23. September 2025 in Kommentar
„Warum wir Christen uns nicht in der Logik des Kulturkampfs verlieren dürfen – ‚Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit.‘“ (1 Kor 12,26) - Gastkommentar von Prof. Riccardo Wagner
Köln (kath.net) Manchmal ist es nicht die Tat selbst, die am meisten erschüttert – sondern die Reaktion darauf. Die Art, wie wir heute mit Katastrophen, Attentaten oder dem Scheitern anderer Menschen umgehen, sagt oft mehr über unseren geistigen Zustand aus als das Ereignis selbst. Die Tage nach dem schrecklichen Attentat auf Charlie Kirk haben dies mehr als eindrücklich gezeigt.
Wenn ein Mensch durch Gewalt stirbt, dann wäre doch das Naheliegende: Trauer. Betroffenheit. Ein kurzes Innehalten. Doch was wir stattdessen erleben, ist eine fast reflexhafte Spaltung. Schuldzuweisungen werden schneller formuliert als Gebete. Empörung über „die anderen“ ersetzt die Klage um das Verlorene. Und kaum ist der erste Tweet geschrieben, beginnt die Rhetorik des Kulturkampfs – kalkuliert, unversöhnlich, profitabel.
Ich schreibe dies als jemand, der viele Jahre mit Sprache aus verschiedenen Perspektiven gearbeitet hat: als Journalist, als PR-Berater, als Kommunikationswissenschaftler. Ich weiß, wie stark Worte wirken können. Aber ich weiß auch, wie gefährlich sie werden, wenn sie nicht mehr auf Wahrheit zielen, sondern auf Wirkung. Wenn Kommunikation nicht mehr Verständigung sucht, sondern Zugehörigkeit erzwingt. Wenn nicht mehr gefragt wird: Was ist richtig? Sondern nur noch fragt: Wer ist auf unserer Seite? Und sich selbst zu sicher ist, dass „unsere Seite“ die gute und richtige ist.
Was in diesen Tagen erneut deutlich wird: Unsere gesellschaftliche Kommunikation wird längst durch mediale Systeme bestimmt, die nicht an Aufklärung interessiert sind, sondern an Aufmerksamkeit. Es geht längst nicht mehr um Wahrheit oder Verständigung, sondern um Verweildauer, Reichweite, Klicks und Konversion. Die sozialen Netzwerke, aber auch klassische Medien, belohnen nicht das Nachdenkliche, das Differenzierte, das Abwägende – sondern das Polarisierende, das Lautstarke, das Empörende. Wer provoziert, wird sichtbar. Wer trauert, vermittelt, nachdenkt oder vielleicht sogar wartet, geht unter.
Das hat strukturelle Gründe. Die Plattformen, auf denen wir heute kommunizieren, sind darauf programmiert, uns möglichst lange dort zu halten. Das gelingt besonders gut, wenn wir emotional aufgewühlt sind – wütend, verängstigt, aufgebracht. Aber sie tun noch mehr: Sie zeigen uns bevorzugt das, was wir ohnehin schon denken. Sie füttern uns mit Bildern, Kommentaren, Headlines, die unsere Vorurteile bestätigen, unsere Weltsicht festigen, unser „Wir gegen die“ immer weiter verhärten. Der Feed, den wir sehen, ist kein Fenster zur Welt – er ist ein Spiegel unseres innersten Misstrauens.
Diese Logik hat längst unsere politischen und kulturellen Debatten erfasst. Tragödien werden zu Triggern für Aufmerksamkeit. Jede Krise wird zum Anlass, die eigenen Vorurteile zu bestätigen. Jeder moralische Fehler des Gegners wird maximal ausgeschlachtet, während eigene Schwächen relativiert oder ignoriert werden. Medien, Politiker, Aktivisten – viele wissen längst, wie man diese Mechanismen bespielt. Und viele tun es bereitwillig, weil sie genau wissen: Es lohnt sich. Empörung mobilisiert. Skandalisierung bindet. Polarisierung verkauft.
Aber als Christen dürfen wir bei diesem Spiel nicht mitmachen. Wir sind berufen, einen anderen Weg zu gehen. Einen Weg, der nicht nach Resonanz fragt, sondern nach Wahrheit. Der nicht auf Likes zielt, sondern auf Gerechtigkeit. Der nicht den kurzfristigen Sieg sucht, sondern die langfristige Versöhnung. Wir sind nicht Teil des Algorithmus – wir sind Teil eines Leibes. Und wenn ein Glied leidet, dann leiden wir alle mit – selbst wenn dieses Glied auf der „anderen Seite“ steht.
Besonders erschütternd ist, wie sehr Menschen heute unfähig geworden sind, sich überhaupt noch in andere hineinzuversetzen. Wer einen bestimmten Politiker verehrt, kann sich kaum vorstellen, dass jemand ihn aufrichtig kritisiert – nicht aus Bosheit, sondern aus echter Sorge. Wer ihn ablehnt, kann nicht begreifen, warum Menschen in ihm Orientierung finden – nicht weil sie schlecht sind, sondern weil sie sich allein gelassen fühlen. Beide Seiten leben in getrennten Wirklichkeiten – gefüttert von Algorithmen, gestärkt durch Echokammern. Und in dieser Trennung wächst etwas Unheilvolles: die Entmenschlichung des anderen.
