23. Oktober 2025 in Kommentar
„Viele Gottesdienstformen im Westen wirken heute nüchtern, ja bürokratisch: Sie tragen oft den Charakter einer Versammlung, manchmal sogar einer Vereins- oder Parteisitzung.“ Von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer
Eichstätt (kath.net) 1. AUSGANGSTHESE
Die Neuevangelisierung ist nicht nur ein pastorales Schlagwort, sondern eine Überlebensfrage der Kirche im 21. Jahrhundert. Sie wird nur dann gelingen, wenn die Liturgie – als „Quelle und Höhepunkt“ (SC 10) – neu entdeckt, erneuert und als missionarische Kraft entfaltet wird. ¹ Eine evangelisierende, d.h. eine missionarische Kirche braucht liturgische Formen, die nicht bloß formale Veranstaltungen, sondern „erlebt-gebetete Weisheit“ und erfahrbare Schönheit sind.
Diese These soll anhand von sechs Beobachtungen entfaltet und in den größeren Kontext der jüngsten päpstlichen Akzentsetzungen (Benedikt XVI., Franziskus, Leo XIV.) gestellt werden.
2. LITURGIE ALS SINNLICHE UND WEISHEITLICHE ERFAHRUNG
Liturgie ist mehr als ein Wortgottesdienst oder eine Katechese. Sie ist Ereignis des Mysteriums, in dem der ganze Mensch mit seinen Sinnen angesprochen wird: hörbar im Gesang und in der Verkündigung, sichtbar in Zeichen, Gesten und Farben, riechbar im Weihrauch, verkostbar in der Eucharistie.²
Papst Benedikt XVI. hat diese Dimension programmatisch hervorgehoben: Der Mensch evangelisiert nicht zuerst durch Argumente, sondern indem er Gott würdig feiert.³ Eine Liturgie, die die via pulchritudinis (den Weg der Schönheit) eröffnet, führt in die Tiefe des Glaubens und weckt zugleich missionarische Anziehungskraft.⁴
3. BANALISIERUNG LITURGISCHER FORMEN IM WESTEN
Viele Gottesdienstformen im Westen wirken heute nüchtern, ja bürokratisch: Sie tragen oft den Charakter einer Versammlung, manchmal sogar einer Vereins- oder Parteisitzung.⁵ Damit aber geht jene Dimension verloren, die Liturgie von profanen Zusammenkünften unterscheidet, – die Erfahrung des Heiligen.
Diese Banalisierung ist nicht zufällig, sondern Folge einer Entwicklung: Aus Angst vor „Triumphalismus“ und durch Anpassung an die Kommunikationsformen moderner Gesellschaften, die gerade „in“ sind, hat man liturgische Sprache, Gesten und Musik vielfach banalisiert und entkleidet.⁶ Damit ging jedoch nicht nur „Ballast“ verloren, sondern auch jene Tiefe, die Herz und Sinne zugleich bewegt.
4. SINGBARKEIT DES GLAUBENS
Die alte Kirche konnte ihre gesamte Dogmatik singen, nämlich das Credo. „Unser Glaube muss wieder singbar werden.“ Damit ist nicht bloß gemeint, dass mehr gesungen werden soll. Vielmehr geht es um die Rückgewinnung des Glaubens als Hymnus, als danksagenden Lobpreis, als das Magnificat der Kirche (vgl. Lk 1,46–55).⁷ Wo Liturgie zu einem Vortrag, einer Motivationsrede oder einer religionspädagogischen Veranstaltung mit wird, da verliert sie ihren Herzschlag.
Die patristische Tradition erinnert: cantare amantis est – „Singen ist Sache dessen, der liebt“ (Augustinus).⁸ Evangelisierung ohne singbare Freude am Glauben der Kirche bleibt Programm, nicht Zeugnis.
