„In Blut getränkt“

18. April 2025 in Chronik


Zum Heiligen Jahr wird erstmals wieder die geheimnisvolle Tunica von Argenteuil, der Überlieferung nach das Gewand Christi, ausgestellt. Von Michael Hesemann.


Paris (kath.net)
Zum Heiligen Jahr 2025 lohnt nicht nur eine Pilgerreise nach Rom. In der St. Denis-Kirche von Argenteuil, einem Vorort von Paris, wird in diesem Jahr vom 18. April (Karfreitag) bis 11. Mai eine der zwar unbekanntesten, aber zugleich kostbarsten Reliquien der Christenheit verehrt: Die Tunika, das Untergewand also, das der Tradition nach Unser Herr auf dem Weg zum Kalvarienberg getragen hat.
Im Johannes-Evangelium lesen wir: „Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen. Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll.“ (Joh 19, 23-24)

Wir können nur spekulieren, was danach mit der Tunika geschah. Dass Johannes sie so ausführlich beschreibt, zeugt von der Bedeutung, die er ihr zugemessen haben muss. Bei Matthäus (27,31) und Markus (15,20) lesen wir, dass die Legionäre Jesus nach seiner Geißelung und Dornenkrönung den Spottmantel abnahmen und ihm „seine eigenen Kleider wieder anzogen“. Das hieße, dass er die Tunika auf seinem Weg nach Golgotha trug, dass sie von seinem bei der Geißelung vergossenen Blut durchtränkt war. Bei gläubigen Juden wird bis auf den heutigen Tag alles, das mit dem Blut eines Verstorbenen in Kontakt kam, mit diesem bestattet. So ist anzunehmen, dass der reiche Ratsherr Joseph von Arimathäa, der Jesus in seinem neuen Grab bestattete, zumindest versuchte, dem Legionär das beim Würfelspiel gewonnene Untergewand abzukaufen, um es in die Grabhöhle zu legen.
Trotzdem dauerte es ganze fünf Jahrhunderte, bis die Tunika Christi in einem Buch des gelehrten Bischofs Gregor von Tours erstmals wieder erwähnt wurde: „Man sagt aber, dass sie in einer Stadt in Galata aufbewahrt wird, in einer Basilika, die man ‚Zu den heiligen Erzengeln‘ nennt… 150 Meilen entfernt von der Stadt Konstantinopel.“ Später ergänzte der fränkische Chronist Fredegar, man habe sie „unweit von Jerusalem in einer Lade aus Marmor gefunden“. Pilger und Kreuzritter wollen sie schließlich in einem Kloster in Konstantinopel gesehen haben.

Die Verehrung der Tunika von Argenteuil ist erst seit dem 12. Jahrhundert bezeugt. In einem Nonnenkloster aus der Merowingerzeit, das zwischenzeitlich von den Normannen zerstört und später wieder aufgebaut worden war, stieß man bei Renovierungsarbeiten auf die irgendwann eingemauerte Reliquie. Sofort leitete die Kirche eine Untersuchung ein, die im Beisein von König Louis VII. stattfand. In einer vom päpstlichen Legaten für Frankreich, neun Bischöfen und zehn Äbten als Zeugen unterzeichneten Urkunde wurde festgehalten, was offenbar lokale Tradition war: Dass Karl der Große selbst um das Jahr 800 die kostbare Reliquie des Herrengewandes dem Kloster gestiftet hatte, das damals von seiner Tochter, der Äbtissin Theodrade, geleitet wurde. Er muss sie entweder aus Rom mitgebracht haben, wo er Papst Leo III. vor einer Rebellion gerettet hatte, oder sie war ein Geschenk der byzantinischen Kaiserin Irene, um deren Hand er warb. Für die Argenteuiler Tradition spricht, dass Karls gleichnamiger Sohn seiner Tochter als Mitgift „ein Fragment der ungenähten Tunika Christi“ schenkte, als diese 856 den englischen König Ethelwulf heiratete.

