Von der sexuellen Unverklemmtheit der Heiligen

18. November 2004 in Österreich


Über katholische Irrtümer in Bezug auf die Sexualität und den Sinn der Keuschheit sprach der Grazer Psychiater Raphael Bonelli.


Graz (www.kath.net) Wie gehen gläubige Menschen mit ihrer Sexualität um? Mit dieser Frage beschäftigte sich der Grazer Psychiater Raphael Bonelli bei einer Tagung zum Thema „Als Mann und Frau schuf Er sie“ im niederösterreichischen Tagungshaus „Hohewand“ vom 12. bis zum 14. November. Unter dem Titel „Wege und Irrwege der Sexualität: zur Aktualität der Tugend der Keuschheit“ hielt Bonelli, Universitätsassistent der Psychiatrischen Klinik Graz, einen Vortrag zur menschlichen Sexualität und deren Modifizierung durch die Religiosität.

Religiosität beeinflusse das sexuelle Leben vieler Menschen, allerdings nicht immer positiv, stellte er klar. Einerseits würden etwa praktisch alle wissenschaftlichen Studien dafür sprechen, dass religiöse Jugendlicher verantwortlicher mit der Sexualität umgehen könnten als ihre nichtreligiösen Altersgenossen. Andererseits bemerke er bei einigen religiösen Menschen eine gewisse Verklemmtheit im Umgang mit diesem Thema, die weder ihnen noch ihrer Umgebung gut tun würde.

Bonelli brachte das Beispiel einer religiösen Frau, die aufgrund von Eheproblemen bei ihm vorstellig wurde, nachdem sie bei einem Heilungsgebet von der Sexualität „geheilt“ worden wäre. Durch diese „Heilung“ wäre nun die Ehe in die Krise geraten, da der Mann kein Verständnis für ihre Verweigerung aufbrachte. Dass die Sexualität einer Krankheit entspreche, die der Heilung bedarf – wie von der Klientin angenommen – wäre keineswegs katholische Lehre, unterstrich der Psychiater.

In der Folge beschrieb Bonelli, dass den wahren Heiligen eine keusche Unbefangenheit und ausgesprochene Natürlichkeit im Umgang mit der Sexualität eigen sei. Diese These belegte er mit weiteren Beispielen aus seiner psychiatrischen Praxis und einem Zitat des heiligen Josefmaria Escriva vom 23.6.1974:

„Es ist mir nicht peinlich zu sagen, dass die klassische Nacktheit mir sehr gefällt; ja, sie führt mich zu Gott. Im Kapitol, in Rom, gibt es eine Venus: die kapitolinische Venus. Die hat nicht der Teufel dort hingestellt, nein, die Päpste waren das, und jetzt steht sie in diesem Museum, allein in einem Raum. Dort hab ich sie vor einigen Jahren gesehen: ohne jegliches Gewand. Ich habe sie bewundert, in ihrer keuschen Nacktheit, und habe Gott gepriesen. Kein schlechter Gedanke, keine schlechte Regung”.

Grund für diese Unbefangenheit sei der Erwerb der Tugend der Keuschheit: wer diese Tugend wirklich besitze, der tue sich leichter im Umgang mit diesen Kräften. Bonelli zitierte dazu den katholischen Katechismus: „Selbstbeherrschung zu erringen, ist eine langwierige Aufgabe. Man darf nie der Meinung sein, man habe sie für immer erworben. Man muss sich in allen Lebenslagen immer wieder neu um sie bemühen“ (KKK 2342).

Für tugendhafte Menschen gelte in gewisser Weise der Satz: „Dem Reinen ist alles rein.“ Die Tugend der Reinheit sei unheimlich anziehend und attraktiv für alle anderen Menschen; allein die Anstrengung bis zur ihrem Erreichen schreckt viele ab. Die Augen keuscher Menschen würden mit einem besonderen Licht leuchten.

Im Gegensatz zur Tugend stünde das Laster, das eine unnatürliche, unkeusche Schamlosigkeit zur Folge hätte. Das Laster der Unkeuschheit bringe aber viele andere Defekte mit sich: der Lüstling sei „furchtsam, egoistisch, falsch und grausam“. Zwischen der Tugend und dem Laster würden nun die Durchgangsstadien der Kontinenz und der Inkontinenz stehen. Das seien Stadien in denen man sehr kämpfen müsse um kontrolliert zu leben: der Kontinente schaffe mit Müh und Not die Beherrschung seiner Triebe, der Inkontinente bemühe sich zwar sehr, schafft es aber nicht, während der Lasterhafte sich erst gar nicht bemühe.

Die den Katholiken vielerorts nachgesagte und öfters auch tatsächlich vorhandene sexuelle Verklemmtheit sei Folge einer dieser beiden Stadien, die nur eine unvollkommene und daher verkrampfte, angestrengte und unfreie Haltung zur Sexualität zulassen könne. Das Ziel sei daher die Erreichung der Tugend der Keuschheit, da hier die Anstrengung zu ihrer Erhaltung vergleichsweise gering und die persönliche Freiheit groß sei.

Bonelli zitierte den Katechismus (2351): „Unkeuschheit ist ein ungeregelter Genuss der geschlechtlichen Lust oder ein ungeordnetes Verlangen nach ihr. Die Geschlechtslust ist dann ungeordnet, wenn sie um ihrer selbst willen angestrebt und dabei von ihrer inneren Hinordnung auf Weitergabe des Lebens und auf liebende Vereinigung losgelöst wird.“

Er betonte, dass bei allen im Katechismus in der Folge aufgezählten sexuellen Verfehlungen immer die primär und rücksichtslos angestrebten eigenen Lust der gemeinsame Nenner seien: „Masturbation, Unzucht, Pornographie, Prostitution, Vergewaltigung, Ehebruch, Polygamie, Inzest, Pädophilie, und sexuelles Verhältnis“. Schon Sigmund Freud habe zwischen der „Madonnenliebe“ und „Dirnenliebe“ unterschieden, um zu zeigen, dass sich die Sexualität verschieden entwickeln könne.

