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Der Streit um den Elefanten

14. Mai 2005 in Aktuelles, keine Lesermeinung
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Ist der Anspruch des Christentums, "religio vera" zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? Joseph Ratzinger über den Wahrheitsanspruch des Christentums.


Paris / Rom (www.kath.net) „Die Christenheit, die Entmythologisierung und den Sieg der Wahrheit über die Religionen“. Zu diesem Thema sprach der jetzige Papst Benedikt XVI. am 27. November 1999 an der Pariser Sorbonne-Universität. Wir dokumentieren den Vortrag im Wortlaut.


Die Christenheit, die Entmythologisierung und den Sieg der Wahrheit über die Religionen

Am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends befindet sich das Christentum gerade im Raum seiner ursprünglichen Ausdehnung, in Europa, in einer tiefgehenden Krise, die auf der Krise seines Wahrheitsanspruches beruht. Diese Krise hat eine doppelte Dimension: Zunächst stellt sich immer mehr die Frage, ob der Begriff Wahrheit sinnvoller Weise überhaupt auf die Religion angewandt werden könne, mit anderen Worten, ob es dem Menschen gegeben ist, die eigentliche Wahrheit über Gott und die göttlichen Dinge zu erkennen.

Der Mensch von heute findet sich viel eher in dem buddhistischen Gleichnis vom Elefanten und den Blinden wieder: Ein König in Nordindien habe einmal alle blinden Bewohner der Stadt an einem Ort versammelt. Darauf ließ er den Versammelten einen Elefanten vorführen. Die einen ließ er den Kopf betasten. Er sagte dabei: „So ist ein Elefant.“ Andere durften das Ohr betasten oder den Stoßzahn, den Rüssel, den Rumpf, den Fuß, das Hinterteil, die Schwanzhaare. Darauf fragte der König die einzelnen: „Wie ist ein Elefant?“ Und je nachdem, welchen Teil sie betastet hatten, antworteten sie: „Er ist wie ein geflochtener Korb ... Er ist wie ein Topf ... Er ist wie eine Pflugstange ... Er ist wie ein Speicher ... Er ist wie ein Pfeiler ... Er ist wie ein Mörser ... Er ist wie ein Besen.“ Daraufhin – so sagt das Gleichnis – kamen sie in Streit, und mit dem Ruf „Der Elefant ist so und so“ stürzten sie aufeinander und schlugen sich mit den Fäusten zum Ergötzen des Königs.

Der Streit der Religionen erscheint den Menschen von heute wie dieser Streit der Blindgeborenen. Denn blind geboren sind wir den Geheimnissen des Göttlichen gegenüber, so scheint es. Das Christentum befindet sich für das heutige Denken keineswegs in einer positiveren Perspektive als die anderen – im Gegenteil: Mit seinem Wahrheitsanspruch scheint es besonders blind zu sein gegenüber der Grenze all unserer Erkenntnis des Göttlichen, durch einen besonders törichten Fanatismus gekennzeichnet, der das in eigener Erfahrung betastete Stück unbelehrbar für das Ganze erklärt.

Das „Ende der Metaphysik“ und die Symbolwelt des Christentums

Diese ganz generelle Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch in Sachen Religion ist dann zusätzlich untermauert durch die Fragen, die die moderne Wissenschaft den Ursprüngen und Inhalten des Christlichen gegenüber aufgerichtet hat: Durch die Evolutionstheorie scheint die Schöpfungslehre überholt, durch die Erkenntnisse über den Ursprung des Menschen die Erbsündenlehre; die kritische Exegese relativiert die Gestalt Jesu und setzt Fragezeichen gegenüber seinem Sohnesbewusstsein; der Ursprung der Kirche in Jesus erscheint zweifelhaft, und so fort. Die philosophische Grundlage des Christentums ist durch das „Ende der Metaphysik“ problematisch geworden, seine historischen Grundlagen stehen in Folge der modernen historischen Methoden im Zwielicht.

So liegt es auch von daher nahe, die christlichen Inhalte ins Symbolische zurückzunehmen, ihnen keine höhere Wahrheit zuzusprechen als den Mythen der Religionsgeschichte – sie als Weise der religiösen Erfahrung anzusehen, die sich demütig neben andere zu stellen hätte. In diesem Sinn kann man dann – wie es scheint – fortfahren, ein Christ zu bleiben; man bedient sich weiterhin der Ausdrucksformen des Christentums, deren Anspruch freilich von Grund auf verändert ist: Was als Wahrheit verpflichtende Kraft und verlässliche Verheißung für den Menschen gewesen war, wird nun zu einer kulturellen Ausdrucksform des allgemeinen religiösen Empfindens, die uns durch die Zufälle unserer europäischen Herkunft nahe gelegt ist.