Die katholische Soziallehre spricht in diesem Zusammenhang von der Personalität: Jeder Mensch ist einzigartig, unendlich wertvoll und niemals nur Mittel zum Zweck. Das gilt nicht nur für die Schwächsten oder für jene, die mit uns übereinstimmen – sondern auch für unsere Gegner. Auch für jene, deren Meinungen uns provozieren. Auch für jene, mit denen wir leidenschaftlich streiten müssen.
Doch wie oft wird heute nicht mehr die Meinung kritisiert, sondern die Person? Wie oft werden politische Gegner nicht widerlegt, sondern moralisch disqualifiziert? Wie schnell wird aus einem Fehler eine vollständige Verwerfung des Menschen? Das hat mit christlicher Ethik nichts mehr zu tun. Es ist die Logik des Verdachts, nicht der Wahrheit. Es ist die Sprache der Spaltung, nicht der Versöhnung.
Dabei geht es nicht darum, harmlos zu sein. Es braucht die klare Benennung von Unrecht. Es braucht die Tapferkeit, Position zu beziehen. Aber gerade dann braucht es auch die Demut, sich selbst nicht zum Maßstab des Guten zu machen. Es braucht das Bewusstsein, dass wir alle um Erkenntnis ringen. Dass kein Mensch vollständig in seinen Überzeugungen aufgeht. Dass niemand von uns das Evangelium vollkommen lebt.
Was uns heute fehlt, ist nicht noch eine Meinung mehr. Sondern eine neue Haltung. Eine Haltung, die zuhört, ohne nachzugeben. Die widerspricht, ohne zu verletzen. Die streitet, ohne zu entzweien. Eine Haltung, die vom Gebet getragen ist und uns dazu animiert in uns zu gehen, bevor wir den nächsten Tweet absetzen – vom ehrlichen Bemühen, den Willen Gottes zu tun, auch wenn er unbequem ist. Und die sich weigert, die eigene moralische Empörung zum Ersatz für tätige Nächstenliebe zu machen.
Denn das Evangelium ruft uns nicht dazu auf, zu „gewinnen“. Es ruft uns dazu auf, zu lieben. Selbst unsere Feinde. Selbst die, mit denen wir am wenigsten übereinstimmen. „Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen“, sagt Jesus (Lk 6,27). Das ist keine fromme Phrase – das ist ein revolutionäres Gebot. Es ist ein Weg, der aus der Spirale der Feindseligkeit herausführt. Der nicht auf die Zerstörung des Gegners zielt, sondern auf seine Heilung. Der nicht die eigene Überlegenheit zelebriert, sondern die Gnade sucht, auch im anderen das Kind Gottes zu erkennen.
Gerade wir Katholiken sollten hier besonders wachsam sein. Denn wir stehen in einer langen Tradition, die sich nicht entlang der Achsen von „rechts“ und „links“ erklären lässt. Die Prinzipien der katholischen Soziallehre – Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl – entziehen sich einfachen politischen Zuordnungen. Sie fordern uns heraus, jenseits der Lager zu denken. Wer diese Prinzipien ernst nimmt, kann weder unkritisch im Kulturkampf mitmarschieren noch sich parteipolitisch vereinnahmen lassen. Wir sind nicht das Anhängsel irgendeines Lagers – und sollten uns auch nicht zur Beute seiner Narrative machen. Unser Maßstab ist nicht politische Loyalität, sondern das Evangelium. Und das lässt sich weder vereinnahmen noch vereinfachen.
Die katholische Soziallehre gibt uns dafür keine fertigen Programme an die Hand, sondern Prinzipien – ethische Leitlinien, die Orientierung geben, aber keine ideologische Schablone sind. Sie ruft uns dazu auf, in den jeweiligen gesellschaftlichen Fragen gemeinsam zu ringen – um Wege, die der Menschenwürde dienen, dem Gemeinwohl nützen und die Freiheit wahren. Dabei wird es legitime Unterschiede in der Bewertung konkreter „policies“ geben – also in politischen Maßnahmen, Gesetzesvorschlägen, Strategien. Nicht alles ist gleich gut, nicht jede Position vereinbar mit der Würde des Menschen. Aber die Kirche weiß zugleich, dass es in komplexen Fragen oft keine einfachen, immergültigen Antworten gibt. Gerade deshalb verlangt sie von uns Urteilskraft, Unterscheidung, Gespräch – und nicht das schnelle Verdikt.
Vielleicht ist es gerade das, was unsere Gesellschaft am meisten braucht: Menschen, die sich weigern, das Spiel der Polarisierung mitzuspielen. Menschen, die bereit sind, Brücken zu bauen, auch wenn es mühsam ist. Menschen, die im Anderen nicht nur den Gegner sehen, sondern den verlorenen Bruder. Menschen, die – wie der heilige Franziskus in der Legende vom Wolf von Gubbio – nicht mit der Waffe, sondern mit dem Wort der Versöhnung dem Bösen entgegentreten.
Das ist kein naiver Weg. Aber es ist der christliche. Und es ist der einzige, der uns als Gesellschaft heilen kann.
Prof. Dr. Riccardo Wagner ist Professor für Nachhaltiges Management & Kommunikation an der Hochschule Fresenius in Köln, Leiter der Media School, Studiendekan sowie Autor. Er wurde 2024 in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche aufgenommen, worüber er im kath.net-Interview berichtet: Riccardo Wagner wurde katholisch: „Ich wollte nie Christ sein. Ich war Atheist“ (siehe Link).
Weitere kath.net-Beiträge von und über Prof. Wagner: siehe Link.
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