Papst Leo XIV. – Sein erstes großes Interview

30. September 2025 in Kommentar


Ein behutsamer Hirte zwischen Deeskalation und Kontinuität - Eine kleine zusammenfassende und orientierende Einordnung - Von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer


Eichstätt (kath.net) Einleitung: Der Kurs des Brückenbauers
Papst Leo XIV. hat in seinem ersten ausführlichen Interview seit der Wahl die Leitplanken seines Pontifikats sichtbar gemacht: 
- maximal inklusiver Ton („alle, alle, alle“), 
- theologisch-lehramtliche Kontinuität (Sexualmoral, Ehe, Frauenordination), 
- vorsichtige Reformbereitschaft in Strukturen (Synodalität, Leitungsaufgaben für Frauen) 
- außenpolitischer Pragmatismus (Gaza, China, USA). 
Sein Ziel ist nicht die spektakuläre Zäsur, sondern das Zusammenhalten der Kirche durch Entpolarisierung, Prozesshaftigkeit und Gespräch.¹

1. Nahost/Gaza: Mitfühlender Realismus, juristische Zurückhaltung
Leo verurteilt das Leid der Zivilbevölkerung mit Nachdruck, dringt auf Waffenruhe, Freilassung aller Geiseln und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts.² Zugleich vermeidet er eine offizielle Qualifikation als „Genozid“, mit Hinweis auf die technische Schärfe des Begriffs und die derzeitige Zurückhaltung des Heiligen Stuhls³ („nicht abstumpfen, aber auch nicht etikettieren“) – ein Signal pastoraler Empathie bei völkerrechtlicher Vorsicht (Deeskalationsstrategie), das Handlungsfähigkeit in der Diplomatie wahrt.⁴

2. China: Kontinuität der Ostpolitik
Der Papst setzt die Linie seiner Vorgänger fort: Gesprächskanäle offenhalten, das Provisorische Abkommen zur Bischofsernennung beibehalten, Freiräume für kirchliches Leben unter Respekt der kulturellen und politischen Lage sichern – Klassische vatikanische Realpolitik: kleine Schritte, Beziehungspflege, Konfliktvermeidung – mit dem Ziel langfristiger Präsenz und Einheit der Kirche in China.⁵

3. USA/Trump: Nähe ohne Parteinahme
Als erster US-Papst sieht Leo Chancen für belastbare Gesprächswege, will aber keine Parteipolitik betreiben. Für ihn gilt: „Pastorale Neutralität“ plus punktuelle Klartexte, ohne in tagespolitische Lagerlogik zu kippen. Seine „Evangeliums-Themen“ sind: Menschenwürde, Migration, Frieden. Diese sollen primär im Schulterschluss mit dem Episkopat adressiert werden.⁵ Er scheut das direkte Gespräch mit Trump nicht, der derzeit aber den Papst nicht treffen will.

4. Missbrauch: Opferzentrierung und faire Verfahren
Leo betont die Nähe zu Betroffenen, warnt aber vor pauschalen Stigmatisierungen und verweist auf die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Sorgfalt. Es gehe auch um die rechte Balance von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Die Kirche dürfe nicht auf dieses eine Thema reduziert werden; Null-Toleranz und gerechte Verfahren gehören zusammen.⁵

5. Finanzen und Kurienreform: Pragmatismus statt Alarmismus
Fortsetzung der Finanz- und Governance-Reformen von Papst Franziskus – mit nüchternem Erwartungsmanagement. Finanziell beschreibt der Papst eine Lage in vorsichtiger Besserung bei gleichzeitigen Baustellen (Pensionsfonds, Museumsrückgänge nach Covid) und verweist auf Negativbeispiele der Vergangenheit („London-Deal“). Kurienreformen zielen auf das Aufbrechen von Silos, um echte Zusammenarbeit zu ermöglichen.⁵