Das ganze Mittelalter hindurch war Argenteuil der bevorzugte Wallfahrtsort der französischen Könige. Dann brach die Revolution über das Land herein, als Plünderungen von Kirchen und die Zerstörung von Reliquien an der Tagesordnung waren. Als Revolutionsanhänger 1791 das Kloster von Argenteuil überfielen, gelang es dem Ortspfarrer Ozet quasi in letzter Sekunde, das heilige Gewand zu retten. Aus Furcht vor weiteren Übergriffen zerschnitt er es in mehrere Teile, die er zur Sicherheit an verschiedenen Stellen im Ort vergrub. Neun Jahr später wurden sie wieder der Erde entnommen und in mühsamer Kleinarbeit zusammengesetzt, um fortan in der Pfarrkirche verwahrt zu werden. 1804 bestätigte der päpstliche Kardinallegat Giovanni Battista Caprara die Echtheit der jetzt stark lädierten Reliquie.
1898 gab der Bischof von Versailles, zu dessen Diözese Argenteuil gehört, eine erste Untersuchung durch Chemiker, Mediziner und Textilexperten in Auftrag. Eine zweite Studie fand 1932-34 statt. Beide Male kamen die Experten zu dem Schluss, dass die Tunika aus dem Nahen Osten stammt, alle Charakteristiken einer römischen Textilie aus dem 1.-3. Jahrhundert aufweist und über und über mit Blutflecken bedeckt ist.

1998 verglich der Nuklearphysiker Dr. André Marion, Leiter des Nationalen Forschungszentrums CNRS und Professor am Institut für Optik der Universität von Paris-Orsay, die Blutflecken auf der Tunika mit den Verletzungen des Mannes auf dem Turiner Grabtuch und stellte, fest dass neun von zehn absolut deckungsgleich waren.
Fünf Jahre später holte der neue Bürgermeister von Argenteuil die Reliquie in einer Nacht- und Nebel-Aktion aus der Pfarrkirche, um sie wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Die Stoffexpertin Sophie Desrosiers stellte fest, dass die Webtechnik des Stoffes „im Nahen Osten zu Beginn unserer Zeitrechnung bekannt war“ und verwies auf Stoffproben aus Masada am Toten Meer. Eine Radiokarbondatierung dagegen enttäuschte: danach sei die Tunika irgendwann zwischen 530 und 650 n.Chr. entstanden. Experten widersprachen bald: Nach neun Jahren im Erdreich und einer sorgfältigen Rekonstruktion mit neuzeitlichen Fäden sei eine präzise Datierung unmöglich. Zudem verwiesen sie darauf, dass sämtliche Reliquien der Passion Christi kontrovers datiert wurden – das Grabtuch von Turin ebenso wie das Schweißtuch von Oviedo oder die Kreuzesinschrift von Rom. Der Karlsruher Physiker Prof. Eberhard Lindner führte diese „Anomalien“ auf eine „elektrisch negativ geladene Elektronenstrahlung von sehr hoher Dichte“ zurück, die im Moment der Auferstehung Jesu sein Abbild in das Turiner Grabtuch „gebrannt“ und zugleich alle Gegenstände in seiner Grabkammer durch die freigesetzten Neutronen physikalisch „verjüngt“ hätte.

Dann aber meldete sich einer der renommiertesten Wissenschaftler Frankreichs zu Wort. Prof. Dr. Gerard Lucotte, Direktor des Zentrums für molekulare Neurogenetik in Paris, hatte schon 1988 mit Genehmigung des französischen Kultusministeriums die Tunika untersucht und Proben aus dem Bereich der Blutflecken entnommen. „Ihr Gewebe ist buchstäblich in Blut getränkt“, stellte er fest. Unter dem Elektronenmikroskop identifizierte er rote und weiße Blutkörperchen, offenbar konserviert durch die Salzkristalle menschlichen Schweißes, dann filterte er im Labor fünf Mikrogramm DNA heraus. Das Ergebnis: Der Mann, der einst die Tunika getragen hatte, wies die Blutgruppe AB auf, wie der Mann auf dem Turiner Grabtuch. Der Marker des Chromosoms Y entspricht dem Haplotyp J, der am häufigsten bei orientalischen Juden vorkommt. Die Deformation vieler Blutkörperchen deutet darauf hin, dass das Blut nach einer schweren, ja traumatischen physischen Misshandlung vergossen worden war.

2003 forderte Prof. Lucotte beim Kultusministerium den Inhalt des Mikro-Staubsaugers an, mit dem Madame Desrosiers ihr Tunica-Fragment gereinigt hatte. Unter dem Mikroskop konnte der Genetiker 115 Pollen ausfindig machen, darunter viele, die auch auf dem Turiner Grabtuch gefunden wurden. Auch Sandkörnchen, Kalksteinstaub und Glimmer stammten eindeutig aus der Gegend um Jerusalem. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Tunika eint von demselben Mann getragen wurde, der auch auf dem Turiner Grabtuch das vergossene Blut seiner Passion und, im Moment seiner Auferstehung, sein Abbild hinterlassen hatte.

Informationen zur diesjährigen Ausstellung: www.sainttunique.com

Bild: Wird 2025 erstmals wieder ausgestellt: Die Sainte Tunique von Argenteuil © Hesemann

 


© 2025 www.kath.net