Wer eine klare Haltung einnimmt, gilt als „Fundamentalist“

29. Jänner 2018 in Kommentar


„Ein probates Mittel kaschierter Intoleranz besteht in den Denk- und Sprechverboten der politischen correctness, eine sehr aktuelle Form des Totalitarismus.“ Gastbeitrag von Weihbischof Marian Eleganti


Chur (kath.net) Bei der selbstverständlich erhobenen Toleranzforderung in westlichen Gesellschaften sind folgende Beobachtungen zu machen(1): Toleranz wird mit Indifferenz verwechselt, mit dem Verlust echter Überzeugungen, die immer mit Wahrheitsansprüchen verbunden sind. Sokrates meint im Phaidon (91, a-c): „Es ist nur schön, von etwas überzeugt zu sein, wenn es auch wahr ist!“.(2)

Ein häufige Ansicht lautet: Was im Einzelnen geglaubt wird, ist nicht so entscheidend. Hauptsache, dass ein Mensch sich für etwas einsetzt oder an etwas glaubt!

Verallgemeinerungen im Sinne dieser formalen Toleranz können mit Standardsätzen umschrieben werden wie „Wir glauben ja doch alle an denselben Gott!“ „Alle Religionen führen zum gleichen Ziel“ Eine Auseinandersetzung über das, was wahr oder richtig ist, erübrigt sich und muss dann nicht mehr stattfinden. Das erscheint als Gewinn.

Der Toleranzbegriff als solcher ist im Abendland emotional positiv besetzt. Selbst seine vulgärphilosophischen Varianten wie die eben genannten kommen überall gut an und finden allgemeine Zustimmung. In Diskussionsforen werden alle Meinungen mehr oder weniger „tolerant“ angehört, am Ende aber wird die Entscheidung im Sinne derer getroffen, welche die Mehrheit haben.

Ein probates Mittel kaschierter Intoleranz besteht in den Denk- und Sprechverboten der politischen correctness, eine sehr aktuelle Form des Totalitarismus. Vertreter bestimmter Standpunkte werden nicht mit intellektuell redlichen, sachbezogenen Argumenten bekämpft, sondern mit emotional negativ besetzten Etiketten belegt, niedergeschrieen oder aus dem Facebook- und Twitter-Account gelöscht durch moderne Zensur- und Inquisitionsteams.

Wer eine klare Haltung einnimmt, gilt als „Fundamentalist“. Beleidigtsein und aufgeregt zur Schau gestellte Entrüstung sollen die Anerkenntnis des eigenen Standpunkts einfachhin erzwingen oder missliebige Vertreter des anderen Denkens als für den politischen oder gesellschaftlichen Betrieb untragbare „Unpersonen“ in die kalte Ecke stellen. An den Universitäten gibt es intellektuelle Schonräume für empfindsame Seelen. Im Gegensatz dazu meint Toleranz: Das andere Denken auszuhalten, auch wenn es weh tut.

„Ich bin gegen Mission“. Die Aussage gibt die Meinung des damals 82-jährigen Ernesto Cardenal wieder, der sich als Anhänger eines religiösen Pluralismus versteht. Die rheinische Synode der EKD hat eben beschlossen, Muslime nicht bekehren zu wollen. Die Kirche nehme den Glauben muslimischer Menschen als Bindung an den einen Gott wahr.(3) Der Auftrag des Herrn, allen Völkern das Evangelium zu verkünden und sie zu seinen Jüngern zu machen (Mt 28,18 20; Mk 16,15f; Lk 24,46f; Joh 20,21; Apg 1,8) bleibt ausgeblendet.

Kann man überhaupt einer Religion anhangen, von deren Wahrheit man nicht wirklich überzeugt ist (denn sonst müsste man sie ja ehrlicherweise aufgeben oder wechseln)?

Für Paulus war Christus zweifellos die Wahrheit. Diese Überzeugung weckte in ihm eine heilige Getriebenheit (vgl. 1 Kor 9,16), die ihn zu einer übermenschlichen missionarischen Anstrengung befähigte. Für den religiösen Dialog von Menschen wie Paulus zu fordern, ihr Bekenntnis zu relativieren oder aufzugeben, wäre doch Unsinn. Sie sind davon überzeugt, dass es nicht gleichgültig bleibt, ob man Christus erkennt oder nicht; ja, dass das Evangelium eine Möglichkeit der Gotteserkenntnis eröffnet, die als unvergleichliche Gnade erlebt wird, an der man auch anderen Anteil schenken möchte (vgl. unser Schwärmen und Werben für gute Musik oder Heilmethoden, auch eine Form von „Mission“). „Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ Joh 20, 30f.