5. LITURGIE ALS VORAUSSETZUNG FÜR NEUEVANGELISIERUNG
Eine Liturgie, die banalisiert oder verflacht wird, trägt nicht. Missionarischer Elan entsteht nicht aus Verwaltungsakten oder pastoralen Konzeptpapieren, sondern aus der Anziehungskraft gelebter Schönheit. Benedikt XVI. sprach von der „Performanz des Mysteriums“⁹: Nicht wir machen Liturgie, sondern sie formt uns und sendet uns.
Deshalb gilt: Ohne eine erneuerte Liturgie, die Staunen und Freude weckt, wird keine Neuevangelisierung gelingen.¹⁰
6. STREITPUNKT „ALTE MESSE“: GEFAHR ODER CHANCE?
6.1. Keine Gefahren bei der „Alten Messe“
Die Diskussion um die vorkonziliare Form des römischen Ritus entzündet sich seit Jahrzehnten an der Frage: Gefahr oder Reichtum? Kardinal Angelo Bagnasco betonte jüngst, er sehe darin keine Risiken: Die außerordentliche Form sei „wie der ambrosianische Ritus“ eine legitime Gestalt innerhalb der Vielfalt der Kirche.¹¹ Seine Argumentation verweist auf die historische Tatsache, dass die katholische Kirche über dreißig Riten kennt, ohne dass dadurch die Einheit zerbrochen wäre.
Diese Einschätzung teilt auch ein Teil der Gläubigen, die in der „alten Messe“ einen Zugang zu Transzendenz und missionarischer Tiefe finden.¹²
6.2. Kritik und Gegenargumente
Liturgieprofessor Andrea Grillo widersprach heftig: Die Konstruktion „zweier paralleler Formen“ sei ein Trick, der das Zweite Vatikanum entwerte. Die außerordentliche Form sei als „Abwehr gegen die Reform“ entstanden und provoziere Spaltungen.¹³ Ein Katholizismus ohne Konzil sei Illusion.
Diese Kritik verweist auf reale Spannungen: Wo die „alte Messe“ zum ideologischen Marker gegen das Konzil wird, unterminiert sie die Einheit.
6.3. Einheit des Ritus?
Das häufig vorgebrachte Argument lautet: „Die Einheit des römischen Ritus“ verbiete die Koexistenz zweier Formen. Doch historisch ist dies nicht zwingend: Die Kritiker sollen bedenken, dass gerade die neue Messe faktisch von Pfarrei zu Pfarrei sehr unterschiedlich und oft sehr „defizitär“ gefeiert wird, mit Abweichungen in den offiziellen liturgischen Texten, der Musik, der Sprache, der Gestik, der Paramentik und der pastoralen Kultur.¹⁴
Allen liturgischen Bedenkenträgern gegen die sogen. „Alte Messe“ sei gesagt: Kirchenrechtlich gilt, dass alle Sonderriten, die älter als 200 Jahre sind oder in Orden lebendig praktiziert werden, weiter bestehen dürfen (z. B. Ambrosianischer-, Mozarabischer -, Dominikaner-, Karthäuser-Ritus).¹⁵
Damit relativiert sich das Argument. Entscheidend ist nicht die bloße Uniformität, die es so weder in Ost noch in West je gegeben hat, sondern die Einheit im Mysterium des einen Pascha.
7. LERNPERSPEKTIVEN AUS DER GESCHICHTE
Aus der Geschichte ergibt sich eine klare Lektion: Evangelisierung gelingt dort, wo Liturgie Quelle und Gestalt missionarischer Dynamik ist. Benedikt XVI. hat diese Linie mit Summorum Pontificum und der Errichtung des Rates zur Neuevangelisierung institutionell eingezogen.¹⁶ Franziskus hat sie mit Evangelii gaudium und Desiderio desideravi pastoral zugespitzt: Formation statt bloßer Formate.¹⁷ Papst Leo XIV. verbindet diese Tradition mit einer sozial-ökologischen Glaubwürdigkeit, wie die Eröffnung des „Borgo Laudato si’“ zeigt.¹⁸
8. PERSPEKTIVEN FÜR DIE GEGENWART
Für eine Neuevangelisierung im 21. Jahrhundert lassen sich folgende Leitlinien formulieren:
