11. Juli 2025 in Aktuelles
Ein Kommentar zur Ansprache an die Teilnehmer an der Heilig-Jahr-Feier der Regierenden (21. Juni 2025). Von Armin Schwibach
Rom (kath.net/as) Im Rahmen des Heiligen Jahres 2025 hat Papst Leo XIV. am 21. Juni eine bedeutende Ansprache an die Teilnehmer der Konferenz der Interparlamentarischen Union gehalten. Mit Klarheit, geistlicher und intellektueller Tiefenschärfe richtete sich der Papst an führende Vertreter aus 68 Staaten, darunter Parlamentarier, Religionsführer und Akademiker. Der Text der Ansprache gehört zu den zentralen Dokumenten seines bisherigen Pontifikats: Er entfaltet eine Vision politischer Verantwortung, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet weiß und auf der Grundlage einer erneuerten Anthropologie, eines von Augustinus und Thomas von Aquin her gedachten Naturrechts und einer realistischen Hoffnung auf den Primat des Gewissens beruht.
1. Politik als caritas concreta
Der Heilige Vater eröffnete seine Überlegungen mit einem Zitat aus der Ansprache Pius’ XI. vom 18. Dezember 1927, in der Politik als „höchste Form der Nächstenliebe“ bezeichnet wird. Leo XIV. machte diesen Gedanken fruchtbar für die Gegenwart. Liebe – caritas – ist dabei nicht bloßes Gefühl oder moralischer Appell, sondern konkrete Gestaltwerdung der göttlichen Fürsorge: „…die christliche Liebe ist niemals bloß eine Theorie, sondern stets ein konkretes Zeichen und Zeugnis von Gottes beständiger Sorge für das Wohl unserer Menschheitsfamilie“.
In der Tradition der katholischen Soziallehre erkennt Leo XIV. die gerechte Ordnung der Gesellschaft als einen genuin geistlichen Auftrag, der auf der Achtung der menschlichen Würde und der Solidarität mit den Schwächsten beruht.
2. Gemeinwohl, Armut, soziale Gerechtigkeit – mit Leo XIII.
Im ersten Hauptteil seiner Ansprache erinnerte der Papst an das inakzeptable Missverhältnis zwischen konzentriertem Reichtum und der Armut der Vielen – ein Thema, das er mit einem Rückgriff auf Rerum novarum (1891) von Leo XIII. theologisch verankert: „Das würde zum Beispiel bedeuten, sich dafür einzusetzen, das inakzeptable Missverhältnis zwischen dem in der Hand weniger konzentrierten Reichtum und den Armen der Welt zu überwinden (vgl. Leo XIII., Rerum novarum, 1)“.
Indem er dieses Ungleichgewicht als Quelle für Gewalt und Krieg benennt, ruft Leo XIV. die Regierenden zur Umkehr auf, dies nicht im Sinne ideologischer Umverteilung, sondern im Licht einer Liebe zur Gerechtigkeit, wie sie Augustinus definiert: als virtus qua suum cuique tribuitur, als Tugend, „die einem jeden das Seine gibt“ (De civitate Dei, XIX, 21). Die politische Ordnung kann, so der Papst, nur dann dauerhaft Frieden schaffen, wenn sie Gerechtigkeit fördert – nicht als abstrakten Rechtsbegriff, sondern als Lebensform solidarischer Verantwortung.
3. Religionsfreiheit und der Übergang zum amor Dei
In seiner zweiten Überlegung wandte sich der Papst dem Verhältnis von Staat und Religion zu. Dabei betonte er, dass echter interreligiöser Dialog und echte Religionsfreiheit keine bloß juristischen Konstrukte sind, sondern Frucht einer inneren Öffnung zum Transzendenten. Mit einem Rückgriff auf Augustinus entfaltete er das Spannungsfeld zwischen amor sui und amor Dei: „Der heilige Augustinus sprach von der Notwendigkeit, von der amor sui – der egoistischen, kurzsichtigen und destruktiven Selbstliebe – zum amor Dei – der frei geschenkten, großherzigen Liebe, die in Gott gegründet ist und zur Selbsthingabe führt – überzugehen“.
Hier berührte Leo XIV. den Kern einer theologischen Anthropologie: Der Mensch ist ein Wesen, das auf Transzendenz hin geschaffen ist. Ohne die Öffnung zur civitas Dei, der von Gott gegründeten Stadt, in der das Gesetz die Liebe ist, bleibt auch die politische Ordnung letztlich ein Turm zu Babel. Die Gesellschaft, so seine Lehre, kann nur dann tragfähig sein, wenn sie auf jenem „Grundgesetz der Liebe“ basiert, das die civitas Dei konstituiert (De civitate Dei, XIV,28).