Ernst Troeltsch hat zu Beginn dieses Jahrhunderts diesen inneren Rückzug des Christentums aus seinem ursprünglich universalen Anspruch, der nur auf dem Anspruch der Wahrheit gründen konnte, philosophisch und theologisch formuliert. Er war zur Überzeugung von der Unübersteiglichkeit der Kulturen und von der Bindung der Religion an die Kulturen gekommen. Das Christentum ist dann nur die Europa zugewandte Seite des Antlitzes Gottes. Die „individuellen Besonderheiten der Kultur- und Rassenkreise“ und die „Besonderheiten ihrer großen zusammenfassenden Religionsbildungen“ bekommen den Rang einer letzten Instanz: „Wer also will hier wagen, wirklich entscheidende Wertvergleichungen zu machen. Das könnte nur Gott selbst, der diese Verschiedenheiten aus sich entlassen hat.“ Ein Blindgeborener weiß, dass er nicht zum Blindsein geboren ist und wird daher nicht aufhören, nach dem Warum seiner Blindheit und nach einem Weg aus ihr heraus zu fragen. Nur scheinbar hat sich der Mensch mit dem Verdikt abgefunden, dem Eigentlichen gegenüber, auf das es letztlich in unserem Leben ankommt, blind geboren zu sein.

Abschied von der Wahrheit

Der titanische Versuch, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, aus unserem Leben und für unser Leben herauszuholen, was nur möglich ist, zeigt ebenso wie die Ausbrüche eines Kultes der Ekstase, der Selbstüberschreitung und der Selbstzerstörung, dass der Mensch sich bei diesem Urteil nicht bescheidet. Denn wenn er nicht weiß, woher er kommt und wozu er da ist, ist er dann nicht in seinem ganzen Sein ein fehlgeschlagenes Geschöpf? Der scheinbar gleichgültige Abschied von der Wahrheit über Gott und über das Wesentliche unseres Selbst, die scheinbare Zufriedenheit, sich damit nicht mehr befassen zu müssen, täuscht. Der Mensch kann sich nicht damit abfinden, für das Wesentliche ein Blindgeborener zu sein und zu bleiben. Der Abschied von der Wahrheit kann nie endgültig sein.

Weil es so steht, muss die altmodische Frage nach der Wahrheit des Christentums neu gestellt werden, so überflüssig und unbeantwortbar sie vielen erscheinen mag. Aber wie? Zweifellos wird die christliche Theologie die einzelnen Instanzen, die gegen den Wahrheitsanspruch des Christentums im Bereich der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Geschichte aufgerichtet worden sind, sorgsam überprüfen, sich ihnen aussetzen müssen. Zum anderen aber muss sie auch versuchen, eine Gesamtvision der Frage nach dem wahren Wesen des Christentums, nach seiner Stellung in der Geschichte der Religionen und nach seinem Ort in der menschlichen Existenz zu gewinnen. Ich möchte einen Schritt in diese Richtung tun, indem ich die Frage beleuchte, wie in den Ursprungszeiten des Christentums dieses selbst seinen Anspruch im Kosmos der Religionen gesehen hat.

Marcus Terrentius Varro und die Arten der Theologie

Varro unterscheidet demgemäß drei Arten von „Theologie“, wobei er unter Theologie die „ratio“ versteht, „quae de diis explicatur“ – das „Verstehen und Erklären des Göttlichen“, könnten wir übersetzen. Es sind dies die „theologia mythica“, die „theologia civilis“ und die „theologia naturalis“. Mit vier Bestimmungen klärt er dann näher, was unter diesen „Theologien“ zu verstehen sei.

Die erste Bestimmung bezieht sich auf die den drei Theologien zugeordneten Theologen: Die Theologen der mythischen Theologie sind die Dichter, weil sie Gesänge über die Götter verfasst haben und so Gottessänger sind. Die Theologen der physischen (natürlichen) Theologie sind die Philosophen, das heißt die Gelehrten, die Denker, die über die Gewohnheit hinaus nach der Wirklichkeit, der Wahrheit fragen; die Theologen der Ziviltheologie sind die „Völker“, die sich bei ihrer Wahl nicht den Philosophen (nicht der Wahrheit), sondern den Dichtern angeschlossen hatten, ihren poetischen Visionen, ihren Bildern und Gestalten.

