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Ist der Mensch selbsterlösungsfähig oder erlösungsbedürftig?

8. April 2023 in Kommentar, 3 Lesermeinungen
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Eine Schlüsselfrage für das Schicksal menschlichen Lebens und ganzer Nationen - Ein Gastkommentar von Michael W. Busch aus Wien.


Wien (kath.net)
Kürzlich las ich auf LinkedIn die Aufforderung einer Studentin, an der Umfrage ihrer Masterarbeit teilzunehmen. Darüber stand der Hinweis: „Karma-Punkte sammeln und der Forschung was Gutes tun“. Ich lese diesen Begriff bei vielen Jüngeren zuletzt immer häufiger, glaube aber, dass nur wenige ihn wirklich zu Ende gedacht haben. Die katholische Kirche lehnt dieses Konzept und auch das dazugehörige der Reinkarnation ab, da in ihm kein Platz für Reue und Vergebung bleibt, keine Möglichkeit der Umkehr und des Neuanfangs im menschlichen Leben.

Im Christentum zählt die Geschichte vom verlorenen Sohn und Gottes Barmherzigkeit zu den Schlüsseltexten, genauso wie die des treusorgenden Hirten, der jedem verlorenen Schaf, und sei es noch so weit abgeirrt, unermüdlich hinterhergeht und es wieder zurück in die Herde bringen möchte. Ein persönlicher, uns unendlich liebender und uns im Falle von Reue auch immer wieder entgegenkommender, verzeihender und in die Arme schließender Gott existiert in der deterministischen Karmavorstellung nicht.

Rührt die Faszination für die Vergeltungslogik des Karmas heute daher, dass viele Menschen das Gefühl haben, ihre guten Taten zahlten sich nicht mehr genügend aus, oder wünschen sie sich, den Bösen möge Gerechtigkeit widerverfahren, spätestens im nächsten (irdischen) Leben? Oder kommt darin das Verlangen zum Ausdruck, die Zügel des eigenen Schicksals selbst in der Hand zu halten, alles im Griff und unter Kontrolle haben zu wollen?

Dann wäre die Karmavorstellung nur ein kleines Puzzleteil in der viel größer angelegten Selbstoptimierungstendenz unserer Tage, in der sich Individuen als Modellierer und Glücksschmiede in eigener Sache sehen, als Lustmaximierer und Leidminimierer, die ausgeklügelte Geben-Nehmen-Bilanzen der Selbstverwirklichung erstellen, in denen jedes störende Element, zum Beispiel ein kompliziertes oder wenig persönlichen Gewinn versprechendes Gegenüber, rasch als toxisch, dem eigenen Energiehaushalt, der eigenen Aura (oder auch nur dem Konto) schadend eingestuft und gemieden wird. Der andere kann getrost dem eigenen Karma überlassen werden. Schließlich ist jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich. Die Mühen, über den Schmerz, das Leid, die Kränkungen und Verletzungen, die hinter dem Verhalten des Gegenübers stehen, einmal gründlicher nachzudenken inklusive der Reflexion der Defizite des eigenen Verhaltens, bleiben einem dadurch erspart.

Wer von euch ohne Sünde ist …
Jedoch macht sich jeder jeden Tag schuldig, ja indem wir leben, machen wir uns schuldig, wie es Albrecht Goes einmal selbsteinsichtig formulierte. Denn Hand aufs Herz: Wer ist schon vollkommen? Wer ohne Sünde und Schuld? Wer häuft nur gute Taten an? Wer hat eine wirklich weiße Weste vorzuweisen? Wer radikal ehrlich zu sich selbst ist, wer seine Gedanken, Worte, Taten und Unterlassungen im Sinne einer gründlichen Gewissensschau einmal nüchtern-unvoreingenommen durchleuchtet und bewertet, wird schwerlich nur Gutes von sich behaupten können, es sei denn er ist ein Meister der Verdrängung. Nur schlechte Menschen haben ein gutes Gewissen. „Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient“ (Ps. 130, 3-4).

Auch die katholische Kirche geht davon aus, dass wir einmal (spätestens im Jenseits) „Rechenschaft" ablegen müssen, dass böse Taten Folgen haben und im Falle der fehlenden irdischen Abtragung im Purgatorium zu sühnen sind. Im Mittelalter kam dies im Bild der Seelenwaage, z.B. bei Rogier van der Weyden malerisch dargestellt, zum Ausdruck. Beim persönlichen Gericht unmittelbar nach dem irdischen Tod und am Jüngsten Tag werden hierbei die guten gegen die schlechten Lebenstaten abgewogen. Ebenso gibt es im Evangelium eine Froh- und eine Drohbotschaft.

Der Jesuit Pater Ambrosio Cattaneo sprach vom rechten Auge Gottes, der Barmherzigkeit, die dem reuigen Schächer an der Seite Jesu zuteilwurde, und dem linken Auge Gottes, der Gerechtigkeit, die dem spottenden Schächer widerfuhr. Das ist aber etwas völlig anderes als die kalte, gesetzesmäßig funktionierende und daher nicht zu durchbrechende Ursache-Wirkungs-Kette des Karmas, die im Übrigen ebenso für den positiven Bereich gilt, aber auch hier zu kurz greift, denn „umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben“ (Mt. 10, 8).

Wir sollten eigentlich immer darum bestrebt sein, ohne Berechnung zu geben, da ja auch wir durch unseren Schöpfer unsere guten Gedanken, unsere Gesundheit, ja unser gesamtes Leben geschenkt bekommen haben. Beim unter der Erbsünde stehenden Menschen, der anfällig für Versuchungen, Süchte und Sünden ist, stellt dies natürlich kein einfaches Unterfangen dar, da sich in jede seiner Äußerungen eine Spur von Egoismus beimischen kann. Sein Verstand macht ihn zu einem kalkulierenden, eigennutzmaximierenden Wesen, das fortwährend Zweck und Mittel abwägt. Die heute überdominante ökonomische Logik verstärkt nur diese natürliche, aber nicht der ursprünglichen paradiesischen Ordnung entsprechende Tendenz.

