"Neuevangelisierung - Modewort oder Lichtblick?"

11. Juni 2018 in Kommentar


"In unsern Tagen erträgt man nämlich Christsein nur, wenn es Harmonie verbreitet. 'Pastoral correctnes' ist von der Politik in die Kirche eingedrungen und beherrscht die Seelsorge." Von Paul Josef Kardinal Cordes


Regensburg-Vatikan (kath.net/pl) Kardinal Cordes hielt diesen Vortrag beim Begegnungstag mit Freunden und Wohltätern des Päpstlichen Hilfswerkes „Kirche in Not“ in Regensburg, kath.net hat berichtet. kath.net dankt S.E. Kardinal Cordes für die freundliche Erlaubnis, den Vortrag in voller Länge veröffentlichen zu dürfen.

Niemand kann bestreiten, dass der „Zahn der Zeit“ an allem Geschaffenen nagt. Die berühmte Pieta Michelangelos im vatikanischen Sankt Peter musste irgendwann restauriert werden. Der Kölner Dom ist eine permanente Baustelle. Berühmte Kunstwerke altern. Ebenso verwässern auch brilliante Ideen; sie verblassen durch Ermüdungserscheinungen. Soziologen bezeichnen diesen Prozess als „Zielabweichung“: das hohe Ideal des Aufbruchs wird aus dem Auge verloren. Der deutsche Wissenschaftler Robert Michels hat solchen Verfall einmal wissenschaftlich nachgewiesen.

Abnutzung

Er untersuchte Entstehung und Bestand linker Parteien und Gewerkschaften im Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Idealisten ergriffen die Initiative, um die sozialistische Revolution vorzubereiten oder in autoritären Ländern, wie im Deutschland Bismarcks, ein demokratisches System zu errichten. Zum Erlangen des Ziels schlossen sie sich zu Organisationen zusammen. Diese Strukturen benötigten bald Verantwortliche und Führer. Es fanden sich gescheite Männer und Frauen, die dann aber bald Gefallen an ihrer neuen Aufgabe fanden. Darum entwickelten sie handfeste Interessen zur Erhaltung ihrer besseren Positionen; sie wollten eben nicht zur mühevollen Handarbeit zurückzukehren und sich mit geringerem Einkommen und Prestige zufrieden geben. Damit verflachte der revolutionäre Angangs-Impuls; das Interesse der Führungs-Schicht richtete sich auf die Verwaltungsmaschinerie. Ein Großteil des revolutionären Gefolges verlor dann aber den Elan und baute künftig auf die Funktionäre (Anm. A. Etzioni, Soziologie der Organisationen, München 4. Auflg. 1973, 20-27).

Kirchenerfahrung

Wer wollte bestreiten, dass die Institution der streitenden Kirche gegen solche Prozesse der Abnutzung geschützt bleibt. Auch an ihren Idealen nagt der „Zahn der Zeit“. Darum liegt für sie gleichfalls die Verpflichtung zur ständigen Neuwerdung auf der Hand. Große Gestalten des Christentums haben sich darum nicht gescheut, die Christenheit machtvoll zur Reform aufzurufen und ihre Missstände schneidend angeprangert. Etwa im 12. Jahrhundert die Heilige Äbtissin Hildegard. Sie ist heute eher bekannt wegen ihrer Heilpflanzen und ihrer Musikalität. Aber sie war auch ein unerschrockener Mahner und Richter. Obschon eine Ordensfrau, machte sich per Pferd von ihrem Kloster in Bingen auf und hielt im Jahr 1162 auf dem Marktplatz von Köln an Domkapitel und Klerus eine bittere Strafpredigt. Hören Sie, wie sie den geistlichen Herren den Kopf zu Recht setzte:

„Gesegnet und gesiegelt zu himmlischen Menschen, solltet ihr eine Wohnstätte sein, die von Weihrauch und Myrrhe duftet und in der Gott wohnt. Aber das seid ihr nicht…Sondern was immer euer Fleisch verlangt, das tut ihr. Darum gilt für euch das Wort: ‚Erhebe endgültig deine Hände gegen ihre stolzen Taten. Wie viel Böses hat der Feind im Heiligtum verübt!‘ Die Macht Gottes wird eure von Bosheit hochgereckten Nacken niederzwingen und zunichte machen, was wie durch Windstoß aufgebläht ist…Ihr schaut ja nicht auf Gott und verlangt auch nicht, ihn zu schauen“ (Anm. In Hildegard von Bingen, Briefwechsel, Salzburg 1965, 170).