Die zweite Bestimmung gilt dem Ort in der Wirklichkeit, dem die betreffende Theologie zugeordnet ist. Da entspricht der mythischen Theologie das Theater, das durchaus einen religiösen, kultischen Rang hatte; die Schauspiele sind nach der herrschenden Meinung auf Weisung der Götter in Rom eingerichtet worden. Der politischen Theologie entspricht die „urbs“, der Raum der natürlichen Theologie aber sei der Kosmos.

Die dritte Bestimmung nennt den Inhalt der drei Theologien: Die mythische Theologie habe als Inhalt die von den Poeten geschaffenen Götterfabeln; die staatliche Theologie den Kult; die natürliche Theologie antworte auf die Frage, wer die Götter seien. Hier lohnt es sich, genauer zuzuhören: „Ob sie – mit Heraklit – aus Feuer sind oder – mit Pythagoras – aus Zahlen oder – mit Epikur – aus Atomen, und so noch anderes, was die Ohren leichter innerhalb der Schulwände ertragen können als draußen auf dem Marktplatz.“ Hier wird ganz deutlich sichtbar, dass diese natürliche Theologie Entmythologisierung, oder besser gesagt: Aufklärung ist, die kritisch hinter den mythischen Schein blickt und ihn naturwissenschaftlich aufgeschlossen löst. Kult und Erkenntnis fallen auseinander. Der Kult bleibt als Sache der politischen Zweckmäßigkeit notwendig; die Erkenntnis wirkt religionszerstörend und sollte daher nicht auf den Marktplatz getragen werden.

Schließlich ist da noch die vierte Bestimmung: Welche Art von Wirklichkeit ist Inhalt der einzelnen Theologien? Varros Antwort lautet: Die natürliche Theologie hat es mit der „Natur der Götter“ zu tun (die es gar nicht gibt), die beiden anderen Theologien handeln von den „divina instituta hominum“ – von den göttlichen Einrichtungen der Menschen. Damit aber ist letztlich der ganze Unterschied reduziert auf den von Physik im antiken Sinn und von Kultreligion andererseits. „Die civilische Theologie hat letztlich keinen Gott, nur ,Religion’; die ,natürliche Theologie’ hat keine Religion, sondern nur eine Gottheit.“ Ja, sie kann gar keine Religion haben, denn ihr Gott ist religiös nicht ansprechbar: Feuer, Zahlen, Atome. So stehen „religio“ (womit wesentlich Kult gemeint ist) und Wirklichkeit, die rationale Erkenntnis der Realität, als zwei getrennte Sphären nebeneinander. Die „religio“ empfängt ihre Rechtfertigung nicht aus der Realität des Göttlichen, sondern aus ihrer politischen Funktion. Sie ist eine Einrichtung, deren der Staat für seine Existenz bedarf. Zweifellos stehen wir hier vor einer Spätphase von Religion, in der die Naivität des Religiösen zerbrochen und damit seine Auflösung eingeleitet ist.

Religion als staatlicher Kultus

Aber die wesentliche Bindung der Religion an die staatliche Gemeinschaft reicht doch viel tiefer. Der Kult ist letztlich eine positive Ordnung, die nicht als solche an der Wahrheitsfrage gemessen werden darf. Während Varro in seiner Zeit, in der der politische Zweck der Religion noch stark genug war, um sie als solche zu rechtfertigen, noch eine eher krude Auffassung von Aufklärung und von Wahrheitslosigkeit des politisch motivierten Kultes vertreten konnte, wird recht bald der Neuplatonismus einen anderen Ausweg aus der Krise suchen, auf den dann Kaiser Julian bei seinem Versuch der Wiederherstellung der römischen Staatsreligion aufbaute: Was die Dichter sagen, sind Bilder, die man nicht physikalisch fassen darf; aber es sind doch Bilder, die das Unaussprechliche für alle jene Menschen ausdrücken, denen der Königsweg der mystischen Einung versagt ist. Obwohl die Bilder als solche nicht wahr sind, werden sie nun doch gerechtfertigt als Annäherungen an das, was immer unaussprechlich bleiben muss.

Damit haben wir vorgegriffen. Denn die neuplatonische Position ist ihrerseits schon eine Reaktion auf die christliche Stellungnahme zur Frage nach der christlichen Kultbegründung und der ihr zugrunde liegenden Ortsbestimmung des Glaubens in der Typologie der Religionen. Kehren wir also zu Augustinus zurück. Wo siedelt er das Christentum in der varronischen Trias der Religionen an? Das Erstaunliche ist, dass er ohne jedes Zögern dem Christentum seinen Platz im Bereich der „physischen Theologie“, im Bereich der philosophischen Aufklärung zuweist. Er steht damit in vollkommener Kontinuität mit den frühesten Theologen des Christentums, den Apologeten des zweiten Jahrhunderts, ja, mit der Ortsbestimmung des Christlichen durch Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefs, die ihrerseits auf der alttestamentlichen Weisheitstheologie beruht und über sie zurückreicht bis in die Verspottung der Götter in den Psalmen.