Die Kraft, die aus Reue, Umkehr und Vergebung erwächst
Doch nicht nur in der Karmavorstellung ist kein Platz für Vergebung, auch die Medien bzw. die dahinterstehenden Menschen können heute nur sehr schwer vergeben. Wer hier einmal gegen den aus ihrer Sicht als „moralisch überlegen“ betrachteten Mainstream verstoßen hat und es wagte, politisch inkorrekte „Wahrheiten“ auszusprechen, die dem eigenen Absolutheitsanspruch zuwider laufen (ob im ideologisch überfrachteten Bildungs-, Migrations-, Energieversorgungs- oder Klimabereich, von der sexuellen Orientierung wollen wir gar nicht sprechen), der wird rasch an den Pranger gestellt und nicht selten dauerhaft zum Paria abgestempelt, wird zum Gemiedenen und Verpönten, dem die Gesellschaft keine Plattform mehr bieten (Deplatforming, Cancel Culture), keine Chance auf einen Neuanfang mehr einräumen darf, es sei denn, er setzt sich einer tränenreichen und demütigenden, medial inszenierten, alle noch so unschönen Details offenlegenden Beichte in der Öffentlichkeit aus und „bekehrt“ sich theatralisch wieder zum Mainstream, besser gesagt: zur veröffentlichten Meinung (die ja bekanntlich etwas anderes als die öffentliche Meinung darstellt).

Wie echt dann die hierbei zum Ausdruck gebrachten Gefühle sind und ob sie nicht eher kommerziellen Zwecken, sprich der Erhöhung des eigenen Kontostandes und der Erhaltung der eigenen Karrierechancen dienen, kann zurecht gefragt werden. Vergebung ist hier allerdings mehr Show, mehr Illusion, denn wir können uns nicht selbst vergeben, können uns nicht selbst die Absolution erteilen und die Schuld erlassen. Nur Baron Münchhausen war laut eigenen Angaben in der Lage, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen.

In letzter Konsequenz kann nur Gott vergeben, nach katholischer Lehre vertreten durch seine kirchlichen Diener auf Erden als direkte Nachfolger Christi. Indem er uns in der (nicht-öffentlichen) Beichte trotz all unserer Unzulänglichkeiten immer wieder die Chance eines Neuanfangs gewährt, befähigt und ermutigt er auch uns, einander im Alltag zu verzeihen, uns zu versöhnen, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und niemandem etwas nachzutragen. Aus der Vergebungsbereitschaft Gottes erwächst erst unsere eigene Vergebungsbereitschaft. „Der Mensch ist nie so schön, als wenn er um Verzeihung bittet oder selber verzeiht“, sagte Jean Paul. Ohne Vergebung wäre auf Dauer kein menschliches Miteinander möglich, würde das (Zusammen)Leben nicht funktionieren. Dazu sündigen wir alle viel zu häufig.

Es ist nicht so, dass die Bibel den Zusammenhang zwischen Schuld und Sühne leugnet, doch bildet im Reuefall die Vergebung der Sünden durch den Allerhöchsten eine Möglichkeit, die im fernöstlichen Denken fehlt. Zum Ausdruck kommt dieser Gedanke im Gleichnis vom Schuldknecht (Mt. 18, 21-35), aber auch in der Geschichte von der Heilung des Blinden. Jesus weist dabei die von den Jüngern vorgebrachte Frage zurück, ob er oder seine Eltern gesündigt hätten (Joh. 9, 1-3). Damit wird auch der reine Karmagedanke zurückgewiesen. Im Endergebnis ist Karma eine radikale Form der Selbstbestimmung. Wir bleiben einzig auf uns selbst verwiesen und ernten exakt das, was wir ausgesät haben.

Böse Taten führen zu Strafen, gute zu Belohnungen, das eine zum Abstieg, das andere zum Aufstieg der Seele – bis zu ihrer Befreiung aus dem schier endlos währenden Kreislauf aus Geburt und Wiedergeburt (Samsara): ihrer Auslöschung bzw. ihrem Aufgehen im Nirwana. Die Bibel erzählt da anderes. Es sind nicht selten die besonders schuldig Gewordenen, denen nach ihrer Umkehr eine Schlüsselrolle zukommt, weil sie in viel stärkerem Ausmaß lieben können (vgl. Lk. 7, 47). Zwei Mörder, einer im Alten Testament und einer im Neuen Testament, wurden zu entscheidenden Dienern und Wegbereitern Gottes: Moses und Paulus. Der eine führte die Kinder Israels durch die Wüste ins gelobte Land, befreite sie aus der Knechtschaft Ägyptens.

Der anderer verkündete die frohe Botschaft Christi den Heidenvölkern, befreite sie aus der Knechtschaft dämonischer Kräfte. Weder Moses noch Paulus vertrauten jedoch auf sich selbst. Beide waren im Übrigen auch keine glänzenden Redner (2. Mose 4, 10; 2. Kor. 10, 10). Aber Gottes Geist war mächtig in ihnen und sie ließen sich von diesem leiten, setzten ihr ganzes Vertrauen auf ihn.

Neognostische Selbsterlösungsversprechungen
Und hiermit nähern wir uns nun endlich dem eigentlichen Kern dieses Beitrags. Gnostische und auch neognostische Vorstellungen gehen von der Fähigkeit des Menschen zur Selbsterlösung aus. Sie treten heute in mannigfaltigen Ausformungen esoterischer Lehren, fernöstlicher oder anthroposophisch-theosophisch angehauchter Ideensysteme in Erscheinung. Wer bestimmte (Gedanken)Techniken anwendet, ein bestimmtes Verhalten, Rituale oder eine besondere Ernährung praktiziert, dem wird Selbsterlösung, ja Selbsterleuchtung versprochen.