So weit der Appell aus längst vergangenen Zeiten. Wer ihn heute in die Welt setzte, erntete einen empörten Aufschrei: „So reden die ständigen Miesmacher“. „Das sind Fanatiker!“ In unsern Tagen erträgt man nämlich Christsein nur, wenn es Harmonie verbreitet. „Seid nett zueinander“, gilt als Devise. „Pastoral correctnes“ ist von der Politik in die Kirche eingedrungen und beherrscht die Seelsorge. Begriffe wie „Ungläubige“, „Abständige“ oder gar „Sünder“ sind aus dem kirchlichen Vokabular gestrichen, da sie herabsetzend wirken könnten. Die Medien jubeln über den Einzug weltlichen Denkens ins Kirchenbewusstsein. Und wenn jemand den eklatanten Glaubensverlust beklagt, so ist die Beschönigung rasch zur Hand: Man solle doch nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen. Das eigene Haus sei „gar nicht so schlecht bestellt“. Und man verweist im „Bericht zur Lage“ auf die Sorge um den Nächsten und lobt die wachsende Zahl der “Menschen guten Willens“.

Wer aber zur gewissenhaften Prüfung Maß nimmt an Gottes Wort, der stößt auf lauernden Selbstbetrug. Augenwischerei möchte vergessen machen, dass die Äbtissin Hildegard heute genau so wenig Grund hätte, uns mit Komplimenten zu betäuben. Darum hat der Heilige Johannes Paul II. der Welt und der Kirche nicht zugerufen: „Euer Christsein ist o.k. Nur weiter so!“ Im Gegenteil: Von ihm stammt die Initiative „Neuevangelisierung“. Fortwährend hat er sie durch seine eigene Umtriebigkeit und deutliche Lehre in Umlauf gesetzt, durch sein rastloses Pilgern und seine ständigen Weisungen. Er gab der „Neuevangelisierung“ frische Aufmerksamkeit und weckte einen missionarischen Aufbruch. Der Ausdruck wurde zum Schlüsselwort seines Pontifikats. - Sein Nachfolger nahm den Mahnruf auf: Am Hochfestes der Apostelfürsten 2010 etwa griff Papst Benedikt ausdrücklich auf diesen Impuls zurück und begründete mehrfach den Zusatz „neu“: Neue Evangelisierung sei erforderlich auch in den Ländern, „die die Verkündigung des Evangeliums bereits erhalten haben.“

Neuevangelisierung

„Neuevangelisierung“ will in unsern Tage kein Modewort für Artikelschreiber sein. Ihre Dringlichkeit liegt auf der Hand. Mag auch unser aller Sündhaftigkeit nicht mehr so ins Auge springen wie zur Zeit der Heiligen Hildegard und unter den Renaissance-Päpsten; mag christliches Schuldgefühl in Fällen von Pädophilie und finanzieller Korruption auch auf die Kraft kirchlicher Selbstreinigung setzen können. Trotzdem krankt unsere Kirche an Verwässerung und Verwirrung. Der Irrweg ist heute lediglich subtiler geworden. Manche geweihte Hirten sind versucht, das Evangelium pflegeleicht zu machen und auf den Zeitgeist zu verkürzen. Kirchliche Katechesen zielen auf nützliche humane „Werte“. Und Katholiken sagen: „Der liebe Gott isse ja nit so!“ So ersetzt „Weltliches Denken“ die Offenbarung Gottes. Die Person Jesu Christi und seine Botschaft bleiben ggfs. dekorative Füllsel. Alle prophetische Härte hingegen wagt kaum einer auszurufen: Jesu scharfes „Ich aber sage euch“ oder gar sein „Wehe euch“. Die Folge: Säkularismus drängt uns zur Auffassung: unser Leben auf Erden kann auch reich sein und gelingen ohne die Arbeitshypothese „Gott“.

Schwarzmalerei?