Das Christentum, eine physikalische Theologie

Das Christentum hat nach dieser Sicht seine Vorläufer und seine innere Vorbereitung in der philosophischen Aufklärung, nicht in den Religionen. Das Christentum beruht nach Augustinus und nach der für ihn maßgebenden biblischen Tradition nicht auf mythischen Bildern und Ahnungen, deren Rechtfertigung schließlich in ihrer politischen Nützlichkeit liegt, sondern es bezieht sich auf jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann. Anders gesagt: Augustinus identifiziert den biblischen Monotheismus mit den philosophischen Einsichten über den Grund der Welt, die sich in verschiedenen Variationen in der antiken Philosophie herausgebildet haben. Dies ist gemeint, wenn das Christentum seit der Areopag-Rede des heiligen Paulus mit dem Anspruch auftritt, die „religio vera“ zu sein. Das will sagen: Der christliche Glaube beruht nicht auf Poesie und Politik, diesen beiden großen Quellen der Religion; er beruht auf Erkenntnis. Er verehrt jenes Sein, das allem Existierenden zugrunde liegt, den „wirklichen Gott“. Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler.

Weil es so ist, weil das Christentum sich als Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit verstand, deswegen musste es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden: nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt, nicht aus einer Art von religiösem Imperialismus heraus, sondern als Wahrheit, die den Schein überflüssig macht. Und eben deshalb muss es in der weiträumigen Toleranz der Polytheismen als unverträglich, ja als religionsfeindlich, als „Atheismus“ erscheinen: Es hielt sich nicht an die Relativität und Austauschbarkeit der Bilder, es störte damit vor allem den politischen Nutzen der Religionen und gefährdete so die Grundlagen des Staates, in dem es nicht Religion unter Religionen, sondern Sieg der Einsicht über die Welt der Religionen sein wollte.

Andererseits hängt mit dieser Ortsbestimmung des Christlichen im Kosmos von Religion und Philosophie auch die Durchschlagskraft des Christentums zusammen. Schon vor dem Auftreten der christlichen Mission hatten gebildete Kreise der Antike in der Figur der „Gottesfürchtigen“ den Anschluss an den jüdischen Glauben gesucht, der ihnen als religiöse Gestalt des philosophischen Monotheismus erschien und so zugleich den Forderungen der Vernunft wie dem religiösen Bedürfnis des Menschen entsprach, auf das die Philosophie allein nicht antworten konnte: Zu einem bloß gedachten Gott betet man nicht. Wenn aber der Gott, den das Denken findet, nun im Innern einer Religion als sprechender und handelnder Gott begegnet, dann sind Denken und Glauben versöhnt.

Die vollkommene, zur Wahrheit durchgestoßene Philosophie

Bei diesem Anschluss an die Synagoge blieb ein unbefriedigender Rest: Der Nichtjude konnte doch immer nur ein Außenstehender sein und nie ganz zugehörig werden. Diese Fessel war im Christentum durch die Gestalt Christi, wie Paulus sie auslegte, gesprengt. Nun erst war der religiöse Monotheismus des Judentums universal geworden und damit die Einheit von Denken und Glauben, die „religio vera“, allen zugänglich. Justin der Philosoph, Justin der Märtyrer (+ 167) kann als symptomatische Figur für diesen Zugang zum Christentum gelten: Er hatte alle Philosophien studiert und schließlich im Christentum die „vera philosophia“ erkannt. Mit seiner Christwerdung hatte er seiner eigenen Überzeugung nach die Philosophie nicht abgelegt, sondern war erst ganz Philosoph geworden. Die Überzeugung, dass das Christentum Philosophie sei, die vollkommene, das heißt zur Wahrheit durchgestoßene Philosophie, blieb noch weit über die Väterzeit hinaus in Geltung. Sie ist im 14. Jahrhundert in der byzantinischen Theologie bei Nikolaus Kabasilas noch ganz selbstverständlich gegenwärtig. Freilich war Philosophie dabei nicht als akademische Disziplin rein theoretischer Natur verstanden, sondern vor allem auch praktisch als die Kunst des rechten Lebens und Sterbens, die jedoch nur im Licht der Wahrheit gelingen kann.