Die meisten esoterischen Ansätze laufen darauf hinaus, dass die Erlösung der menschlichen Seele auf reiner Selbstbestimmung basiert. Werde, der du bist! Du hast schon alles in dir und musst es nur zur Entfaltung bringen, ähnlich der Eichel, die zum Eichenbaum wird! Lass dich von niemandem hindern! Du stehst dir nur selbst im Weg! Beseitige alle inneren Blockaden! Du selbst bist der Meister des Universums, Herr über dein Schicksal, wenn du dies nur wirklich willst! Yoga, Meditation, Atemübungen, autogenes Training, das innere Team oder der innere Garten, „Engel“- und Energiearbeit, Reiki, Auratherapie, Horoskoperstellung, Channeling, Chakrenlehre, Therapien der unterschiedlichsten Art (von der Hypnotherapie über die Familienaufstellung bis hin zur klassischen Verhaltens- oder Gesprächstherapie) und viele andere Techniken, nicht selten okkulte Praktiken, sollen dabei helfen, das eigene Potenzial zu erkennen und voll auszuschöpfen.


Auch Scientology verspricht dies durch entsprechend teuer zu bezahlende Auditing-Sitzungen. Dianetik: Sie nutzen nur 10% Ihres geistigen Potenzials. Wir zeigen Ihnen, wie Sie die restlichen 90% aktivieren. Das Selbsthilfeangebot auf dem Markt ist unüberschaubar geworden. Ein Blick in die Esoterikecke einer Buchhandlung genügt, um sich hierüber im Klaren zu werden. Gemeinsam ist all diesen Techniken die ursprüngliche Versprechung der Schlange im Paradies: Esst vom Baum der Erkenntnis und ihr werdet sein wie Gott! Von der Frucht im Garten Eden zu essen, hatte Gott jedoch verboten. Das einzige damalige Verbot. Später, nach dem Sündenfall, kamen dann die zehn Gebote, die gleich an erster Stelle die Ausrichtung auf Gott allein empfehlen und vor jeglichem Götzendienst warnen.

Homo Deus oder Homo religiosus? Selbsterlösungsfähig oder erlösungsbedürftig?
Bin ich selbsterlösungsfähig oder erlösungsbedürftig? Das ist die Kernfrage, die sich in jedem menschlichen Leben stellt, das ist das Spannungsfeld, das die gesamte Geschichte der Menschheit durchzieht, besonders aber die Moderne, in der sich der Mensch zunehmend vom erlösungsbedürftigen zum selberlösungsfähigen, vom vermeintlich fremd- zum selbstbestimmten Wesen, ja zum „Homo Deus“ (Yuval Noah Harari) weiterentwickelt. Der moderne Mensch glaubt, sich von Gott emanzipieren, loslösen zu müssen, um wirklich frei zu sein. Aus religiöser Sicht ist natürlich das genaue Gegenteil wahr, stellt die Loslösung von Gott, die Absonderung von ihm (= Sünde) eine Rückentwicklung dar. Kann ich mich selbst retten oder kann ich nur durch Gott gerettet, geheilt und erlöst werden?

Das Christentum leugnet nicht die eminente Bedeutung menschlicher Willensfreiheit, sich für oder gegen Gott, für oder gegen das Gute zu entscheiden. Es betont jedoch den Grundsatz, dass wir, so sehr wir uns auch abmühen und anstrengen, welche Techniken wir hierbei auch immer anwenden, am Ende daran scheitern werden, uns aus eigener Kraft zu erlösen, uns wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Schlussendlich sind wir alle auf die Gnade Gottes, seine unerschöpfliche und unergründliche Barmherzigkeit angewiesen. Dies zu erkennen, stellt eine Lebensaufgabe dar, wobei der Groschen bei dem einen früher, dem anderen später, einem wieder anderen nie fällt. Wenn wir uns nicht wie Odysseus an den Schiffsmast festbinden, wird es uns heutzutage sehr schwer gemacht, nicht dem vielstimmigen Sirenengesang diesseitiger Heilsversprechungen zu erliegen und sei es nur ein ganz klein bisschen, ein kurzes Hinschielen, um unsere Neugier zu befriedigen.

Wir müssen hier unbedingt den Heiligen Geist um die Gabe der Unterscheidung der Geister bitten, denn der Teufel tritt stets im Lichtgewand auf, unauffällig und zunächst hilfsbereit, bevor allmählich seine wahren, zwielichtigen Absichten zum Vorschein kommen. Wenn wir uns unserer prinzipiellen Bedürftigkeit bewusstwerden, unsere geistige Armut erkennen, dann öffnen wir uns damit zugleich der Hilfe von oben, von der guten, vertrauenswürdigen Seite. Dann, erst dann, im Eingeständnis »Herr, sei mir Sünder gnädig!«, im »Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben!«, im »Ich bin schwach, o Herr, sei du stark in mir«, im »Herr sprich nur ein Wort, dann wird meine Seele gesund!« wird uns Beistand zuteil, öffnen sich die Ströme der Gnade, fließt das ewige Gnadenbrünnlein, aber nie wie und wann wir wollen, sondern wie Gott will, wie und wann er glaubt, dass es für unsere Entwicklung am besten ist.

Dein oder mein Wille geschehe?
Wir sollen uns keinem fremden Willen auf Erden unterwerfen, einzig die Unterwerfung unter Gottes Willen, die Ausrichtung unseres Willens auf seinen Willen, seine Gebote, ist nach christlichem Verständnis heilsbringend (wobei die Willensäußerungen unserer Mitmenschen, denen wir uns natürlich nie gänzlich entziehen können, unter diesem Blickwinkel zu bewerten sind). Nur der liebt mich, der den Willen meines Vaters tut, hat Jesus mehrfach betont. Nur dann wird ein Aufstieg unserer Seele auf der Jakobs- bzw. Himmelsleiter wahrscheinlich, wenn wir uns vollkommen in das »Dein Wille geschehe!« ergeben – ein Akt, dem im westlichen Europa heute allerdings nur noch sehr wenige folgen.

Die meisten wollen autonom handeln, wollen selbst über ihr Leben entscheiden und bestimmen, wollen selbst festlegen, was für sie gut und schlecht ist, nicht nur in materieller, sondern auch in relationaler (beziehungsbezogener) und spiritueller Hinsicht. Wohlfühlreligionen, die den eigenen Ohren schmeicheln und das jeweilige Verhalten gutheißen, sind dabei natürlich weitaus beliebter (vgl. 2. Tim. 4, 3-4), als solche, die etwas von einem fordern, womöglich sogar noch Verzicht verlangen, die das eigene Verhalten einschränken oder es wagen, einem bei Verhaltensübertretungen auch noch Schuldgefühle einreden zu wollen. Kaum jemand betrachtet heute die eigene Lebensgestaltung noch mit dem Auge Gottes.