6. Liturgie und „Alte Messe“: Entpolitisieren, synodal verhandeln
Leo kritisiert die politische Instrumentalisierung liturgischer Formen, er versucht, die „Ritus-Fronten“ zu entkrampfen: keine Rolle rückwärts, aber Dialogräume – pastoral, nicht ideologisch. Er kündigt Gespräche mit Anhängern des Vetus Ordo an und setzt auf synodale Methoden – Maßstab bleibt die würdige Feier der erneuerten Liturgie. Keine Rolle rückwärts, aber echte Dialogräume.⁶

7. LGBTQ+, Ehe, Sexualmoral: Willkommen im Ton – Kontinuität in der Lehre
Die Formel lautet: „Alle willkommen“ – aber keine Lehränderung. Persönliche, aber nicht-ritualisierte Segnungen sind möglich; liturgisch kodifizierte Riten für gleichgeschlechtliche Paare lehnt Leo im Sinne von Fiducia supplicans ab. Im Zentrum steht die Stärkung der „traditionellen Familie“.⁶ Pastoral inklusiv, lehramtlich stabil: Das ist eine wichtige Aussage für das ökumenische Gespräch mit den Ostkirchen, es beruhigt viele Ortskirchen des globalen Südens (Afrika/Asien) und ernüchtert als „heilsame Enttäuschung“ die progressiven Milieus in Westeuropa.⁷

8. Frauen in Leitung und Diakonat: Öffnungen „unterhalb der Weihe“
Leo will Frauen weiterhin in kirchliche Spitzenfunktionen berufen, hält aber fest, dass er derzeit keine Lehränderung zur Frauen-Weihe beabsichtigt. Zunächst sei der Ständige Diakonat insgesamt pastoraltheologisch zu vertiefen. Die Studien zum Diakonat der Frauen laufen noch, der Papst will „weiter zuhören“.⁵ Dieser Prozess ist offengehalten, ohne jetzt sofort kurzfristige Weichenstellungen vorzunehmen

9. Synodalität: Haltung statt Machtverschiebung
Synodalität versteht Leo als geistliche Grundhaltung, die allen Getauften Stimme und Verantwortung zuspricht. Sie ist aber kein Parlamentarismus, der sehr schnell zur Schwächung legitimer Autorität führt, sondern sie ist ein Weg (Prozess) zur gemeinsamen Unterscheidung, die Polarisierung entgegenwirkt und die Communio stärkt.⁶

10. Medien, Fake News und KI: Schutz vor Erosion des Vertrauens
Der Papst warnt vor Desinformation und digitalen Entgrenzungen – bis hin zur klaren Absage an einen „Papst-Avatar“. Es geht um die Integrität kirchlicher Kommunikation in Zeiten von Deepfakes und um Medienethik als Teil pastoraler Verantwortung.⁵

11. Pastoralrede (CELAM/Jubiläum): „Zurück zu den Wurzeln“
Hier zeigt sich ein Schwerpunkt seines Pontifikats: Erneuerung durch Rückkehr zum Zentrum (Gott), nicht durch Programmatik und Strukturen. Leo akzentuiert eine Rückkehr zu Glaube, Einfachheit und Familie,  ein Tonfall, der an die Anfangsjahre von Evangelii gaudium (24. Nov. 2013) erinnert. Familien seien eingeladen, das „stille Lied der Hoffnung“ weiterzutragen; das Jubiläum versteht er als Weg zur Begegnung mit Gott und zur Erneuerung aus der Mitte.⁶