4. Das Naturrecht – Kompass in ethischen Krisen
Im wohl anspruchsvollsten Abschnitt der Rede zitierte der Papst ausführlich Cicero, um die Geltung des Naturrechts als universale sittliche Norm zu verteidigen. Inmitten ideologischer Auflösungstendenzen und moralischer Relativismen betonte Leo XIV.: „Das Naturrecht […] ist nicht von Menschenhand geschrieben, sondern […] zu allen Zeiten und an allen Orten als gültig anerkannt […]“. Und dann die berühmten Worte Ciceros aus De re publica III,22: „Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft, die mit der Natur im Einklang, universal, beständig und ewig ist […]. Alle Völker wird zu aller Zeit das eine Gesetz, ewig und unveränderlich, binden“.Mit dieser Berufung auf die klassische Philosophie, wie sie später durch Thomas von Aquin (vgl. Summa theologiae, I-II, q. 91-95) aufgenommen und „getauft“ wurde, stellte Leo XIV. eine der klarsten Bestätigungen des Naturrechtsbegriffs in einem päpstlichen Dokument der letzten Jahrzehnte dar. Er rehabilitiert damit das Naturrecht nicht nur als philosophisches Fundament, sondern als Grundlage legitimer Gesetzgebung: „Das Naturrecht […] bildet den Kompass, an dem wir uns bei der Gesetzgebung und beim Handeln orientieren müssen, insbesondere bei den heiklen und dringenden ethischen Fragen, die heute mehr als früher das persönliche Leben und die Privatsphäre betreffen“.
5. Mensch und Maschine – das Gedächtnis als moralischer Raum
In seiner dritten Überlegung wandte sich Leo XIV. der Herausforderung der künstlichen Intelligenz zu – einem Thema, das er bereits bei anderen Gelegenheiten aufgegriffen hatte. Mit besonderer Sensibilität für anthropologische Fragen grenzte er menschliches Leben von rein technischer Funktionalität ab: „Unser persönliches Leben hat einen größeren Wert als jeder Algorithmus […] Unser Gedächtnis hingegen ist kreativ, dynamisch, generativ und in der Lage, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer lebendigen und fruchtbaren Sinnsuche zu vereinen“.
Dabei handelt es sich um eine klare Absage an den Reduktionismus technokratischer Weltbilder. Der Mensch ist nicht Algorithmus, sondern Person – in der augustinischen Tradition ein capax Dei, fähig zur Wahrheit, zum Gewissen, zur Freiheit.
6. Thomas Morus – Wahrheit vor Karriere
Den Abschluss bildete ein Rückgriff auf Thomas Morus, den Johannes Paul II. im Jubiläumsjahr 2000 als Patron der Regierenden vorgeschlagen hatte. Leo XIV. führte ihn ein als einen Menschen, der seine politische Verantwortung nicht in Opportunismus oder Machtgier, sondern im Dienst an der Wahrheit verstand: „Er stellte sein öffentliches Wirken in den Dienst der Person, besonders wenn es sich um schwache oder arme Menschen handelte […]. Den Mut, den er in seiner Bereitschaft bewies, eher sein Leben zu opfern als die Wahrheit zu verraten, macht ihn zu einem Märtyrer für die Freiheit und für den Primat des Gewissens, auch für uns heute“. Der Papst stellte Morus in eine Linie mit jenen Zeugen, die gegen die Versuchung einer bloß funktionalen Politik stehen. Ihre Treue zum Gewissen ist nicht subjektiver Relativismus, sondern Ausdruck der Erkenntnis, dass es ein Maß für Gerechtigkeit gibt, das höher ist als Macht und Mehrheit – und dass dieses Maß im Gesetz Gottes und dem innersten Herzen des Menschen eingeschrieben ist.
Schlussbemerkung
Diese Worte sind ein Lehrstück in katholischer Staats- und Gesellschaftslehre. Papst Leo XIV. bringt die großen Linien der Tradition – Augustinus, Cicero, Thomas von Aquin, Leo XIII., Thomas Morus – in ein lebendiges Gespräch mit den Herausforderungen der Gegenwart, die da sind: soziale Fragmentierung, ethischer Relativismus, technokratischer Entfremdung. Ohne moralische Rhetorik, aber mit innerer Leidenschaft ruft er die Regierenden auf, ihrem Namen Ehre zu machen: res publica – die Sache des gemeinsamen Guts. Denn: „Gute Politik“, so Leo XIV., „ist ein Dienst an Harmonie und Frieden“ – und damit ein Abglanz jenes himmlischen Jerusalem, in dem das Gesetz der Liebe alle Dinge ordnet.
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