2009 führte die Bertelsmann-Stiftung Gütersloh eine breit angelegte Umfrage durch. Sie wurde unter dem Titel „Religionsmonitor. Woran glaubt die Welt?“ veröffentlicht. Soziologen stellen entsprechend ihrer Disziplin zunächst heraus: der Kern aller Religiosität richtet sich auf die Übernatur. Dort kann sich Glaube an zwei unterschiedlichen Objekten festmachen: entweder an etwas Verschwommen-Göttlichem oder an einem personalen Gott. Dann prüfen die Wissenschaftler, welche der beiden Ziele sich in der Religionsvorstellung der westlichen Länder gegenwärtig ausmachen läßt – das Diffus-Heilige oder das Du Gottes. Ihr Ergebnis? Für deutsche Katholiken und Protestanten tritt zutage, dass nur für 12% der Evangelischen und 16,2% der Katholiken Gott ein personales Gegenüber, ein liebendes Du ist. Allen andern, also der hohen Zahl von 85%, ist Gott lediglich eine höhere Gewalt, ein blindes Schicksal, die gesichtslose Macht über den Wolken. Daraus folgert der soziologische Kommentar, „dass pantheistische Religionsmuster (…) von den Katholiken bis zu den Konfessionslosen reichen und offenbar ein gemeinsames Element der von allen geteilten religiösen Kultur ausmachen“ (Anm. Bertelsmann Stiftung ((Hg.)) Woran glaubt die Welt? Gütersloh 2009, 120f). Für andere europäische Länder sind die Ergebnisse zwar nicht so desaströs, erreichen aber auch dort kaum 50% für die Zustimmung zu eine personalen, biblisch offenbarten Bild Gottes. Entsprechend gab der ehemalige irische Premierminister Enda Kenny in einem Radio-Interview bekannt: „Das Göttliche ist etwas absolut Unendliches, eine Energie, eine Kraft…ich kann es nicht als ein Person sehen.“ Und in den Zeitungsberichten über den letzten Katholikentag in Münster konnte man die Stichworte „Gott“, „Glaube“, „Evangelisierung“ und „Bekehrung“ allenfalls mit der Lupe finden; so sehr waren sie verborgen im partei-politischen Gestrüpp.

Ich war – das gestehe ich frei – erschüttert, als ich die Ergebnisse der Bertelsmann-Umfrage las. Unruhe trieb mich und ließ mich fragen: Was geht einem Großteil meiner Landsleute durch den Kopf, wenn diese Christen sagen: „Vater unser, der du bist im Himmel“? Der Religionsmonitor verschärfte bei mir den Appell der Päpste zur Neuevangelisierung. Er wurde mir obligatorisch, unverzichtbar.

Andererseits kam mir dann bald meine römische Erfahrung wieder in den Sinn. Ich fühlte mich von dem Spötter Wilhelm Busch verstanden, der sagt: „Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Bedrängnis durch Trübsal sucht nach Tröstungen. Auch ich schaute mich um. Und meine jahrelange Arbeit im vatikanischen Rat für die Laien linderte meinen Schmerz ein wenig. Dort hatte ich Männer und Frauen kennen gelernt, für die die Losung „Neuevangelisierung“ der Lebensinhalt geworden war. Die sog. „Neuen Geistlichen Bewegungen“ gaben mir wieder Hoffnung.

Geistliche Aufbrüche

Papst Johannes Paul hatte mich 1980 nach Rom in den Vatikan berufen, und ich lernte bald diese neuen Gruppen kennen. Die Anfangs-Kontakte mit ihnen versprachen zunächst wenig Gutes. Sie waren im Gegenteil eher unangenehm. Etwa die Begegnungen mit den Gründern des „Neukatechumenats“, einer aus Spanien kommenden katholischen Bewegung. Diese fand damals in den Ortskirchen wenig Zustimmung, sondern litt unter Skepsis und Ablehnung der geweihten Hirten. So kamen die Verantwortlichen zu mir, um sich über ihre Ablehnung zu beklagen und um Beistand zu bitten.

Solche Gespräche kosteten mich immer viel Zeit, vor allem weil die Besucher ihr Problem bei mir nicht klar auf den Punkt brachten. Sie begannen vielmehr in meinem Büro zunächst einmal eine temperamentvolle Diskussion untereinander. Zudem kamen sie jeweils zu fünft – neben dem Gründern Kiko Arguello und Carmen Hernandez kam ein begleitender Priester Mario Pezzi und zwei Katecheten aus Rom. Mir missfiel ihr Umgangston sowie das Hin und Her ihrer Auseinandersetzung. Einige Male zwang ich mich zur Gelassenheit. Aber irgendwann riss der Geduldsfaden. Ich schlug mit der Hand auf den Tisch und sagte energisch: „Basta, jetzt rede ich!“ Darauf Kiko verängstigt zu der Diskussionsfreudigsten: „Sei still, Carmen, das ist ein Deutscher!“ So war die Anfangsberührung mit dieser Gruppe alles andere als “Liebe auf den ersten Blick”.

