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Der Prüfstein des Konzils

17. Oktober 2014 in Buchtipp, keine Lesermeinung
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Zur Seligsprechung von Papst Paul VI. eine Leseprobe aus dem Buch „Paul VI. - Ein Papst im Zeichen des Widerspruchs“ von Ulrich Nersinger


Rom (kath.net) Reformen in der liturgischen Praxis der katholischen Kirche sind nicht erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Angriff genommen worden. Es ist Pius XII., der entscheidende Schritte setzt. In der Enzyklika Mediator Dei, die am 20. November 1947 von ihm veröffentlicht wird, findet die Liturgie als gottesdienstlicher Vollzug der Kirche erstmals eine grundlegende Erwähnung und Darstellung. In ihr wird auch die „Liturgische Bewegung“, die zu Anfang des Jahrhunderts entstanden war und zu einem besseren Verständnis der Liturgie und zur „tätigen Teilnahme“ (participatio actuosa) am Gottesdienst beitragen wollte, ausdrücklich genannt – fünf Jahre später wird Pius XII. von ihr sagen: „Die liturgische Bewegung ist gleichsam wie ein Zeichen der göttlichen Vorsehung für die gegenwärtige Zeit, wie ein Hindurchgehen des Heiligen Geistes durch seine Kirche.“

Pius XII. warnt in seiner Enzyklika zwar vor Übertreibungen und Missbrauch, betont aber am Beispiel des Verhältnisses von Kirchenraum und zeitgenössischer Kunst: „Die modernen Bilder und Gestaltungen, die dem Gegenstand, aus dem sie hergestellt werden, angepasster sind, dürfen nicht in Bausch und Bogen und aus vorgefasster Meinung verachtet und verworfen werden. Vermeiden sie vielmehr in weisem Ausgleich sowohl eine bloße Nachahmung der Natur als auch überspitzten ‚Symbolismus’ und tragen sie mehr den Anliegen der christlichen Gemeinschaft als der besonderen Auffassung und persönlichen Einstellung der Künstler Rechnung – dann muss solch moderner Kunst unbedingt die Bahn offenstehen zu gebührend ehrfürchtigem Dienst am Gotteshaus und bei den heiligen Handlungen“.

Im Mai 1948 errichtet Papst Pius XII. eine Kommission für die Liturgiereform. Ihren Vorsitz übernimmt Kardinal Clemente Micara, der Präfekt der Ritenkongregation; zum Sekretär wird auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes der Lazzaristenpater Annibale Bugnini bestellt. So kommt es in den Jahren von 1951 bis 1956 zu einer Neuordnung der gottesdienstlichen Feiern der Karwoche und des Osterfestes – es wird, wie es eine Instruktion der Ritenkongregation formuliert, erreicht, „dass die Gläubigen die ehrwürdigen Gottesdienste dieser Tage leichter besuchen und frömmer und fruchtbarer mitfeiern können“. Mit der Konstitution Sacrosanctum Concilium vom 4. Dezember 1963 will das Zweite Vatikanische Konzil diese Intention aus dem Pontifikat des Pacelli-Papstes fortsetzen, denn für die Teilnehmer an der weltweiten Kirchenversammlung ist „die Liturgie der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt.“

In der Konstitution heißt es: „Die Mutter Kirche wünscht sehr, alle Gläubigen möchten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk, ‚das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, der heilige Stamm, das Eigentumsvolk’ (1 Petr 2,9; vgl. 2,4-5) kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist. Damit das christliche Volk in der heiligen Liturgie die Fülle der Gnaden mit größerer Sicherheit erlange, ist es der Wunsch der heiligen Mutter Kirche, eine allgemeine Erneuerung der Liturgie sorgfältig in die Wege zu leiten. Denn die Liturgie enthält einen kraft göttlicher Einsetzung unveränderlichen Teil und Teile, die dem Wandel unterworfen sind. Diese Teile können sich im Laufe der Zeit ändern, oder sie müssen es sogar, wenn sich etwas in sie eingeschlichen haben sollte, was der inneren Wesensart der Liturgie weniger entspricht oder wenn sie sich als weniger geeignet herausgestellt haben. Bei dieser Erneuerung sollen Texte und Riten so geordnet werden, dass sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen, und so, dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann.“