1. Liturgie als via pulchritudinis – Schönheit als missionarische Kraft.
2. Mystagogische Bildung – Liturgie als Schule des Glaubens, nicht als Projektverwaltung.
3. Singbarer Glaube – Musik und Hymnik als Herzmission.
4. Vielfalt integrieren – legitime Riten erhalten, Einheit in der Communio.
5. Laien als Protagonisten – missionarische Teams, synodal beauftragt.
6. Integrale Glaubwürdigkeit – Liturgie, Kerygma und Diakonie im Verbund.
7. Ökologische und soziale Dimension – Evangelium „mit Händen und Füßen“.
8. Evaluationskultur – missionarische Prozesse geistlich prüfen.
9. SCHLUSS
Die Neuevangelisierung des 21. Jahrhunderts wird dort tragen, wo Liturgie wieder zu dem wird, was sie in der frühen Kirche war: Schlichte Schönheit, Gesang, Staunen, Fest, Begegnung. - Wo Eucharistie, Verkündigung und tätige Liebe sich verschränken, da wächst Glaube neu, – im Osten wie im Westen. Jede altehrwürdige und wahre Liturgie ist keine Konkurrenz und Gefahr für eine andere gewachsene und gestaltgewordene Liturgie der Kirche.
Dann kann es wieder real werden: „Aus der Liturgie in die Straßen – aus den Straßen zur Liturgie“: Dieses Wechselspiel bleibt ein Kriterium und die entscheidende Dynamik für die Zukunft der Kirche.
Wenn wir dazu heute den Kirchenbesuch in Europa, wo die neue Liturgie gefeiert wird, betrachten, dann sollte diese Realität uns doch zu denken geben.
ENDNOTEN
1. Zweites Vatikanisches Konzil, Sacrosanctum Concilium (04.12.1963), Nr. 10.
2. Vgl. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Der Geist der Liturgie (Freiburg: Herder, 2000), 21–45.
3. Benedikt XVI., Motu proprio Summorum Pontificum (07.07.2007). Vatikan.
4. Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Künstler (21.11.2009).
5. Kritisch hierzu: Romano Guardini, Vom Geist der Liturgie (Freiburg: Herder, 1918), Neuaufl. 2009, 56f.
6. Vgl. Klaus Gamber, Die Reform der römischen Liturgie (Stuttgart: Una Voce, 1981).
7. Vgl. Lukas 1,46–55; Magnificat-Tradition in der Patristik.
8. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 72,1.
9. Benedikt XVI., Predigt zur Eröffnung der Bischofssynode zur Neuevangelisierung (07.10.2012). Vatikan.
10. Vgl. Franziskus, Apostolischer Brief Desiderio desideravi (29.06.2022). Vatikan.
11. Kardinal Angelo Bagnasco, Interview mit Roma (zit. nach KNA, 15.09.2025).
12. Vgl. Joseph Shaw, Präsident von „Una Voce International“, Stellungnahme (08.09.2025).
13. Andrea Grillo, Kritik im Interview mit Roma (KNA, 15.09.2025).
14. Vgl. empirische Studien zu liturgischer Praxis: Thomas Söding (Hg.), Liturgie im Umbruch (Freiburg: Herder, 2015).
15. Vgl. Codex Iuris Canonici (1983), can. 846 §2.
16. Benedikt XVI., Motu proprio Ubicumque et semper (21.09.2010). Vatikan.
17. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24.11.2013). Vatikan.
18. Leo XIV., Eröffnung Borgo Laudato si’, Castel Gandolfo (05./06.09.2025). Vatican News.
Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.
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