Es ist aus Sicht der meisten auch nicht vermessen, davon überzeugt zu sein, es alleine, aus eigener Kraft, allenfalls noch unter Zuhilfenahme von Mitmenschen, schaffen zu können. Nein, genau das macht eine starke Persönlichkeit aus. Ich kann, darf und soll so sein, wie ich es für mich als richtig erkannt habe: „Life’s not worth a damn till you can shout out I am what I am“ (Gloria Gaynor). „Be yourself no matter what they say“ (Sting). Die in Filmen, der Kunst, Werbung, Mode und Musik geäußerten Sichtweisen unterstützen die Menschen lauthals in dieser Lebensphilosophie: Sei, wie du bist, egal wie du bist! Jeder fühlt in diesem Bestreben die Mehrheit hinter sich. Auf den Schöpfer über uns wird fast nicht mehr gehört, wenn er denn überhaupt noch in seiner Existenz anerkannt wird.

Selbst viele sich noch als gläubig bezeichnende Menschen zögern heute, im wörtlichen und im übertragenen Sinn ihre Knie vor dem Herrn zu beugen, genieren sich in der Öffentlichkeit, über Gott zu reden und dezidiert für ihn Stellung zu beziehen oder trauen sich nicht mehr, sich zum Beispiel durch ein Kreuzzeichen vor einer Mahlzeit zu Gott zu bekennen. Christus hat aber unmissverständlich gesagt: Wer mich nicht vor den Menschen bekennt, den werde auch ich nicht vor dem himmlischen Vater bekennen (Mt. 10, 32).

Die Moderne als schleichender Glaubensabfall und als ständige Suche nach Ersatzgöttern
Das Begriffspaar selbsterlösungsfähig vs. erlösungsbedürftig ist eine Fundamentalunterscheidung, ein zentrales Erklärungsmuster zum Verständnis der Moderne. Max Weber sprach von einer zunehmenden Rationalisierung und Entzauberung der Welt. Mircea Eliade von einer Desakralisierung des Kosmos, einer Aufhebung der Trennung von Heiligem und Profanem. Albert Schweitzer vom Verlust der Ehrfurcht vor dem Leben.

Hans Sedlmayr vom Verlust der Mitte in der Kunst. Immer geht es seit der Reformation und Kants Aufbruch aus der selbst(!)verschuldeten Unmündigkeit um die spannungsgeladene Frage: Vertrauen wir auf unsere Fähigkeiten oder auf Gottes Führung? Auf eigene Lebensplanung oder auf göttliche Vorsehung? Auf wissenschaftliche Erkenntnis oder auf göttliche Weisheit, die erbeten sein will? Folgen wir nur unseren eigenen Vorstellungen von einem guten Leben oder richten wir unser Leben an den Geboten Gottes, den zehn Geboten des Alten Testaments und dem dreifachen Liebesgebot des Neuen Testaments, aus?

Der gesamte Verlauf der Moderne ist eigentlich dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch – unter Verwendung immer wieder anderer Mittel und Anstrebung wechselnder (diesseitiger) Ziele – glaubt, sich selbst erlösen zu können. Sei es im 19. und 20. Jahrhundert durch die Idee der Nation und des technischen Fortschritts, sei es heute durch die Idee eines supranationalen Gebildes, einer Weltregierung, sei es durch eine übertriebene Wissenschaftsgläubigkeit oder aktuell durch die Verheißungen künstlicher Intelligenz. Immer wieder versucht der Menschen den Turmbau zu Babel, immer wieder glaubt er, das verlorene Paradies auf Erden wiedererrichten zu können.

Doch die Rückkehr zum Garten Eden ist versperrt. Bisher sind in der Geschichte noch sämtliche diesseitigen Heilsversprechungen uneingelöst geblieben, ja krachend gescheitert. Ob es die Idee der klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus oder die Idee des freien Marktes im Liberalismus war. Karl Raimund Popper hat in seinem wieder sehr aktuellen Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) jeder Ideologie eine klare Absage erteilt, jeden -ismus (Nationalismus, Sozialismus, Empirismus, Positivismus) als ein auf kurz oder lang zum Scheitern verurteiltes Unterfangen bezeichnet.

„Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition.“ Dies gilt auch für die diesseitigen technologischen Visionen der Silicon Valley-Fantasten, deren propagierte „schöne neue Welt“ (Aldous Huxley) am Ende wahrscheinlich nur auf eine gewaltige Ungleichverteilung von Einfluss und Einkommen hinausläuft. Fest steht: Das Paradies ist im Jenseits, ist ein himmlisches Versprechen, niemals im Diesseits herstellbar, auch wenn uns dies Politiker als „Verkäufer von Hoffnung“ (Napoleon) immer wieder glauben machen wollen. Entsprechend gibt es auch kein vollkommenes politisches System. Jedes System weist spezifische Schwächen auf.

Von Winston Churchill stammt das bekannte Zitat: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen.“ In eine ähnliche Richtung weisen Lord Actons Aussprüche: „Das Problem ist nicht, dass eine bestimmte Klasse unfähig ist, zu regieren, sondern dass alle Klassen unfähig sind, zu regieren.“ Und: „Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Die einzige Lösung dieses Dilemmas besteht daher in der Begrenzung der Amtszeit von Politikern und der Installation eines effektiven Systems der Gewaltenteilung, der Checks and Balances. Macht muss immer Gegenmacht spüren, um nicht übermächtig – hochmütig, abgehoben, arrogant, selbstherrlich und gefährlich zu werden.