Doch dann lernte sie besser kennen. Ihre Stifter stammen nicht „vom andern Stern“. Sie sind Alltags-Christen wie Du und ich. Doch haben sie eine bezeichnende Lebens-Geschichte. Sie nahmen gewöhnlich Teil am Leben und an den Gottesdiensten der eigenen Pfarrei. Aber irgendwann weckte Gott in ihnen einen neuen geistlichen Hunger. Das Vaticanum II berührte sie mit der Botschaft, jeder Getaufte hätte ein Apostel zu sein. Das eine oder andere Wort Gottes sprach sie plötzlich persönlich an. Obwohl sie ihren Glauben eigentlich kannten, berührte das Evangelium sie neu. Ihr Glaubensleben gewann eine neue Dynamik. Und sie sammelten Gleichgesinnte um sich. Ein Kernsatz von Gottes Wort oder eine prägnante Glaubenswahrheit fing an, sie zu formen und wurde zu einem neuen Glaubens-Impuls. Sie entdeckten eine Botschaft, die sie nicht mehr losließ.

Für sie wurde ein biblisches „Grund-Wort“ oder ein Vers des Evangeliums zum Schlüssel, sich für Gottes Selbstmitteilung zu öffnen. In solcher Konzentration wurde die Glaubenswahrheit zum Motor und sie ließen sich senden. Ob nun die Zusicherung des Herrn, selbst anwesend zu sein, wenn „zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ (Mt 18,20); ob Jesu Satz am Kreuz zu dem Lieblingsjünger: „Siehe, Deine Mutter“ (Joh 19,27); ob unser „Begrabensein durch die Taufe auf Christi Tod“ (vgl. Röm 6,4); ob die Zusage der „Sendung des Geistes durch den Vater“ in Jesu Namen (Joh 14,26) oder ob andere biblische Verse: Immer ergriff diese Initiatoren ein bestimmter neutestamentlicher Gedanke und trieb sie zu missionarischem Einsatz.

So entstanden kleine verschworene Kreise, die ihre geistliche Besonderheit wie einen Schatz pflegten. Dazu brauchten sie wohl ein gewisses Eigenleben Dennoch brachen sie nicht mit ihrer Umwelt oder gar mit der Kirche. Sie waren ja so erfüllt von den neuen Erfahrungen, dass sie sie weitergeben wollten – in der Kirche und als Kirche. Der Heilige Johannes Paul II. hatte sie schon als Kardinal von Krakau ins Herz geschlossen. Bei der Bischofssynode 1987 über das Laienapostolat fing er als Papst ihre Ablehnung auf, die im Weltepiskopat immer noch bestand. Im Abschlußdokument über die „Berufung und Sendung der Laien“ formuliert er dann ihr Existenzrecht und ihren Beitrag für die Evangelisierung (Anm. Christifideles laici Nr. 29)

Bei diesen Neuaufbrüchen wiederholt sich, was aus der profanen Geschichte bekannt ist: bei der Gründung von Parteien, von Gewerkschaften, beim Engagement für den Frieden, für die Umwelt oder für bedrohte Minderheiten. Doch gegenüber solchen diesseitigen Auslösern von Veränderung kennzeichnet die Geistlichen Bewegungen ein bedeutender Unterschied: Sie wollen Fackelträger von jenseitigem Feuer sein, durch das sie anfangs selbst entzündet worden waren. Gottes Wort und der Heilige Geist stehen Pate. Die aufgenommenen Anstöße können sich dann auch weit über die eigene Gruppe hinaus als heilshaft erweisen. Ohne diese „Bewegungen“ fehlten der Kirche die immer wieder nötigen Versuche, durch abermaliges Hören auf das Evangelium erneuert zu werden. Oder ganz konkrete pastorale Impulse zu schaffen - etwa katholische Familien mit einer Reihe von Kindern oder auch zahlreiche Priester- und Ordensberufe.

Keine Super-Christen

Manchem bleiben diese neuen Gruppen freilich verdächtig. Man wirft ihnen vor, sie hielten sich für die Elite; sie seien die modernen Pharisäer, die Jesus schon verurteilt hätte. Wer das denkt, kennt sie schlecht. Natürlich verwirklichen sie genauso durchschnittlich ihr Ideal, wie wir alle unser Christentum leben; nicht jeder oder jede eignet sich, dass man sie zu Maßstab nähme für die ganze Welt der neuen Gemeinschaften. Aber geistlicher Hochmut ist das letzte, was die Guten von ihnen kennzeichnet. Eher grämt sie die Einsicht in persönliche Schwachheit und Sünde. Authentische Nähe Gottes läßt den Glaubenden ja die eigene Unvollkommenheit besser erkennen. Der Mensch entdeckt im Licht Gottes seine Armseligkeit. So etwa der Apostel Petrus. Er wird nach dem wunderbaren Fischfang seiner Erbärmlichkeit inne und verlangt vom Jesus: „Herr, geht weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk 5,8)!