Reaktionen: Erste Resonanzen in der Weltkirche auf das Interview
– Thomas Söding (ZdK) sieht Reformen kommen – aber weniger disruptiv; der Papst als Stabilitätsfigur und Brückenbauer „zwischen Trump, Xi und Putin“.⁸
– Jan-Heiner Tück spricht von einem „Reform-Dämpfer“: Offenheit ohne Lehränderung, Kontinuität der Tradition, Entschärfung polarisierender Dynamiken.⁹
– Progressive Initiativen (u. a. in Deutschland) reagieren ernüchtert, wollen ihre Anliegen (Frauenfrage, inklusivere Pastoral) weiter voranbringen; zugleich gibt es auch positive Stimmen, die den inklusiven Ton begrüßen.¹⁰
Kontinuitäten und Brüche
– Kontinuität mit Franziskus: Synodalität als Stil, Kirche „für alle“, Fortführung der Kurien- und Finanzreformen, Ostpolitik gegenüber China, Option für die Schwachen (Arme, Migranten, Kriegsopfer).⁵
– Neue Akzente: Strikte De-Polarisierungsmaxime; „langsamer drehen“ bei Lehrfragen; liturgische Entkrampfung durch Dialog statt Regelverschärfung; nüchtern-pragmatische Kommunikation nach außen.⁶

Ausblick: Was jetzt zu beobachten ist
1. Gaza-Diplomatie: Der Heilige Stuhl versucht – bei juristischer Zurückhaltung – konkrete humanitäre Hebel zu verstärken (Korridore, Vermittlung, Geiselthemen).²
2. China-Abkommen: Verlängerung bzw. Feinjustierung des Bischofsabkommens und die Integration „inoffizieller“ Gemeinschaften.⁵
3. LGBTQ+/Segnungen: Verhältnis zu lokaler Praxis/Rituale in Nordeuropa zu Fiducia supplicans – und aus Rom zu erwartende präzisierende Hinweise.⁶
4. Frauen/Diakonat: Warten auf die Ergebnisse der Studiengruppen; und wie Papst Leo dann neu-orientierende Richtungsanzeigen setzt.⁵
5. Liturgie-Dialog: Die angekündigten Gespräche mit Vetus-Ordo-Gruppen sollen zur Entschärfung beitragen.⁶
6. Budget/Pensionen: Die kommunizierte Gelassenheit zur Situation soll durch die Zahlen 2025/26 sich bestätigen.⁵

Schluss: Behutsame Leitung – mit langem Atem
Papst Leos Profil zeigt sich in diesem Interview als „behutsamer Hirte“: - Einheit vor Agenda, - Pastoral vor Polarisierung, - Kontinuität vor Kurswechsel. 

Seine Autorität gründet weniger in spektakulären Entscheidungen als in Stil, Gespräch und Prozessen. Für viele Reformanliegen heißt das: längerer Atem – aber keine geschlossene Tür.⁵

Endnoten
1. Reuters: „Pope decries ‘unacceptable’ plight of Palestinians in Gaza, urges truce“, 17.09.2025.
2. Vatican News: „Pope Leo sees role as building bridges, avoiding polarization“, 18.–19.09.2025.
3. New York Post: „Pope Leo avoids declaration of ‘genocide’ in Gaza…“, 19.09.2025.
4. Reuters: „Pope Leo plans to keep Francis’ key reforms but avoid bigger changes“, 18.09.2025.
5. Crux (Interview-Dossier zu Gaza/China/USA, LGBTQ+/Liturgie), 18.–19.09.2025.
6. Vatican News: „Pope Leo: God gave families the perfect model… (CELAM)“, 19.–20.09.2025.
7. America Magazine: Schwerpunktseite/Analysen zu Papst Leo XIV., 12.–19.09.2025.
8. katholisch.de: „Söding rechnet mit Reformen unter Papst Leo“, 19.09.2025.
9. The Pillar (Presseschau mit u. a. Jan-Heiner Tück), 19.09.2025.

10. New Ways Ministry: „German Church Leaders offer differing views on Pope Leo’s LGBTQ+ remarks“, 20.09.2025.

Über den Autor: Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer (Link) ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, Ostkirchenkunde und ostkirchlicher Liturgie. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig, Konsultor der Ostkirchenkongregation in Rom, Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt und veröffentlicht regelmäßig zu Fragen der Ostkirchen-Theologie, der Liturgie der Ostkirchen und des Frühen Mönchtums.


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