Jenseits von Gut und Böse
Eines der Hauptprobleme, wenn sich der Mensch zum Maß aller Dinge macht und Regeln des Zusammenlebens reines Menschenwerk bilden (Rechtspositivismus), das heißt wenn sich menschliches Handeln und gesellschaftliche Gesetze nicht mehr am Naturrecht bzw. den göttlichen Geboten orientieren, besteht in der Preisgabe der Unterscheidung von Gut und Böse, genauer gesagt: Ihre Definition wird abhängig vom jeweiligen Zeitgeist. Alles wird damit relativ: Abhängig von schwankenden Mehrheiten, sich ändernden wissenschaftlichen Erkenntnissen, aktuellen Strömungen und Stimmungen. Was heute gut, kann morgen böse, was heute böse, morgen gut sein.

Wenn aber die Bezeichnungen Gut und Böse relativ werden, wenn es keinen archimedischen Punkt mehr gibt, von dem aus eine korrekte Einordung möglich ist, dann werden die Begriffe Gut und Böse im Grunde überflüssig. Ein Urteilen ist dann nicht mehr möglich. Die Schuldfrage lässt sich nicht mehr klären. Auch Irrlehren und Häresien kann es dann nicht mehr geben. Alles vermischt sich. Zudem kann jeder Gedanke, jede Handlung nach dieser Lesart gut sein, es kommt nur auf die Sichtweise an, auf den Standpunkt, von dem aus die Betrachtung erfolgt. Dies ist sicherlich der gefährlichste und bedenklichste Aspekt der Relativierung von Gut und Böse! Aus religiöser Sicht bleibt das Gute gut und das Böse böse. Der Urmeter steht. Der Goldstandard bleibt. Die Gebote sind in Stein gemeißelt.

Deswegen muss die Religion zwangsweise mit dem Zeitgeist in Konflikt geraten, sobald dieser versucht, die ursprüngliche Ordnung zu verwässern, die dogmatische Strenge aufzuweichen. In der Religion ist es eindeutig: Das Gute kommt von der hellen Seite (Gott), das Böse von der dunklen Seite (dem Teufel und seinen dämonischen Helfershelfern). Ich will das relativistische Argument bewusst und provokant einmal auf die Spitze treiben. Der Holocaust war abgrundtief böse, hat gezeigt, wozu der Mensch fähig ist, wenn er Bürokratie und Arbeitsteilung, Technologie und Ideologie zu schändlichen Zwecken missbraucht. Er kann die Hölle auf Erden schaffen, womit sich der Holocaust auch als indirekter „Beweis“ für die Existenz einer jenseitigen Hölle heranziehen lässt.

Von einem relativistischen Standpunkt könnte man aber genauso gut argumentieren, dass der Holocaust auch seine gute Seite hatte, weil durch ihn die Entstehung des Staates Israel entscheidend beeinflusst und vorangetrieben wurde. Hierbei handelt es sich um das falsche Argument des Mephistopheles aus Goethes Faust: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Wie leicht zu erkennen ist, ist diese Sicht auf die Dinge unbedingt abzulehnen, denn Schlächter bleiben Schlächter. Es ist eher so, dass Gott aus dem Bösen, das die Menschen begehen, durch seine unendliche Gnade und seinen weisen Ratschluss doch noch Gutes hervorzubringen vermag.

Der Mensch denkt, Gott lenkt
Selbst „Kant sah den Menschen immer als ein »krummes Holz« an. Er verfiel nie der Vorstellung, der Mensch sei mit Fähigkeiten ausgestattet, um in ewigem Frieden zu leben. Vielmehr betrachtete er ihn als ein ambivalentes Wesen, das sich einerseits als freiheitsbegabt offenbart und andererseits als miserable Kreatur. Permanent in Konflikt mit sich selbst und anderen, muss der Mensch ständig gegen das Böse ankämpfen, das in ihm lauert (…) Das heißt, die menschliche Natur in ihrer grundsätzlichen Beschaffenheit ist so, dass sie in einer Situation wie beispielsweise im heutigen Westeuropa, wo niemand vor Hunger auf der Straße stirbt, ihren wölfischen Part nicht offenlegt. Das kann sich aber im Fall einer radikalen Verschärfung der sozialen Lage, eines brisanten ökologischen Notstandes oder gar eines Krieges unvermittelt ändern“ (Reinhard Brandt).

Doch auch aus dem krummen menschlichen Holz und aus den krummen menschlichen Wegen kann Gott noch gerade Linien ziehen, kann aus dem Kreuzweg einen Königsweg machen, aus dem Tod die Auferstehung hervorgehen lassen, aus der Dornenkrone die Himmelskrone flechten. Dies zeigt sich besonders in der alttestamentarischen Josefsgeschichte, in der der verkaufte Josef später zum Retter seines in Hungersnot geratenen Volkes wird. „Ihr habt Böses gegen mich im Sinne gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am Leben zu erhalten“ (Genesis 50, 20).

Die Josefsgeschichte enthält im Kleinen bereits, was die Geschichte Jesu im Großen offenbart. Der Baustein, den die Bauleute (das heißt die bösen Menschen) verworfen haben, ist (durch Gottes gutes Zutun) zum Eckstein geworden, zur möglichen Erlösung für alle Menschen, die guten Willens sind. Jesu Lehre und sein Vorbild haben den Weg in den Himmel gewiesen, ja erst Jesus hat das Himmelstor für alle Menschen aufgestoßen, indem er die Erbsünde der Menschen wiedergutgemacht hat (was nicht heißt, dass die Menschen nach Christi Geburt nicht weiterhin der Erbsünde – Versuchungen und Selbsterlösungsfantasien – unterworfen bleiben; es gibt keinen Freifahrtschein in den Himmel).