Nein, Neuevangelisierung setzt kein „Super-Christsein“ voraus. Sie braucht jedoch etwas anderes, sie braucht Eifer - ein gegenwärtig eher rares Kriterium in unserer Kirche. Es entspricht nicht unsrer Mentalität. Wir alle sind bestimmt vom Versorgungsdenken. Es beherrscht alle Bereiche des Lebens. In unserer Gesellschaft ist eben der Kunde „König“. Jeder denkt bei sich: Ich habe Rechte; meinen Erwartungen muss entsprochen werden; die Ware ist mir „frei Haus“ zu liefern, wenn ich bezahle – auch mit der Kirchensteuer. Die Kirche erscheint als Versorgungsdepot, das mir seine Produkte zur Verfügung zu stellen hat. Neuevangelisierung aber ist das Gegenteil von Anspruchsdenken. Neuevangelisierung lässt Passivität in Engagement umkippen. Hier liegt der springende Punkt. Denn Evangelisierung braucht Täter, Evangelisatoren. Das Wort „Neuevangelisierung“ mag wohlfeil geworden sein. Doch wo sind die Akteure? Gesucht werden Christen mit Eifer und Passion. Auch wenn Umtriebigkeit anderer uns immer lästig ist. Ohne selbstlose Einsatzbereitschaft keine Neuevangelisierung.

Fromme Wünsche eines Idealisten? Hirngespinste ohne Durchschlagskraft? Keineswegs! Die Kirchengschichte lehrt Besseres. Da sind etwa die ersten Christen. Sie waren weit davon entfernt, sich als „Konsumenten“ zu verstehen; sie sahen sich als „Anstifter“.

Anfang der Weltmission

Gehen wir zurück in das zweite und dritte Jahrhundert der frühen Kirche, in der die ersten griechisch-römischen Städte evangelisiert wurden. Es gab weder Generalvikariate noch den Vatikan mit ihren bürokratischen Heeren, keine katholischen Nachrichtenagenturen, keine Kirchenzeitungen, keinen Caritasverband, oder schulischen Religionsunterricht. Selbstredend sind all diese Einrichtungen nicht schlecht; aber sie machen leider so manchen vergessen, dass jeder als Getaufter selbst Apostel ist; sie verdecken, was die Urkirche stark gemacht hat.

Wie verbreitete sich das Evangelium, als Christus es vor 2000 Jahren eben verkündet hatte? Einfach gesagt: Es verbreitete sich durch Überzeugungstäter, nicht durch Professionelle. Wir haben eine sehr genaue Kenntnis des christlichen Lebens aus dieser Zeit – aus Niederschriften heidnischer Schriftsteller, also ungefärbt von jeglichem christlichem Eigeninteresse. Da gibt es etwa einen fraglos authentischen Brief Plinius‘ des Jüngeren; er starb im Jahr 113 nach Christus.

Er war römischer Stadthalter, Freund des römischen Kaisers Trajan, und berichtete aus Bithynien, an der Südküste des Schwarzen Meeres. Tausend Kilometer von Jerusalem und zweitausend Kilometer von Rom findet er schon im Jahr 112 eine christliche Kolonie. Über sie schreibt der Briefautor beiläufig an den Kaiser: Die Christengemeinde gefährde die amtlich bestätigten gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen; Stadt und Land seien von dieser neuen Lehre befallen; er nennt sie eine „Seuche“, weil sie vor nichts und niemandem Halt mache.

Der Glaube an Christus griff folglich von Jerusalem und Rom aus mit größter Dynamik um sich – dank reisender Kaufleute, der Soldaten des Römischen Heeres, der Sklaven und Dienstboten. Ausgewiesene Historiker kommen für seine Verbreitung im Mittelmeerraum auf erstaunliche Ergebnisse: Weniger als zwei Jahrhunderte nach Christi Erdenleben, am Vorabend es Konstantinischen Friedens, kommen sie auf die Zahl von 10% der Bevölkerung dieses Weltteils (Anm. Alle drei Fundstellen in A. Hamman, Die ersten Christen, Stuttgart 1985, 15; 67; 74) – trotz aller blutigen Verfolgung durch den römischen Staat und der gnadenlosen Ablehnung der „neuen Lehre“ durch die jüdische Synagoge.