Am 25. Januar 1964 setzt der Papst ein Consilium, den „Rat zur Durchführung der Liturgiereform“, ein; den Vorsitz übergibt er Kardinal Giacomo Lercaro, dem Erzbischof von Bologna; die Rolle des Sekretärs wird Pater Annibale Bugnini CM anvertraut. Fünf Jahre später unterschreibt der Papst die Apostolische Konstitution Missale Romanum, die den Gläubigen die erneuerte Form der Eucharistiefeier präsentiert. Sie stößt nicht auf ungeteilte Zustimmung. Vor allem dogmatische Vorbehalte werden geäußert. Katholische Intellektuelle wie Reinhard Raffalt klagen, die katholische Messe sei durch fünfzehnhundert Jahre ein Gesamtkunstwerk gewesen, das nun zerstört werde. Im Gespräch mit Jean Guitton bezeichnet auch Paul VI. die Messe als „das vollkommenste Kunstwerk“. Für den Papst steht fest: „Sie ist Musik, Dichtung und Architektur. Sie ist ein wirkliches Drama, wirklicher als alle Dramen, weil sie das, was sie bezeichnet, tatsächlich auch bewirkt. Wie in allen Kunstwerken gibt es auch in ihr das Moment des ‚Überstiegs’, der Ekstase, den Augenblick, der Zeit und Ewigkeit miteinander verbindet.“ Aber für den Papst ist sie ein „Kunstwerk“, weil sie sich aus der Tiefe des Glaubensvollzugs ergibt – und nicht als Selbstzweck oder aus ästhetischem Verlangen heraus.

An dem Tag, an dem der Novus Ordo Missae in Kraft tritt, wird in den Brunnen der Ewigen Stadt von katholischen Aktivisten das Wasser rot eingefärbt. Ein Flugblatt verkündet: „Römer, heute, am 30. November 1969, ist von den neuen Reformatoren der Tod der heiligen Messe, wie sie seit Jahrhunderten auf der ganzen Erde gefeiert worden ist, beschlossen worden! Aus der Ewigen Stadt, dem Mittelpunkt der Christenheit, erhebt sich ein Schrei der Entrüstung und des Protestes! Die Wasser Roms färben sich rot, wie die Wasser Ägyptens sich in Blut verwandelten!“ Im Sekretariat der Gottesdienstkongregation trifft ein Brief ein: „Viele Katholiken weinen heute über den Tod der katholischen Kirche. Zusammen mit Luther siegt heute der neue protestantische Pastor Bugnini“; das Schreiben schließt mit der Aufforderung: „Weiche, Satan!“ Ein Franzose, der eine extrem konservative Ordensgemeinschaft gegründet hat, bekannt als Abbé de Nantes, fordert vor Vertretern der Medien: „Man muss den Papst absetzen. Denn Paul VI. ist die Inkarnation des Ungehorsams gegen das Gebot Gottes im Kreis der Reformatoren. Man muss ihn absetzen, ehe er ein Chaos anrichtet und die Art und Weise der Wahl seines Nachfolgers durcheinander bringt. Darum habe ich mit Einverständnis der leitenden Männer unseres Kreises, der sich am 1. Oktober zu einem Kongress zusammengefunden hat und mit Einverständnis meiner Ordensmitbrüder beschlossen, ein ‚libellum accusationis’ zu Füßen Seiner Heiligkeit, des Papstes Pauls VI., niederzulegen, eine Anklageschrift gegen seine Person wegen Häresie, Schisma und Ärgernis, und von ihm eine feierliche Erklärung, ein unfehlbares Urteil über seine eigenen Handlungen zu verlangen“.


Immer wieder tauchen nach der Einführung des Ordo Novus Vorwürfe auf, viele Korrekturen, Änderungen und Neuheiten habe man ohne Wissen des Papstes vorgenommen, und sie seien das Werk von Annibale Bugnini. Entsprechende Nahrung gab eine Episode, die von seriösen Mitarbeitern des Papstes berichtet wird, so durch Abt Karl Egger Can. Reg. vom Päpstlichen Staatssekretariat. Im ersten Jahr nach der Reform habe sich Paul VI. am Pfingstmontag vor der Zelebration in seiner Privatkapelle gewundert, dass man ihm grüne Messgewänder vorlegte, es würde doch noch das Pfingstfest gefeiert. Von seinem Privatsekretär erhielt der verblüffte Pontifex zur Antwort: „Aber Heiligkeit, Ihr habt doch selber die Pfingstoktav abgeschafft!“ Pater Gottardo Pasqualetti vom Istituto Missioni Consolata in Rom ist ein Freund und Vertrauter Annibale Bugninis; er hat lange Zeit im Consilium an der Seite des Erzbischofs gearbeitet: „Es besteht kein Zweifel, dass Bugnini einen gewissen Einfluss auf Papst Montini hatte. Aber zu sagen, der Papst habe mit geschlossenen Augen unterschrieben, entspricht nicht der Wahrheit. Bugnini legte Paul VI. oft zahlreiche Dossiers vor, so dass einige Kardinäle sich sogar über die Arbeitsfülle beschwerten, die er dem Papst zumutete. Es mag sein, dass dem Papst dabei etwas entgangen ist. Wie auch immer, mit der Durchsicht aller Unterlagen verbrachten die beiden viele Stunden.“