Gott als Vater, Hirte, Töpfer und Gärtner
Goethe, Schiller und andere Geistesgrößen mochten die Botschaft Kants nicht, bevorzugten ein anderes, vermeintlich freieres, selbstbestimmteres Menschenbild. Das Bild des sündenanfälligen Menschen kratzte an ihrem Selbstwertgefühl. Es ist aber nicht so, dass das Christentum beim Menschen einem Minderwertigkeitskomplex das Wort redet. Wir müssen uns unser Verhältnis zu Gott eher wie das eines Kindes zu seinen Eltern vorstellen. Die Eltern helfen dem Kind, für das irdische Leben zu reifen. Gott hilft uns, für das himmlische Leben zu reifen. Der eine Prozess währt ca. 21 Jahre, der andere ein ganzes menschliches Leben. Im einen geht es um die Entwicklung von Diesseits-, im anderen um die Entwicklung von Jenseitstauglichkeit, wobei der für den Himmel Reifende automatisch auch für die Erde und seine Mitmenschen den größten Nutzen bringt. Eltern wissen, wie mühsam es oft ist, Kindern Dinge beizubringen, die sie nicht wollen, die aber dennoch gut für sie sind (z.B. weniger Süßigkeiten und mehr Gemüse zu essen, weniger fernzusehen und mehr zu lesen oder sich mehr zu bewegen, Schulaufgaben zu machen, anstatt zu spielen).

Würde deswegen jemand behaupten, das Kind sei schlecht oder die Eltern hassten ihr Kind? So sollten wir uns auch Gottes Geduld und Liebe vorstellen, wenn er uns Dinge versagt, uns mit Schwierigkeiten konfrontiert und mit seinem Wort unermüdlich ermahnt, indem er bestimmte Verhaltensweisen empfiehlt, andere hingegen verbietet. Er will uns nichts Böses damit tun oder unseren Willen brechen, sondern unsere Persönlichkeitsentwicklung fördern. Jeder Baum muss geschnitten und damit verletzt werden, damit er sich formschön entwickeln und später reiche Frucht tragen kann. So auch der menschliche Lebensbaum. Gott ist nicht nur der gute Hirte, der uns nachgeht, wenn wir vom Weg in Richtung Himmel abkommen, sondern auch der Gärtner, der uns hegt und pflegt, damit wir auf dem Weg bleiben.

Er ist der Töpfer, der uns zu einem Kunstwerk formen möchte, doch müssen wir seine sorgende Hand walten lassen, müssen Gottes stilles Wirken in unserem Leben erlauschen und annehmen, aber auch stetig um Gottes gute Führung bitten, so wie Johannes Paul II. täglich das Gebet zum Heiligen Geist gesprochen haben soll, das kurz gesagt heißt: Gib mir immer ein, was ich denken, sagen und wie ich mich verhalten soll, damit ich die Ehre Gottes mehre und das Wohl der menschlichen Seelen fördere.

Der synodale Weg als anmaßendes Menschenwerk
Der synodale Weg des gegenwärtigen deutschen Katholizismus will selber Töpfer spielen, will selber bestimmen, was für die Kirche und den Menschen gut ist. Damit ist er anmaßendes Menschenwerk, nicht demütiges Werk an und für Gott. Er leugnet die Bedürftigkeit des Menschen und preist die Errungenschaften alternativer menschlicher Lebensentwürfe. Jeder darf und soll so sein, wie er sein will. Hier hat uns niemand, selbst Gott nicht, dreinzureden. Von diesem akzeptieren wir nur noch das, was in unsere Zeit passt, schließlich haben wir uns als Menschen und Gesellschaft ja weiterentwickelt und dem hat auch die Kirche Rechnung zu tragen. Die kirchliche Lehre ist nicht mehr der Fels in der Brandung, an dem sich der Zeitgeist bricht, sondern das pilgernde Volk, das sich dem Zeitgeist anzupassen hat.

Wenn sich der Mensch zum Maß aller Dinge macht, sein Maß nicht mehr an Gottes Wort, seinen Geboten, den Traditionen und dem Erbe von Heiligen und Kirchenvätern ausrichtet, vermisst sich der Mensch, verfälscht, verwässert und verwirrt er. Die klare Linie geht verloren. Alles wird durcheinandergeworfen. Die „Diktatur des Relativismus“ (Benedikt XVI.) greift um sich. Niemand weiß mehr, was oben oder unten, rechts oder links, wahr oder falsch ist. Das ist wahrhaft teuflisch: Diabolus – der große Verwirrer und Entmutiger.

Wenn der Mensch glaubt, alles auf eigene Faust bewerkstelligen, die Lösung für sämtliche drängenden Probleme im Alleingang finden zu können, so kommen dabei aufgeblasene, keine erhabenen, illusorische, keine realistischen Gedanken, kurzfristige Lösungen, aber keine von längerem Bestand heraus. Entweder mündet das Drehen des Menschen um die eigene Achse im Tanz um das goldene Kalb, in der Anbetung rein materiell-diesseitiger Götzen (z.B. Vergnügungssucht, übertriebenes Geld- und Geltungsstreben), oder im Turmbau zu Babel, der Anmaßung, gottgleich zu sein. Aber dem donnert der Erzengel Michael, der den Teufel und sein Heerscharen in die Hölle stürzte, seinen Namen entgegen: Wer ist wie Gott?

Nietzsche hat es etwas pragmatischer ausgedrückt: Ohne Unterleib würde sich der Mensch aufgrund seines Denkens und seiner Leistungen rasch als Gott dünken. Ein Körnchen Wahrheit steckt ja auch darin: Jeder Mensch ist Abbild Gottes, trägt in sich den göttlichen, schöpferischen Funken. Die Frage ist, ob er damit nur vor anderen glänzen oder ob er diesen für andere zum Leuchten bringen möchte. Von Swedenborg stammt die interessante Bewertung von Theologen, die nur vom Kopf, nicht aber auch vom Herzen her glauben, die den Verstand über-, das Gefühl, die seelischen Empfindungen hingegen unterbetonen: Sie sind wie die Wintersonne, die zwar strahlt, aber nicht wärmt.

Kopf und Herz sind nach Balthasar Gracian die Spannweite menschlichen Handelns, die beiden Pole der Sonne unserer Fähigkeiten. Eines ohne das andere ist halbes Glück. Verstand reicht nicht aus, es braucht auch das Gemüt. Am Ende aber dürfen weder Kopf noch Herz an höchster Stelle stehen. Diese gebührt Gott allein, in allem: In unserem Denken und Handeln, in Freizeit und Arbeit. „Sagt niemals »Mein Gott!« zum Werk eurer Hände“. Dann doch besser dem Rat aus Schillers Glocke folgen: „Soll das Werk den Meister loben, doch der Segen kommt von oben“.