Begeistert

Solche Kraft hat Christi Erlösungsbotschaft bis heute überall da, wo sich Glaubenstäter finden, denen Versorgungsmentalität nicht länger genügt. Und diese Männer und Frauen entdecken dann dazu noch etwas Neues; sie stoßen zu ihrer Überraschung auf Unerwartetes.

Etwa ein Ehepaar aus sogenannten besseren Kreisen einer deutschen Großstadt. Beruflich angesehen und gesellschaftlich geachtet. Eine gesunde Familie, erfreuliche Kinder. Doch irgendwann wird in ihnen ein neuer geistlicher Geschmack geweckt. Sie öffnen sich mir und ich bestärke sie darin, bei einer der Bewegungen einen Versuch zu machen. In einer längeren Glaubensschule geht ihnen zunächst die Selbstbezogenheit ihrer eigenen Frömmigkeit auf. Dann entdecken sie in ihrer Umwelt Fälle von erschreckender Unerlöstheit. Meine Bekannten sind inzwischen sicher geworden, dass Gottes Wort und die Gemeinschaft der Kirche Menschen heilen kann. Nicht ohne Zittern lassen sie sich darauf ein, ihre eigene Erfahrung andern mitzuteilen: sie werden zu Glaubenszeugen. Und eine neue Welt geht ihnen auf: Wie beglückend es ist, andern gläubige Hoffnung zu geben – durch das Wort des Lebens. Sie erfahren, dass die Hinführung anderer zu Gott innerlich reich macht. So viel Glück wird ihnen geschenkt, dass sie nach einigen Jahren ihres Engagements zu mir kommen und sich beschweren: Nicht für die zeitraubenden Gespräche mit andern Suchenden; nicht weil der eine oder andere sie kritisiert, sie ließen sich nicht mehr bei den üblichen gesellschaftlichen Verpflichtungen blicken; nicht weil den Nachbarn ihr intensiver Einsatz für das Evangelium verdächtig erscheint. Sie machen mir einen ganz andern Vorwurf: „Warum ist uns nicht schon viel früher gezeigt worden, dass wir selbst missionieren können? Warum haben wir so viel Zeit vertan, bevor wir dies Wunderbare am Christsein entdeckten?“

Folgerungen

Nun denken Sie bitte nicht, liebe Schwestern und Brüder, unser Treffen sei eine Werbeveranstaltung für die neuen Geistlichen Bewegungen; gleich würden Ihnen Beitrittsformulare in die Hand gedrückt. Das wäre ein Missverständnis. Ich wollte vielmehr das oft gehörte Wort „Neuevangelisierung“ mit Leben füllen. Dann aber auch Ihnen allen Mut machen. Denn diese Neuaufbrüche des Glaubens sind für mich ein Zeichen, dass Gottes Geist weiter in Christi Kirche aktiv ist; er weckt Impulse, die beweisen, Christi Evangelium hat seine Kraft nicht verloren. Es kann auch die Menschen unserer Tage faszinieren und eindrucksvolle Wirkung zeigen – etwa in den Internationalen Weltjugendtagen, die immer wieder weltweit für großes Erstaunen sorgen, deren Entstehen ich aus nächster Nähe begleitet habe und die ohne solche Bewegungen nicht entstanden wären.

Nicht zuletzt aber gilt es, dass wir alle uns von diesen Gruppen anstecken lassen. Sie wachsen, während die Anzahl der Gottesdienstbesucher in den Gemeinden oft abnimmt. Da liegt doch die Frage nahe: Was können wir von ihnen lernen? Jeder kluge Unternehmer, dessen Betrieb schwächelt, möchte doch wissen, warum der andere besseren Umsatz hat; und er versucht zu lernen.

Natürlich ist zunächst das – wenn ich so sagen soll - das katholische „Normalprogramm“ ernst zu nehmen; tägliches Gebet – auch bei Tisch, Mitfeier der Eucharistie wenigstens am Sonntag, regelmäßiger Empfang des Bußsakraments, auch privates Lesen der Heiligen Schrift. Sie alle hier kennen und praktizieren das. Das ist und bleibt die „eiserne Ration“ in den neuen Gemeinschaften und der Grundstock des Christseins aller Glieder der Kirche.