„Wie Mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Joh 20,21. – Eine Gesellschaft, die mit ihren eigenen Glaubenstraditionen nichts mehr anzufangen weiß und nur noch selektiv (zu Taufe, Hochzeit und Begräbnis) am kirchlichen Leben (und auch hier mehr in der Rolle des Zuschauers) teilnimmt, entwickelt keinen missionarischen Eifer. Wem Christus im Endeffekt zu wenig oder nichts mehr bedeutet, kann nicht sein Zeuge sein. Was wäre ein Sokrates ohne den bis in den Tod hinein durchgehaltenen Geltungsanspruch seines Wahrheits-gewissens? Christus ist nach seinem eigenen Bekenntnis vor Pilatus „dazu geboren und dazu in die Welt gekommen“, dass er „für die Wahrheit Zeugnis ablege“. „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“, behauptet er gegenüber seinen menschlichen Richtern. Joh 18,37. An dieser Stelle formuliert Pilatus sein relativistisches, skeptisches Credo und opfert die erkannte Wahrheit seinen opportunistischen, politischen Interessen, die Hände in „Unschuld“ waschend. So ergeht es ihr immer wieder, auch heute.

Bleiben wir auf der Hut vor einer Wahrheit, die nichts kostet und niemanden zwingt, ihr auch nur das Geringste zum Opfer zu bringen! Das hat der greise Simeon in aller Deutlichkeit vorausgesehen: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.“ Lk 2,34f. Eine Wahrheit ohne Stachel verkündet der äusserst sympathisch, gebildet und human wirkende Antichrist bei Solowjew.

Wir meinen nicht alle das Gleiche, wo wir von Gott reden oder ihn zu erfahren glauben! Und ich glaube auch nicht, dass wir dabei alle in die gleiche Richtung gehen. Auch bin ich nicht davon überzeugt, dass die großen Religionen der Welt nur verschiedene Spielarten der Selbstmitteilung Gottes sind auf gleichem Niveau. Es kann doch nicht sein, dass in Jesus Christus der gleiche Gott seinen vielgeliebten Sohn bezeugt hat (vgl. Mt 3,17.17,5; Mk 1,11.9,7.12,6; Lk 3,22; 2 Petr 1,17) und ein paar Jahrhunderte später durch einen „Propheten“ (Mohammed) verkünden lässt: Gott hat keinen Sohn (!) wie es die antichristliche Polemik des Koran will.

Um religiöse Standpunkte miteinander zu versöhnen oder alle gleichzeitig zu relativieren werden auch banale (Pseudo-) Weisheiten bemüht, zu denen ich auch die folgende zähle:

„Der interreligiöse Markt der Religionen“

Mein Freund, und ich sind auf den Markt gegangen.
Auf den internationalen Markt der Religionen.
Kein Handelsmarkt. Ein Markt der Religionen.
Aber die Konkurrenz war mindestens so hart.
Und die Propaganda ebenso lärmig.
Am Stand der Hebräer gab man uns Prospekte,
Die sagten, dass Gott voller Erbarmen sei,
Und dass das jüdische Volk sein auserwähltes Volk sei,
Kein anderes Volk sei in der Art auserwählt, wie das jüdische Volk.

Am Stand der Muslime erfuhren wir, dass Gott barmherzig sei,
Und dass Mohammed sein einziger Prophet sei.
Das Heil werde nur demjenigen zuteil,
Der auf den einzigen Propheten Gottes höre.

Am Stand der Christen entdeckten wir, dass Gott Liebe sei,
Und dass außerhalb seiner Kirche kein Heil sei.
Tritt in die Kirche ein, oder Du riskierst die ewige Verdammnis.

