Pontifikat verändert?

Weigel: Ich denke, dass das Leiden des Papstes den evangelikalen Charakter seines Pontifikats unterstrichen hat. Vielleicht war die weiseste Zeile, die jemals über Johannes Paul II. geschrieben wurde, die des französischen Journalisten Andre Frossard, die er seiner Zeitung in Paris am Tag der Amtseinführung Johannes Pauls schrieb, „Das ist kein Papst aus Polen, das ist ein Papst aus Galiläa.“ Die Welt ist nun Zeuge dieses „Papstes aus Galiläa“, der die Kirche nicht von einem Thron aus leitet, sondern vom Kreuzweg, von Golgatha aus. Wenn er die Kirche und die Welt dazu einlädt, die „via crucis“ mit ihm zu gehen, setzt Karol Wojtyla seine Predigt über Jesus Christus bis zum Ende fort.

Unsere Welt hat oft Schwierigkeiten, mit Krankheit und Leid umzugehen. Was können wir von der Art und Weise lernen, wie der Papst mit seinen körperlichen Gebrechen umgeht?

Weigel: Der Papst lehrt die Welt, dass jeder Mensch unersetzlich ist: jeder ist unendlich wertvoll, von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Sind der verstorbene Christopher Reeve oder Michael J. Fox die einzigen Menschen, an denen wir uns bei der verbrauchenden Embryonenforschung orientieren? Warum sehen wir uns nicht Johannes Paul II. an, der seine Überzeugung nicht auf seine persönlichen Umstände abgestimmt hat? Ist sein Zeugnis nicht ebenso aussagekräftig?

Was bewirkt der Anblick eines Papstes im Rollstuhl bei der Kirche und in der Welt? Wie beeinflusst das die Sicht der Menschen auf das Papsttum und auf sich selbst?

Weigel: Einer der ältesten Titel der Päpste ist „servus servorum Dei“, Diener der Diener Gottes. Die Kirche und die Welt sehen einen Papst, der sein Leben bis zuletzt in den Dienst der Wahrheit stellt, auf die er in seinem Leben gesetzt hat. Ich hoffe, dass dieses Zeugnis die gesamte Kirche zu ähnlicher Hingabe inspiriert.

Das „R-Wort“ wurde in den vergangenen Jahren diskutiert. Was würden sie zu denen sagen, die meinen, der Rücktritt sei für Johannes Paul II. eine mögliche Option?

Weigel: Ich würde ihnen das wiederholen, was der Papst bei zahlreichen Gelegenheiten gesagt hat, dass er diese Bürde dann niederlegen werde, wenn Gott sie von ihm nimmt.

Mit all den Initiativen – dem Jahr des Rosenkranzes, dem Jahr der Eucharistie – wie hat sich der Schwerpunkt dieses Pontifikats verlagert?

Weigel: Ich glaube nicht, dass es sich verlagert hat – der wichtigste Schwerpunkt ist und bleibt die Neuevangelisierung als Antwort der Kirche auf die weltweite Krise der heutigen Gesellschaft – aber vielleicht können wir sagen, dass sich der Schwerpunkt spirituell vertieft hat. Wenn die Neuevangelisierung ihren Ursprung nicht im Gebet hat, kann sie keinen Erfolg haben. Die Kirche bringt der Welt das Evangelium durch die Leben schenkende Erfahrung der Eucharistie und durch den regelmäßigen Rhythmus ihres Gebets.

Eine zusammenfassende Frage: Erleben wir heute stärker den Mystiker Johannes Paul im Gegensatz zum Weltpolitiker der ersten Jahre?

Weigel: Diese beiden Dimensionen waren immer da. Der Mann, den wir heute sehen, der die Kirche von Golgatha aus leitet, ist derselbe Mann, der eine zentrale Rolle beim Zusammenbruch des europäischen Kommunismus spielte. Der Führungsstil des Papstes ist schon immer von seinem reichen und vielfältigen inneren Leben geprägt gewesen.

Foto: (c) www.kath.net


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