• Gemeinschaft (1)

Ferner lassen diese Gruppen neu erkennen, da unser Glaube heute dringend Gemeinschaft braucht. Wie viele Mitchristen suchen in einer zunehmend weltlich-kalten Welt die Nestwärme der Glaubensgemeinschaft. Kein hellsichtiger Realist wird behaupten, das sog. „christliche Abendland“ sei christlich. Staatliche Gesetzgebung und die schulischen Lehrpläne der Kultusministerien reichen für die Weitergabe des Evangeliums nicht aus. Noch weniger findet sich der Katholik von den elektronischen Medien auf dem Weg zu Gott begleitet - suchen sie doch ständig das Haar in der kirchlichen Suppe und machen nicht selten die Mücke zum Elefanten.

Oder wenn Schicksalsschläge kommen. Da ist es nicht der Gesellschaftskontakt im Party Stil, der den Betroffenen trägt; da fängt ihn nur ein starkes personales Netz auf. Vor Jahren hatte ich guten Kontakt mit einer allein stehenden Journalistin, Vize-Chefredakteurin einer wichtigen österreichischen Zeitung. Sie war treu praktizierende Katholikin und mit bester Beziehung in die soziale Oberschicht. Dann wurde sie plötzlich entlassen. Und sie nahm sich das Leben. Ich war erschüttert – weder Kirchengemeinde noch Bürgertum hatten sie gehalten. Christsein zerrinnt nämlich, wenn es nicht von Mitglaubenden gestützt wird. Niemand glaubt allein. So wie wir zunächst durch Familie, Gemeinde und Lebenswelt in die Wahrheit des Evangeliums hineingewachsen sind, so braucht unser Vertrauen zu Christus ein Leben hindurch die Nähe von gleichgesinnten Brüdern und Schwestern. Darum hat das 2. Vatikanische Konzil die biblischen Verse vom „Gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen“ so stark betont; darum lehrt der Apostel Paulus, dass wir alle Glieder an dem einen Leib Christi sind. Glaubende haben sich zusammenzuschließen als Inseln in der aufgepeitschten See einer gott-entfremdeten Welt.

• Als 2. Intuition dieser Bewegungen möchte ich die „Innerlichkeit“ nennen.

Zur horizontalen Verankerung in der Gemeinschaft muss für uns Getaufte der Aufblick nach oben kommen, die intime, ganz persönliche Hinwendung zu Jesus Christus und seinem Vater. Das pflegen die neuen Gruppen mit Treue. Etwa in der Anbetung des Altarssakraments. Oder im sogenannten „stillen Gebet“: Man versammelt sich, hört einen Absatz aus dem Evangelium, ruft gemeinsam den Heiligen Geist an und dann betet jeder wohl 20 min lang für sich still im Herzen oder spricht das Gebet des Russischen Pilgers: „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner, der ich ein Sünder bin.“ Vor allem im Herzensgebet wird aus christlichem Wissen um Gottes Existenz und aus der liturgischen Praxis eine Du-Beziehung zum Dreifaltigen.

Wir brauchen nur aus unserer eigenen Alltags-Erfahrung zu lernen – etwa an das, was geschieht, wenn sich jemand einen andern Menschen vertraut macht und wenn Zuneigung entsteht. Es beginnt damit, dass eine Person jemandem wichtig wird; da entsteht eine neue Aufmerksamkeit. Aus ihr erwächst geistige Begegnung und vielleicht geistliche Kommunion. Kenntnis und Liebe sind dann die Kräfte, die das Ich von innen her aufladen Sie vermitteln einen bislang unbekannten Elan. Der Einzelne wird aufgeweckt und entdeckt ein Du. Ggfs. öffnet sich dann sein Inneres, sein „Herz“.

Solch zwischenmenschliches Verhalten lässt uns auch den Glaubensakt des Christen besser verstehen. Auch Gott kann ein Ich für sich ausmachen, wenn er es anruft. Gottes Wort, seine Boten, die Liturgie oder Lebensereignisse treffen ihn. Der Berührte gibt eine persönliche Antwort. Er reagiert mit Interesse, vielleicht mit Neugier, vielleicht mit Zuneigung. Dann kann Gnade dem Ruf Gottes übernatürliche Kraft geben. Der Mensch wünscht und ahnt, dass ihn Arme auffangen und halten. Das Christentum als steril-trockene Weltanschauung - mißverstanden als Moralkodex für gesellschaftliches Wohlverhalten - wandelt sich zu einer Liebesbeziehung zwischen dem Du des Vaters im Himmel und dem unbehausten, suchenden Ich.