Während wir uns entfernten, fragte ich meinen Freund:
„Was hältst du von Gott?“ Er antwortete mir:
„er ist scheinheilig, fanatisch und grausam.“
Zu Hause angekommen sagte ich zu Gott:
„Warum veranstaltest du ein derartiges Theater, Herr?
Merkst du nicht, dass das seit Jahrhunderten Deinen guten Ruf verdirbt?“

Gott antwortete:
„Nicht ich habe den Markt organisiert.
Ich würde mich schämen, ihn zu besuchen.“
(4)

Lessing lässt grüßen! Das ist genau die Art religiöser Klitterung, die mir – ich gestehe es – auf die Nerven geht, auch wenn sie von Anthony de Mello stammt und prima facie plausibel erscheint. Sein Gleichnis widerspricht der Aussage Jesu, dass das Heil von den Juden kommt (Joh 4,22). Es widerspricht auch dem von Jesus selbst eingeführten Bild des Kaufmanns und der besonders kostbaren Perle, die er ja gerade auf dem Markt erworben hat. Christlicher Glaube sagt explizit: Gott hat diese Welt – den „Markt“ - besucht und ist uns in Christus erschienen. Nun steht er da mit den Worten: „Ich bin es!“ (vgl. Mk 6,50.13,6.14,62; Lk 22,70; Joh 8,18.8,24.28) - „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ (Joh 14,6)! „Ich bin die Tür!“ „Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden.“ (Joh 10,9). Alle anderen vor (und auch nach) ihm sind Diebe und Räuber! (vgl. Joh 10,8)

„Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes!“ Joh 6,69. Die Apostel sahen sich mit einer Botschaft betraut, von der sie unmöglich schweigen konnten (vgl. Apg 4,20). Keiner hat sie mit Gewalt durchgesetzt, vielmehr für das Evangelium den Tod erlitten. „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker.“ Mt 13,44. Das Johannesevangelium sieht in der Erkenntnis Christi das ewige Leben schlechthin: „Das ist das ewige Leben: Dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast.“ Joh 17,3. Wie aber soll man Ihn erkennen, wenn ihn niemand verkündet, die rhetorische Frage des Apostels (vgl. Röm 10,14)?

„Überzeugung“ bringt zum Ausdruck, dass der Mensch das Zeugnis der Wahrheit vernommen und die Evidenz ihres Sinnes erfahren hat, in diesem Sinn überzeugt wurde! Überzeugung meint das „innere, personale Ergriffen- und Verpflichtetsein durch eine erkannte Wahrheit“(5) Als Edith Stein im Sommer 1921 ihre Freundin Dr. Hedwig Conrad-Martius besuchte, fiel ihr dort die Autobiographie der Teresa von Avila in die Hände. Sie las sie in der Nacht in einem Zuge durch und sagte sich dann beim Schließen des Buches: „Das ist die Wahrheit!“(6) Sie und andere leidenschaftliche Wahrheitssucher fühlten sich von der Wahrheit Gottes auf eine ganz besondere Weise berührt und ergriffen. Ihre subjektiven Gewissheiten hat sie nicht zu intoleranten Fanatikern, sondern mit Ehrfurcht und Dankbarkeit erfüllt und zur Hingabe, ja, zum Martyrium befähigt. Auch Pascals Mémorial (7) dokumentiert eine solche »Berührung« durch die Wahrheit.

„Das Jahr der Gnade 1654
Montag, 23. November, Tag des heiligen Clemens, Papstes und Martyrers, und anderer im Martyrologium, Vigil des heiligen Chrysogonus, Martyrers, und anderer,
Von ungefähr zehn und ein’ halb’ Uhr am Abend bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht:

Feuer,
»Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs«,
nicht der Philosophen und Gelehrten.
Gewissheit. Gewissheit. Empfindung. Freude. Friede.
Gott Jesu Christi.
Deum meum et Deum vestrum.
Dein Gott soll mein Gott sein.
Vergessen der Welt und aller Dinge, ausgenommen Gott.
Er wird nur auf den Wegen gefunden, die im Evangelium gelehrt sind.
Grösse der menschlichen Seele.
»Gerechter Vater, die Welt hat Dich nicht erkannt, aber ich habe Dich erkannt.«
Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude.
Ich habe mich von ihm getrennt:
Dereliquerunt me fontem aquae vivae.
»Mein Gott, wirst Du mich verlassen?«
Möge ich nicht ewig von ihm getrennt werden.
»Dies ist das ewige Leben, dass sie Dich erkennen, den einzigen,
wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesus Christus.«
Jesus Christus.
Ich habe mich von ihm getrennt; ich bin vor ihm geflohen, ich habe ihn verleugnet, gekreuzigt.
Möge ich nie von ihm getrennt sein.
Er wird nur auf den Wegen bewahrt, die im Evangelium gelehrt sind:
Vollkommene, innige Entsagung.
Vollkommene Unterwerfung unter Jesus Christus und unter meinen geistlichen Führer.
Ewig in der Freude für einen Tag der Plage auf Erden.
Non obliviscar sermones tuos. Amen.“