Geschichtsvergessenheit und Traditionsaufgabe
Es kommt mit der Überbewertung der eigenen Person und der Vergötzung des eigenen Werks zumeist noch eine andere Hybris zu Tage, die sich auch im synodalen Weg zeigt. Die Hybris, nur noch die von der jetzigen Generation hervorgebrachten Leistungen zu sehen, nur noch die gegenwärtigen Vorstellungen anzuerkennen und alles Vergangene herabzuwürdigen. Es hat sich in unserer Zeit eine seltsame Geschichtsvergessenheit und auch ein deutlicher Verlust an Allgemeinbildung breit gemacht, obwohl all unser Wohlstand, all unsere Erkenntnisse auf den Schultern der Leistungen vergangener Generationen ruhen.

Es ist eine ungute Tendenz, sämtliche Traditionen aufzugeben oder verächtlich zu machen. Wer „alte Zöpfe“ abschneidet, sollte bessere Zöpfe vorzuweisen haben, was aber zumeist nicht der Fall ist. Nur wer sich zurück auf den Weg zu den Ursprüngen begibt, kann zur Quelle gelangen, kann frisches Wasser schöpfen. »Zukunft braucht Herkunft« hat es der Philosoph Odo Marquard auf treffliche Weise formuliert. Wer auf die Vergangenheit spuckt, das Wissen und die Weisheit der Ahnen, das heute schneller und umfassender denn je abgerufen werden kann, ignoriert oder verlacht, baut sein Haus auf Sand. Immer wieder etwa hat Benedikt XVI. wie ein einsamer Rufer in der Wüste speziell der deutschsprachigen Theologenschaft zugerufen: Es geht um eine Hermeneutik der Kontinuität, nicht um eine Hermeneutik des Bruchs.

Das Zweite Vatikanische Konzil sollte die „una sancta ecclesia“ nicht abschaffen, sollte keine andere Kirche hervorbringen, sondern die Kirche erneuern, sie wieder zum Strahlen bringen, sollte aus der Verwaltung der Asche ausbrechen und eine Wiederbelebung der Glut bewirken. Traditionen und Rituale dürfen nicht erstarren, das ist klar. Sie sollten aber auch nicht gänzlich aufgegeben werden, sonst droht eine „Häresie der Formlosigkeit“ (Martin Mosebach), wird Gottesdienst zu Menschendienst. Es geht nicht um stupide Wiederholung, sondern um eine stete Wieder- und Neuentdeckung der alten Schätze in Liturgie und Erkenntnis – im Lichte aktueller Einsichten und Entwicklungen.

All das wollten speziell die deutschsprachigen Theologen nicht hören, so wie sie in den Messtexten bis heute die Empfehlung, das „pro omnibus“ in das korrektere „pro multis“ umzuformulieren, nicht umgesetzt haben (beim Hissen der Regenbogenfahne war da manch ein Kirchenvertreter eigenmächtiger und viel schneller zur Stelle). Auch hier geht es wieder um die anfänglich gestellte Schlüsselfrage: Suche ich den Beifall bei den Menschen oder den Beifall bei Gott? Fürchte ich die Zurückweisung von (sozialen) Medien und Politik oder fürchte ich das Urteil des ewigen Richters? Habe ich Furcht vor den Menschen oder Ehrfurcht vor Gott? Wem will ich gefallen? Mir selbst und anderen oder Gott? Wem diene ich? Dem Zeitgeist oder dem Heiligen Geist? Bin ich Humanist oder Theist? Vertraue ich auf mein menschliches Wissen oder auf die göttliche Weisheit?

Zurück in die Zukunft
Die Vorstellung der Selbsterlösungsfähigkeit ist nicht von heute auf morgen in das kollektive Gedächtnis der Moderne eingedrungen. Wir reden hier nicht von Jahren, auch nicht von Jahrzehnten, sondern von Jahrhunderten. Vom Investiturstreit über die Reformation, die Französische Revolution, die Aufklärung und den deutschen Idealismus bis hin zu der 68er-Bewegung hat sich die Abwendung von Gott und die Hinwendung zum Glauben an die autonome Heilsgestaltung langsam und schleichend vollzogen. Man soll daher nicht glauben, dass die Umkehr schlagartig erfolgen wird. Hierzu muss es um die vielen Entmythologisierer, 68er und zu diesseitig geprägten Befreiungstheologen und Heilsverkünder erst einmal stiller werden.

Es muss offenbar werden, dass ihre Hände leer sind. Danach wird es – die Krisis, der Wendepunkt, das Zerplatzen ideologischer Blasen zeichnet sich aktuell deutlich ab – langsam, aber sicher wieder bergauf gehen. Wir erleben gegenwärtig nicht das Zeitenende, sondern eine große Zeitenwende. Zuvor müssen aber auch noch die Heilsversprechen der Silicon Valley-Fantasten scheitern: der Glaube, dass uns künstliche Intelligenz, Sozialkreditsystem, bedingungsloses Grundeinkommen oder digitale Währung erlösen werden. Ebenso wenig kann uns auch ein „gerettetes“ Klima nicht erlösen, sondern einzig die Rückbesinnung auf die Gebote Gottes, die die Bewahrung der Schöpfung, das Leben im Einklang mit der Natur, die Eindämmung von Egoismus und materieller Gier mit einschließt.

Früher wären Umbruchszeiten, wie wir sie aktuell erleben, wären das Auftreten von Seuchen, Naturkatastrophen und Kriegen nie als Probleme gedeutet worden, die durch den Menschen allein gelöst werden können, sondern als Zeichen Gottes, Buße zu tun und sich abzuwenden von allem bösen Treiben, aller übertriebenen Vergnügungs- und Geltungssucht. Wir erleben gegenwärtig eine große Vertrauenskrise. Das Vertrauen in die Politik, Wirtschaft, Banken, Wissenschaft und leider auch die Kirche ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Die eigentliche Krise ist aber die Gottvertrauenskrise, dass wir Gott nichts mehr zutrauen, ihm nicht mehr zugestehen, alles zum Guten wenden zu können.