Die Verschmelzung von Aufklärung und Glaube, die sich in der Entwicklung der christlichen Mission und im Aufbau der christlichen Theologie vollzog, brachte freilich auch einschneidende Korrekturen am philosophischen Gottesbild hervor, deren vor allem zwei zu nennen sind. Die erste besteht darin, dass der Gott, dem die Christen glauben und den sie verehren, im Unterschied zu den mythischen und politischen Göttern wirklich „natura Deus“ ist; darin liegt die Deckung mit der philosophischen Aufklärung. Aber gleichzeitig gilt nun: „non tamen omnis natura est Deus“ – „nicht alles, was Natur ist, ist Gott“. Gott ist seiner Natur nach Gott, aber nicht die Natur als solche ist Gott.

Es geschieht eine Trennung zwischen der allumfassenden Natur und dem sie begründenden, ihr Ursprung gebenden Sein. So erst treten nun Physik und Metaphysik deutlich auseinander. Nur der wirkliche Gott, den wir denkend in der Natur erkennen können, wird angebetet. Aber er ist mehr als Natur. Er geht ihr voraus, und sie ist sein Geschöpf. Dieser Trennung von Natur und Gott tritt eine zweite, noch einschneidendere Erkenntnis zur Seite: Zu dem Gott, der Natur, Weltseele oder was auch immer war, hatte man nicht beten können; er war kein „religiöser Gott“, hatten wir festgestellt. Nun aber, so sagt schon der Glaube des Alten Testaments und erst recht der des Neuen Testaments, hat dieser Gott, der der Natur vorausgeht, sich den Menschen zugewandt. Eben weil er nicht bloß Natur ist, ist er kein schweigender Gott. Er ist in die Geschichte eingetreten, dem Menschen entgegengegangen, und so kann der Mensch nun ihm entgegengehen. Er kann sich Gott verbinden, weil Gott sich dem Menschen verbunden hat.

Die Vernünftigkeit und der moralische Ernst des Christentums

Die beiden immer auseinander fallenden Seiten der Religion, die ewig waltende Natur und die Heilsbedürftigkeit des leidenden und ringenden Menschen sind ineinander verbunden. Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, dass die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt. Hier zeigt sich etwas Erstaunliches: Die beiden scheinbar konträren Grundprinzipien des Christentums: Bindung an die Metaphysik und Bindung an die Geschichte bedingen sich gegenseitig und gehören zusammen; sie bilden zusammen die Apologie des Christentums als „religio vera“.

Wenn man demgemäß sagen darf, dass der Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen nicht zuletzt durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde, so ist dem hinzuzufügen, dass ein zweites Motiv gleichbedeutend damit verbunden ist. Es besteht zunächst, ganz allgemein gesagt, im moralischen Ernst des Christentums, den freilich wiederum schon Paulus in Zusammenhang gebracht hatte mit der Vernünftigkeit des christlichen Glaubens: Das, was das Gesetz eigentlich meint, die vom christlichen Glauben ins Licht gestellten wesentlichen Forderungen des einen Gottes an das Leben des Menschen, deckt sich mit dem, was dem Menschen, jedem Menschen, ins Herz eingeschrieben ist, so dass er es als das Gute einsieht, wenn es vor ihn hintritt. Es deckt sich mit dem, was „von Natur gut ist“ (Röm 2,14 f.).

Die Anspielung auf die stoische Moral, auf ihre ethische Interpretation der Natur, ist hier ebenso offenkundig wie in anderen paulinischen Texten, etwa im Philipperbrief: „Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht!“ (4,8). Die grundsätzliche (wenngleich kritische) Einheit mit der philosophischen Aufklärung im Gottesbegriff bestätigt und konkretisiert sich nun in der gleichfalls kritischen Einheit mit der philosophischen Moral. Wie im Bereich des Religiösen das Christentum gerade dadurch die Grenzen philosophischer Schulweisheit überschritt, dass der gedachte Gott als lebendiger Gott begegnete, so gab es auch hier den Überschritt über die ethische Theorie zu gemeinschaftlich gelebter und konkretisierter moralischer Praxis, in der die philosophische Sicht vor allem durch die Konzentrierung aller Moral auf das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe überboten und in reales Handeln übersetzt wurde.

Julian Apostata, Kopist christlicher Sittlichkeit

Das Christentum, könnten wir vereinfachend sagen, überzeugte durch die Verbindung des Glaubens mit der Vernunft und durch die Ausrichtung des Handelns auf die „caritas“, auf die liebende Fürsorge für die Leidenden, Armen und Schwachen, über alle Standesgrenzen hinweg. Dass dies die innere Kraft des Christentums war, kann man wohl am deutlichsten an der Art und Weise sehen, wie Kaiser Julian das Heidentum in erneuerter Form wiederherzustellen versuchte.