Anmerkungen
1 Vgl. Mayer, Rainer, Religion(en) und Toleranz, in: Theologische Beiträge 38 (2007) 119-133.
2 Vgl. Guardini, Romano, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon (5. Auflage; Erstveröffentlichung: 1943), Mainz-Paderborn 1987, 220 [zit. Sokrates (1987)].
3 idea vom 15.01.18.
4 A. de Mello. Le chant des oiseaux. Fragments de sagesses dans les grandes religions, Bethlehem, 12/1991.
5 Guardini, Ethik (2), 769/Anm. zu 17.
6 Vgl. Guardini, Romano, Christliches Bewusstsein. Versuche über Pascal (4. Auflage; Erstveröffentlichung 1935), Mainz-Paderborn 1991. 158f; Sokrates (1987), 143.184.255f: Religion und Offenbarung (2. Auflage; Erstveröffentlichung: 1958), Mainz- Paderborn 1990, 80f. Vgl. die von Guardini kommentierte Bekehrung Madeleine Sémers in: Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien 1923 1963, Bd. 3, Mainz-Paderborn 1995, 141 176; hier: 154f.158.175f.. Eine solche Evidenzerfahrung spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Konversion Edith Steins. Als sie im Sommer 1921 ihre Freundin Dr. Hedwig Conrad-Martius besuchte, fiel ihr dort die Autobiographie der Teresa von Avila in die Hände. Sie las sie in der Nacht in einem Zuge durch und sagte sich dann beim Schließen des Buches: „Das ist die Wahrheit!“ Ich zitiere das Ereignis hier im Wortlaut ihrer ersten Biographin Sr. Teresia Renata Posselt, Edith Stein. Lebensbild einer Philosophin und Karmelitin, Nürnberg 1948, 28. U. Dobhan meint dazu, daß dem Bericht wegen emphatischen Stils der Biographin „fast etwas Legendenhaftes“ anhaftet. Vgl. Dobhan, Ulrich, Teresa von Avila und Edith Stein, in: IKaZ 27 (1998), 494 (vgl. ebd. 510/Anm.1). Auf jeden Fall hat die Lektüre dieses Buches nach Edith Steins eigenem Zeugnis ihrem langem Suchen nach dem wahren Glauben ein Ende bereitet (Edith Stein, Wie ich in den Kölner Karmel kam. Mit Erläuterungen und Ergänzungen von M.A. Neyer, Würzburg 1994, 20. Zit. in Dobhan, Edith Stein, 494). Vgl. Zu den einzelnen Phasen dieses Bekehrungsprozesses: vgl. Dobhan, Edith Stein, 494-498.
7 Fischer deutet das Mémorial als Erfahrung des Pneuma, welche vor allem durch das Wort »Feuer« (erste Zeile!) wiedergegeben wird. Vgl. Fischer, Dorothee. Wort und Welt. Die Pneuma Theologie Guardinis als Beitrag zur Glaubensentdeckung und Glaubensbegleitung, (Praktische Theologie heute 12), Stuttgart Berlin Köln 1993, 244f.
8 Meinen Gott und Euren Gott. Joh 20,17.
9 Ruth 1,16.
10 Joh 17,25.
11 Verlassen haben sie mich, die Quelle lebendigen Wassers. Jer 2,13.
12 Mt 27,46.
13 Joh 17,6.

Marian Eleganti (Foto) ist Weihbischof des Bistums Chur und Jugendbischof der Schweizer Bischofskonferenz.

Videobotschaft der Schweizer Bischofskonferenz zum 1. August 2017: Weihbischof Marian Eleganti/Chur über den hl. Bruder Klaus von der Flüe


Foto oben (c) Bistum Chur


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