• Schließlich noch ihre „Gottverwiesenheit“ (3)

Diese Neuaufbrüche des Glaubenslebens bieten ein buntes Bild. Darum sind sie nicht auf einen Nenner zu bringen durch Abstraktion oder Generalisierung. Was ihnen neben der Umtriebigkeit als zweites vielleicht gemeinsam ist, würde ich als „Lebensnähe“ bezeichnen. Sie sind inkarniert, nicht verkopft. Ihr Apostolat beachtet, dass die Glaubens-Wahrheit uns auf zwei Ebenen erreichen muss: auf der der Intuition und auf der der Reflexion. Ihre Pastoral wechselt ab zwischen Erleben und Bedenken, und sie verbinden etwa die Teilnahme an einprägsamen großen Veranstaltungen mit deren deutender Aufarbeitung. Freilich bleiben solche Feste glaubensgetränkt; sie sind nicht welttrunken.

Durch die Koppelung von außen und innen vermeiden die neuen Bewegungen die Falle, die intellektuelle Seite der Wahrheit durch die emotionale zu ersetzen. Beide Dimensionen unserer Existenz müssen ja am Glaubensakt beteiligt sein. Der Völkerapostel Paulus schreibt an die Römer: „Wenn du mit deinem Mund bekennst: ‚Jesus ist der Herr‘ und in deinem Herzen glaubst: ,Gott hat ihn von den Toten auferweckt‘, wirst du gerettet werden“ (Röm 10,9). Er weist auf den doppelten Aspekt der Glaubensverankerung hin. Gottes rettendes Heilswort gilt beidem: der Welt greifbaren Erlebens und der Intimität des Herzens. Im Wort bekundetes Glaubenswissen ist mit einer persönlichen Entscheidung im Herzen zusammenzubringen. Auf diese Weise macht sich Glaube über Dinge und Ereignisse hinaus an einer Person fest: am Du des lebendigen Gottes, der als „Gott für uns und mit uns“ von Jesus Christus verkündet und jedem von uns in Christus nahegekommen ist. Genau in diesem Punkt wollen die Geistlichen Bewegungen korrigieren, was der Bertelsmann-Monitor so dramatisch aufgedeckt hat: die Entstellung Gottes zu einer Kraft des anonymen Himmelsraums.

Schluss

Joseph Ratzinger bedauerte als Kardinal und als Papst am modernen Lebensgefühl die „Gott-Vergessenheit“. Wir sollten nicht meinen, wir wären gegen sie gewappnet. Vielmehr sind wir genötigt, unser Gottesbild zu prüfen. Wie arm und kümmerlich ist doch, was nach dem anfangs zitierten „Religionsmonitor“ vom christlichen Glauben übrig geblieben ist; wie stümperhaft, was uns manche Medienleute oder Philosophen von Gott erzählen.

Ist Gottes Sohn, der uns den allmächtigen Schöpfers verkündet, nicht verlässlicher als all die menschlichen Spekulationen? Für Jesus Christus ist Gott keine gesichtsloses Schicksal über den Wolken, sondern der Vater. In den Evangelien ist der Herr dem Vater in größter Innigkeit verbunden. Jesus wirkt kaum ein Wunder, ohne auf den Vater zu verweisen; er ruft ihn an, er blickt zu ihm auf, fordert Geheilte dazu auf, dem Vater zu danken. Das erste Wort, das von ihm im Neuen Testament berichtet wird, ist ein Wort an den Vater: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ Und das letzte am Kreuz über gibt sich dem Vater sterbend. Die Statistiker haben gezählt, dass Jesus 170 Mal bei den Evangelisten vom „Vater“ spricht. Und der Herr nimmt für sich in Anspruch zu wissen, wer Gott ist. „Niemand hat Gott je gesehen“, schreibt der Evangelist Johannes, „Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat uns Kunde gebracht“ (1,18).

Charles de Foucauld lebte am Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Er war wirklich ein ungewöhnlicher Evangelisator. Als erster erkundete er unter Lebensgefahr die Geographie des damals noch unbekannten Marokko. Später bekehrte er sich und wurde Einsiedler in Tamarasset/Afrika. 1916 ermordeten ihn dort die Tuareg, denen der das Evangelium bringen wollte. 2006 sprach die Kirche den Märtyrer selig. Er hat uns ein bewegendes Gebet hinterlassen, das die Quelle und die Befähigung aller Evangelisierung benennt:

„Mein Vater, ich überlasse mich dir.
Mach mit mir, was dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt
Und an allen deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In deine Hände lege ich meine Seele,
ich gebe sie dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens.
Weil diese Liebe mich treibt,
mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen
ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen.
Denn du bist mein Vater. Amen“

Kirche in Not – Kardinal Cordes beim Vortrag

Foto Kardinal Cordes (c) Kirche in Not


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