Er, der „pontifex maximus“ der wiederhergestellten Religion der alten Götter, richtete nun ein, was es bisher nicht gegeben hatte: eine heidnische Hierarchie mit Priestern und Metropoliten. Die Priester mussten moralische Vorbilder sein; sie sollten Liebe zu Gott (der höchsten Gottheit über den Göttern) und den Nächsten pflegen. Sie waren verpflichtet, Taten der Liebe gegenüber den Armen zu setzen, durften die lasziven Komödien und die erotischen Romane nicht mehr lesen und sollten an den Festtagen über ein philosophisches Argument predigen, um das Volk zu belehren und zu bilden. Teresio Bosco sagt dazu mit Recht, dass der Kaiser auf diese Weise in Wirklichkeit nicht das Heidentum wiederherzustellen, sondern es zu verchristlichen suchte – in einer nun auf den Götterkult umgebogenen Synthese von Aufklärung und Religion.

Rückschauend können wir sagen, dass die Kraft des Christentums, die es zur Weltreligion werden ließ, in seiner Synthese von Vernunft, Glaube und Leben bestand; genau diese Synthese ist in dem Wort von der „religio vera“ zusammenfassend ausgedrückt.

Umso mehr drängt sich die Frage auf: Warum überzeugt diese Synthese heute nicht mehr? Warum gelten heute im Gegenteil Aufklärung und Christentum als einander widersprechend, ja, ausschließend? Was hat sich an der Aufklärung, was am Christentum geändert, dass es so ist? Damals hatte der Neuplatonismus, besonders Porphyrius, der christlichen Synthese eine andere Interpretation des Verhältnisses von Philosophie und Religion entgegengestellt, die sich als philosophische Neubegründung der Religion der Götter verstand. Auf ihr hatte Julian aufgebaut und war gescheitert. Aber heute scheint sich gerade diese andere Form, Religion und Aufklärung in Ausgleich zu bringen, als die dem modernen Bewusstsein angemessenere Weise von Religiosität durchzusetzen. Ihr erster Grundgedanke ist bei Porphyrius so formuliert: „Latet omne verum“ – „die Wahrheit ist verborgen“. Erinnern wir uns an das Elefanten-Gleichnis, das genau von diesem Gedanken bestimmt ist, in dem sich Buddhismus und Neuplatonismus begegnen. Demgemäß gibt es über die Wahrheit, über Gott nur Meinungen, keine Gewissheit.

Verlust der Wahrheit und Toleranzzwang

In der Krise Roms im späten vierten Jahrhundert hat der Senator Symmachus – Gegenbild nun zu Varros Religionstheorie – die neuplatonische Auffassung auf einfache und pragmatische Formeln gebracht, die wir in seiner 384 vor Kaiser Valentinian II. gehaltenen Rede zur Verteidigung des Heidentums und für die Wiederaufstellung der Göttin Victoria im römischen Senat finden können. Ich zitiere nur den entscheidenden und berühmt gewordenen Satz: „Das Gleiche ist es, was alle verehren, eines, das wir denken, dieselben Sterne schauen wir, der Himmel über uns ist eins, dieselbe Welt umfängt uns; was macht es aus, auf welche Art von Klugheit der einzelne die Wahrheit sucht? Man kann nicht auf einem einzigen Weg zu einem so großen Geheimnis gelangen.“

Genau dies sagt heute die Aufklärung: Die Wahrheit als solche kennen wir nicht; in unterschiedlichen Bildern meinen wir doch dasselbe. Ein so großes Geheimnis, das Göttliche, kann nicht auf eine Gestalt festgelegt werden, die alle anderen ausschlösse – auf einen Weg. der alle verpflichtete. Der Wege sind viele, der Bilder viele, alle spiegeln etwas vom Ganzen, und keines ist selbst das Ganze. Dem gehört das Ethos der Toleranz zu, das in jedem ein Stück Wahrheit erkennt, das Eigene nicht höher stellt als das Fremde und sich friedvoll in die vielgestaltige Symphonie des ewig Unzugänglichen einfügt, das sich in Symbolen verhüllt, die doch unsere einzige Möglichkeit zu sein scheinen, irgendwie nach dem Göttlichen zu greifen.

Ist demnach der Anspruch des Christentums, „religio vera“ zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? Muss es von seinem Anspruch heruntersteigen und sich in die neuplatonische oder buddhistische oder hinduistische Sicht von Wahrheit und Symbol einfügen, sich – wie Troeltsch es vorgeschlagen hatte – damit bescheiden, die den Europäern zugewandte Seite des Antlitzes Gottes zu zeigen? Muss es vielleicht sogar einen Schritt weitergehen als Troeltsch, der noch meinte, das Christentum sei die für Europa angemessene Religion, während doch heute gerade Europa an dieser Angemessenheit zweifelt? Dies ist die eigentliche Frage, der sich heute Kirche und Theologie zu stellen haben.

Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage her. Niemand wird erwarten, dass diese grundsätzliche Herausforderung am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends in einem Referat auch nur von ferne abschließend beantwortet wird. Sie kann überhaupt nicht rein theoretisch beantwortet werden, wie denn Religion als das Letztverhalten des Menschen nie nur Theorie ist. Sie verlangt jenes Zusammenspiel von Einsicht und Tun, das die Überzeugungskraft des Christentums der Väter begründete.

Dies bedeutet beileibe nicht, dass man sich dem intellektuellen Anspruch des Problems mit dem Verweis auf den notwendigen Praxisbezug entziehen dürfte. Ich versuche zum Schluss nur einen Ausblick, der die Richtung zeigen könnte. Wir hatten gesehen, dass die ursprüngliche, freilich nie ganz unbestrittene Beziehungseinheit zwischen Aufklärung und Glaube, die schließlich bei Thomas von Aquin auf eine systematische Form gebracht worden war, weniger durch die Entwicklung des Glaubens als vielmehr durch die neuen Schritte der Aufklärung zerrissen worden ist. Als Stationen dieses Auseinandertretens könnte man Descartes, Spinoza, Kant nennen.

Der Versuch einer umfassenden neuen Synthese bei Hegel gibt nicht dem Glauben seinen philosophischen Ort zurück, sondern versucht, ihn ganz in Vernunft umzusetzen und als Glauben aufzuheben. Dieser Absolutheit des Geistes stellt Marx die Einzigkeit der Materie entgegen; Philosophie soll nun ganz auf exakte Wissenschaft zurückgeführt werden. Nur noch exakte wissenschaftliche Erkenntnis ist überhaupt Erkenntnis. Der Gedanke an das Göttliche ist damit abgedankt. Die Ankündigung von Auguste Comte, eines Tages werde es eine Physik des Menschen geben und die bisher der Metaphysik überlassenen großen Fragen würden in Zukunft genauso „positiv“ zu behandeln sein wie alles, was jetzt schon positive Wissenschaft ist, hat in unserem Jahrhundert in den Humanwissenschaften ein beeindruckendes Echo hinterlassen.

Die durch das christliche Denken vollzogene Trennung von Physik und Metaphysik wird immer mehr zurückgenommen. Alles soll wieder „Physik“ werden. Immer mehr hat sich die Evolutionstheorie als der Weg herauskristallisiert, um Metaphysik endlich verschwinden, die „Hypothese Gott“ (Laplace) überflüssig werden zu lassen und eine streng „wissenschaftliche“ Erklärung der Welt zu formulieren. Eine umfassend das Ganze alles Wirklichen erklärende Evolutionstheorie ist zu einer Art „erster Philosophie“ geworden, die sozusagen die eigentliche Grundlage für das aufgeklärte Verständnis der Welt darstellt. Jeder Versuch, andere als die in einer solchen „positiven“ Theorie erarbeiteten Ursachen ins Spiel zu bringen, jeder Versuch von „Metaphysik“ muss als Rückfall hinter die Aufklärung, als Ausstieg aus dem Universalanspruch der Wissenschaft erscheinen.

Damit muss der christliche Gottesgedanke als unwissenschaftlich gelten. Ihm entspricht keine „theologia physica“ mehr: Die einzige „theologia naturalis“ ist in solcher Sicht die Evolutionslehre, und die kennt eben keinen Gott, weder einen Schöpfer im Sinn des Christentums (des Judentums und des Islam), auch keine Weltseele oder innere Triebkraft im Sinn der Stoa. Allenfalls könnte man im Sinn des Buddhismus diese ganze Welt als Schein und das Nichts als das eigentlich Wirkliche betrachten und in diesem Sinn mystische Religionsformen rechtfertigen, die wenigstens mit der Aufklärung nicht direkt konkurrieren.