Dem Lehramt und den Heiligen könne keine Körperfeindlichkeit angelastet werden, erklärte Bonelli – auch wenn in der Pastorale manche kontinente (oder gar inkontinente) Eiferer das Kind oft mit dem Bade ausgeschüttet hätten. Wohl kaum sonst hätten Texte wie der folgende die 2000 Jahre Kirchengeschichte unbeschadet überstanden:

„ER: Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut; wie viel süßer ist deine Liebe als Wein, der Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte. Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; Milch und Honig ist unter deiner Zunge. Der Duft deiner Kleider ist wie des Libanon Duft. Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell. Ein Lustgarten sprosst aus dir, Granatbäume mit köstlichen Früchten, Hennadolden, Nardenblüten, Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, alle Weihrauchbäume, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam. Die Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebendigen Wassers, Wasser vom Libanon. SIE: Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von den köstlichen Früchten“ (Hohes Lied der Liebe 4, 11-16).

Die Kirche habe diesen wunderbaren Lobpreis der erotischen Liebe zwischen Mann und Frau nicht unterdrückt, vielmehr habe sie ihn als ein Bild für die Beziehung zwischen dem Schöpfer (männlich) und dem Geschöpf (weiblich) oder zwischen Jesus (männlich) und der Kirche (weiblich) gedeutet. Auch wenn man die Texte einer heiligen Teresa von Avila lese, merke man eine weibliche Hingabe, die an das Erotische grenze: die keusche Unbekümmertheit der Heiligen.

Bonelli zitierte auch aus dem neuen Dokument der Glaubenskongregation über Mann/Frau vom 31. Juli 2004 (Punkt 6): „Die friedliche Schau am Ende des zweiten Schöpfungsberichts ist ein Echo jenes ‚sehr gut’, das im ersten Bericht die Erschaffung des ersten Menschenpaares abgeschlossen hat. Hier ist die Herzmitte des ursprünglichen Planes Gottes und der tiefsten Wahrheit über Mann und Frau, so wie Gott sie gewollt und geschaffen hat. Diese ursprünglichen Verfügungen des Schöpfers, wie sehr sie auch durch die Sünde entstellt und verdunkelt sind, können niemals zunichte gemacht werden.“

Abschließend beschrieb der Psychiater drei gängige katholische Irrtümer im Bezug auf die Sexualität. Erstens die pessimistisch-düstere Weltuntergangsstimmung, frei nach dem Motto „Die Moral geht immer weiter den Bach runter“ und „Früher war alles viel besser“. Diese Zeitkritik sei moralinsauer, die Geschlechtlichkeit werde hier oft als etwas „dreckiges“ entwertet. Manchmal bemerke er bei diesen selbsternannten Sittenwächtern auch ein schwül-lüsternes Interesse an der „skandalösen“ Welt.

Dieser Haltung mangle es manchmal an Liebe, stellte Bonelli fest. „Die Nächstenliebe ist der Keim, der mit dem Wasser der Reinheit wächst und herrliche Früchte bringt. Ohne Liebe ist die Reinheit unfruchtbar. Ihre leblosen Wasser verwandeln die Seele in einen Tümpel, in einen faulen Teich, aus dem Dunstwellen des Hochmutes steigen“, notierte der heilige Josefmaria Escriva. Demut sei wichtig im Zugang zur Sexualität; der Psychiater erinnerte hier an Schwangerensuizide als Folge einer heuchlerischen Gesellschaft.

Der zweite Irrtum sei der naturalistische Pseudorealismus nach dem Motto: „Wieso nicht, wenn dir danach ist?“; „Jeder Pfarrer hat eine Freundin“; „Sex ist was Natürliches, das braucht jeder; wer das nicht hat wird krank“„Männer denken nur an das eine“, „Alle Jugendlichen masturbieren – das ist ganz normal“, „die meisten Männer gehen fremd“ Scheinbare Tatsachen würden hier als unveränderlich hingestellt werden, womit der freie Wille geleugnet werde. Dem zugrunde liege ein mechanistisches Bild der Sexualität von Sigmund Freud, der vor 100 Jahren irrtümlicherweise angenommen hatte, dass jede Kontrolle der Vernunft über den Sexualtrieb Neurosen zur Folge hätte.

Den dritten Irrtum stelle die naiv-schwärmerische Romantik dar: jugendlich-unschuldig und unerfahren. Viele junge katholische Verlobte würden die Kraft der Sexualität unterschätzen, bis sie plötzlich verwundert einer Schwangerschaft gegenüberstehen würden, weil sie in ihrer Naivität gewisse „Sicherheitsregeln“ außer Acht gelassen hätten. Aber auch verheiratete Männer und Frauen würden oft diese Kräfte im Umgang mit ihren andersgeschlechtlichen Berufskollegen unterschätzen. Bonelli zählte nach Tom Levold neben der sexuellen Intimität sechs andere Arten der Intimität zwischen Mann und Frau auf, die sehr schnell und ungewollt in die sexuelle Intimität umschlagen können: die emotionale, intellektuelle, soziale, ästhetische, freizeitbezogene und spirituelle Intimität.

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