Auch der digitale und klimatische Turmbau zu Babel wird am Ende seine Unzulänglichkeiten offenbaren, wenn er ausschließlich auf menschliches Wissen setzt. Ob wir selbst es erleben werden, lässt sich nicht sagen. Was ist schon ein menschliches Leben angesichts solch langen Zyklen, die weit über die Kondratieffschen Zyklen, welche durch die Erfindung von Schlüsseltechnologien wie Eisenbahn, Strom, Automobil oder Computer ausgelöst werden, hinausgehen. Vor Gott sind tausend Jahre nach menschlicher Zeitrechnung nur ein Tag.

Wer nur den lieben Gott lässt walten
Die Entscheidung in unserem kurzen eigenen Leben bleibt aber: Setze ich mein Vertrauen allein auf mich oder auf Gott? Wir müssen uns selbst disziplinieren und ernsthaft bemühen, das steht außer Frage, doch sollten wir im Hintergrund immer von dem Wissen durchdrungen sein, dass wir allein es nicht schaffen können. Zwei Liedstrophen sollen diese Ausführungen zum Abschluss bringen. In ihnen finden sich die vorgebrachten Grundgedanken auf wunderbare Weise gebündelt. Ich wünsche allen von Herzen, dass wir wieder zu diesem Gottvertrauen gelangen, denn je größer unser Vertrauen in Gott ist, desto reichlicher fließen seine Ströme der Barmherzigkeit, wie es Jesus Schwester Faustyna Kowalska geoffenbart hat. Nur so lassen sich die anstehenden Krisen lösen, nicht mit der trostlosen Verkündung, die letzte Generation zu sein.

„Wer nur den lieben Gott lässt walten, und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“ (Georg Neumark)

„Dem Herren musst du trauen, wenn dir’s soll wohlergehn; auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll bestehn. Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen: es muss erbeten sein (…) Ihn, ihn lass tun und walten! Er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.“ (Paul Gerhardt)

Egal, wie holprig unser Leben verläuft, auf wie viele Ab-, Irr- und Umwege wir geraten und wie oft wir fallen und sündigen, wir können gewiss sein, dass Gott bei denen, die ihn mit ungeteiltem Herzen lieben und sich redlich bemühen, seinen Geboten zu folgen, und wenn sie noch so oft, praktisch täglich, daran scheitern, am Ende alles zum Guten führt. Euch geschehe nach eurem Glauben in Gottes Barmherzigkeit, seine Kraft und seine vorsehende Führung, nicht nach eurem Glauben an euch selbst und eure ach so großen Fähigkeiten.

Wer nach Selbsterlösung strebt, wird sich im Labyrinth seines Egos verlaufen. Selbsterleuchtung ist nur allzu oft eine Form der Selbst(ver)blendung und der Selbsttäuschung. In Gott allein ist Erlösung. Aus Gott allein fließen uns gute Ideen und Kräfte zu. Wir allein schaffen es nicht, aber Gott schafft alles in uns, wenn wir nur genug Vertrauen in ihn entwickeln. Deswegen am besten mehrfach täglich sprechen: „Jesus, ich vertraue auf Dich!“ Du führest mich zu frischem Wasser, weidest mich auf einer grünen Aue und lässt mich zur rechten Zeit Frucht bringen.

Michael W. Busch ist Jahrgang 1972, verheiratet, hat ein Kind, katholisch, derzeit wohnhaft im mittleren Burgenland. Er arbeitet seit 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Management und Leadership Development an der FH Wiener Neustadt, ist promovierter und habilitierter Betriebswirt, studierter Verwaltungswissenschaftler (Universität Konstanz). Seine Forschungen haben sich vor allem auf die Grundlagen erfolgreicher Teamarbeit bezogen. Als Katholik interessieren ihn aber auch in starkem Maße glaubens- und gegenwartsbezogene Fragen.

 


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Lesermeinungen

 Fink 8. April 2023 
 

Viel zu viele (zugegeben wichtige) Themen auf einmal

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Könnte man einen solchen Kommentar nicht aufteilen in mehrere Folgen, und jeden Punkt für sich diskutieren ?
Eine der zentralen Fragen wäre: Was sind die Eintrittsbedingungen in das Himmelreich? (Rechtfertigungslehre von Luther und katholische Gegenposition. Wie lautet diese?).


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 modernchrist 8. April 2023 
 

Sehr schöne Darlegung mit interessanten Gedanken

Zur Reinkarnation: Wie befreiend ist doch die christliche Vorstellung von Tod und Auferstehung: Einmal Sterben reicht völlig! Es ist traurig und schwer genug! Glauben wir an die Worte Jesu an den reumütigen Schächer: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Nicht als Wurm, Baum oder Elefant nochmals ackern auf dieser Erde, die in vielem wirklich ein Jammertal ist. Auch ist unser Gehirn, wenn wir mal echt unter unsere Schädeldecke schauen würden, doch recht klein vom Umfang her - in Anbetracht der immensen Probleme und Verbrechen auf der Welt! Diese Welt könnte sich niemals selbst erlösen und befreien von den vielen Übeln.


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 Uwe Lay 8. April 2023 
 

Gott wirkt nicht allein unsere Erlösung

Nur Luther und die ihm Folgenden lehren, daß Gott allein ohne ein Mitwirken des Menschen erlöse, die Kirche lehrt ein Mitwirken durch das natürliche Vermögen des Menschen. (Die Lehre vom freien Willen)Nebenbei: Die Gnosis kannte auch keine reine Selbsterlösung: Der Mensch muß durch einen Erlöser erlöst werden, aber dabei verhält er sich nicht rein passivisch, wie es auch die Kirche lehrt. Die Differenz zur Gnosis besteht aber darin, daß die Gnosis die Differenz zwischen der guten Schöpfung und der dann gefallenen nicht kennt, sondern die Schöpfung selbst wie alles Materielle als negativ beurteilt.
Uwe Lay Pro Theol Blogspot


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