Ist damit das letzte Wort gesprochen, sind Vernunft und Christentum demnach definitiv voneinander getrennt? Jedenfalls führt an dem Disput über die Reichweite der Evolutionslehre als erster Philosophie und über die Ausschließlichkeit positiver Methode als einziger Weise von Wissenschaft und von Rationalität kein Weg vorbei. Dieser Disput muss daher von beiden Seiten sachlich und hörbereit in Angriff genommen werden, was bisher nur in geringem Maß geschehen ist. Niemand wird die wissenschaftlichen Beweise für die mikroevolutiven Prozesse ernstlich in Zweifel ziehen können. Reinhard Junker und Siegfried Scherer sagen dazu in ihrem kritischen Lehrbuch über die Evolution: „Solche Vorgänge (mikroevolutive Prozesse) sind vielfach aus natürlichen Variations- und Ausbildungsprozessen bekannt. Ihre Erforschung durch die Evolutionsbiologie ergab bedeutende Einsichten in die genial erscheinende Anpassungsfähigkeit lebender Systeme.“ Sie sagen dementsprechend, man könne Ursprungsforschung mit Fug und Recht als die Königsdisziplin der Biologie bezeichnen.

Evolution oder Schöpfung?

Nicht darauf bezieht sich daher die Frage, die ein Gläubiger der modernen Vernunft gegenüber stellen wird, sondern auf die Ausdehnung zu einer „philosophia universalis“, die zur Gesamterklärung des Wirklichen werden will und keine andere Ebene des Denkens mehr übriglassen möchte. Innerhalb der Evolutionslehre selbst deutet sich das Problem an beim Übergang von der Mikro- zur Makroevolution, zu dem Szamarthy und Maynard Smith, beide überzeugte Anhänger einer umfassenden Evolutionstheorie, immerhin erklären: „Es gibt keinen theoretischen Grund, der erwarten lassen würde, dass evolutionäre Linien mit der Zeit an Komplexität zunehmen; es gibt auch keine empirischen Belege, dass dies geschieht.“

Die Frage, die hier zu stellen ist, reicht freilich tiefer: Es geht darum, ob die Evolutionslehre als Universaltheorie alles Wirklichen auftreten darf, über die hinaus weitere Fragen nach Ursprung und Wesen der Dinge nicht mehr zulässig und auch nicht mehr nötig sind oder ob solche Letztfragen nicht doch den Bereich des rein naturwissenschaftlich Erforschbaren überschreiten. Ich möchte die Frage noch konkreter stellen. Ist alles gesagt mit einem Typus von Antworten, wie wir ihn etwa bei Popper in folgender Formulierung finden: „Das Leben, so wie wir es kennen, besteht aus physikalischen ‚Körpern’ (besser aus Prozessen und Strukturen), die Probleme lösen. Das haben die verschiedenen Arten durch die natürliche Auslese ‚gelernt’, das heißt, durch die Methode von Reproduktion plus Variation; eine Methode, die ihrerseits nach der gleichen Methode erlernt wurde. Das ist ein Regress, aber er ist nicht unendlich ...?“ – Ich glaube nicht. Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen lässt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht.

Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (oder mit Popper im Anschluss an Butler aus „luck“ und „cunning“, „glücklicher Zufall“ und „Voraussicht“), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist, oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: „In principio erat Verbum“ – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen.

Diese Letztfrage kann nicht mehr, wie schon gesagt, durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Das von Popper vorgeführte Erklärungsmodell, das in anderen Darstellungen der „ersten Philosophie“ in verschiedenen Variationen wiederkehrt, zeigt, dass die Vernunft gar nicht anders kann, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken (Probleme lösen, Methode erlernen!), womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute „Aufklärung“, und ich denke, dass eine Aufklärung, die diese Option abstreift, allem Anschein zuwider nicht eine Evolution, sondern eine Involution der Aufklärung bedeuten müsste.

Wir hatten vorhin gesehen, dass in der Konzeption der frühen Christenheit die Begriffe von Natur, Mensch, Gott, Ethos und Religion unlösbar ineinander verknotet waren und dass zur Einsichtigkeit des Christentums in der Krise der Götter und in der Krise der antiken Aufklärung gerade diese Verknüpfung beigetragen hatte. Die Orientierung der Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklichkeit überhaupt, das Ethos als Teil dieser Vision und seine konkrete Anwendung unter dem Primat der Liebe verbanden sich miteinander. Primat des Logos und Primat der Liebe erwiesen sich als identisch. Der Logos erschien nicht nur als mathematische Vernunft auf dem Grund aller Dinge, sondern als schöpferische Liebe bis zu dem Punkt hin, dass er Mit-Leiden mit dem Geschöpf wird. Der kosmische Aspekt der Religion, die den Schöpfer in der Macht des Seins verehrt und ihr existentieller Aspekt, die Erlösungsfrage, traten ineinander und wurden ein einziges.

Tatsächlich muss jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur „philosophia universalis“ auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich.

Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als „religio vera“ wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muss sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute – letztlich wie damals – im Tiefsten darin bestehen müssen, dass Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen zusammenfallen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.



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