Kritiker der erneuerten Liturgie sahen in ihr ein großes Potential zum Entstehen von Missbräuchen. Zu der Messe, die Papst Paul VI. am 17. September 1972 zum Abschluss des italienischen Eucharistiekongresses in Udine feiert, führt Reinhard Raffalt an: „150.000 Menschen hatten sich eingefunden. Der Altar, sinnigerweise errichtet über einem camouflierten deutschen Wehrmachtsbunker, war ein riesiger weißgedeckter Tisch. Trotz seiner Größe reichte er nicht aus für die geplante Konzelebration. Die Veranstalter hatten errechnet, dass wenigstens zwei Drittel der zusammengeströmten Gläubigen den Wunsch hegen würden, die Kommunion zu empfangen. Folglich traten zur Konzelebration zweihundert Priester in Albe und Stola an, jeder mit einem Kelch voller Hostien. Sie wurden nicht um den Altar gruppiert, sondern hinter ihm in Fünferreihen gestaffelt. Für alle sprach der Papst die Wandlungsworte. Zur Austeilung des Sakraments verließen die Priester in langer Reihe die Plattform. Je zweien von ihnen wurde ein Jugendlicher beigegeben, der sie zu ihrem vorbestimmten Bezirk geleiten sollte. Alle diese Jugendlichen hatten es aus Überzeugung verschmäht, durch Messdienerkleidung und gereinigtes Haupthaar als Glieder des liturgischen Geschehens kenntlich zu sein.

Also gab man ihnen ein Kreuz in die Hand, das sie ermächtigte, den nachfolgenden Priestern Raum zu schaffen. Hundert solcher Kreuze zu finden, war nur bei einer Firma möglich gewesen, die provisorische, mit leeren Emailschildern versehene Friedhofskreuze herstellte. Solcherart geleitet, gelangten die Priester mit dem Sakrament zu den Gläubigen. Nur recht wenige nahmen die Kommunion. Bald standen die Priester mit halbgefüllten Kelchen in der Menge und riefen: ‚Chi vuole ancora? – Wer möchte noch?’ Schließlich entdeckte ich zwei, die einander, die Hostien in der Hand, eine anscheinend komische Geschichte erzählten. Ein Mann neben mir sagte: ‚Und die wollen uns weismachen, dass das, was sie da austeilen, der Leib des Herrn ist.’ Auf der Ebene des Papstaltares hatte die neue Liturgie gerade noch gehalten. Fünf Meter tiefer, auf dem Parterre der Massen, war ihr Sinn verflogen.“

Unter all jenen, die sich gegen die erneuerte Liturgie mit voller Wucht stemmen, ist auch Monsignore Marcel Lefebvre (1905-1991), ehemaliger Apostolischer Delegat in Französisch-Afrika, Alt-Erzbischof von Dakar (Senegal), 1962 für sieben Monate Erzbischof-Bischof von Tulle (Frankreich), Generaloberer des Spiritanerordens und Päpstlicher Thronassistent. 1970 gründet der Prälat die Priesterbruderschaft St. Pius X. und errichtet in Ecône (Schweiz) ein Seminar für Alumnen, die mit der Ausbildung in ihren Diözesen unzufrieden sind. Lefebvre lässt dort nur die Zelebration nach dem früheren Ritus zu. Ein Konflikt mit Rom kündigt sich an. Am 21. November 1974 gibt Marcel Lefebvre eine Grundsatzerklärung ab: „Keine Autorität, auch nicht die höchste Autorität in der Hierarchie, kann uns zwingen, unseren Glauben, der vom Lehramt der Kirche seit neunzehn Jahrhunderten eindeutig formuliert und verkündet wurde, aufzugeben oder zu schmälern.“

Der Erzbischof konstatiert: „Die neue Messe beinhaltet einen neuen Katechismus, ein neues Priestertum, neue Seminare, neue Universitäten und eine charismatische, pentekostalische Kirche. Alle diese Dinge sind der Rechtgläubigkeit und dem Lehramt aller Zeiten entgegengesetzt. Diese Reform geht vom Liberalismus und vom Modernismus aus und ist völlig vergiftet. Sie stammt aus der Häresie und führt zur Häresie. Die einzige Haltung der Treue gegenüber der Kirche und der katholischen Lehre besteht, um unseres Heiles willen, in der kategorischen Weigerung der Annahme der Reform“. Im Vatikan zeigt man sich empört. „Das Herz dieses Mannes ist verstockter als das des Pharao“, äußert sich Kardinal Sebastiano Baggio, der Präfekt der Kongregation für die Bischöfe über Marcel Lefebvre – er empfiehlt dem Papst ein rigoroses Vorgehen gegen den Erzbischof. Zu Anfang des Jahres 1975 lädt man Monsignore Lefebvre vor eine Kardinalskommission. Da er sich weigert einzulenken, wird der Priesterbruderschaft und dem Seminar am 6. Mai 1975 der offizielle kirchliche Status entzogen.

Die Teilnehmer am Konsistorium vom 24. Mai 1976 erleben einen erzürnten Papst: „Man wagt zu behaupten, dass das Zweite Vatikanische Konzil nicht bindend sei; dass der Glaube ebenfalls in Gefahr sei durch die nachkonziliaren Reformen und Pflichten; dass man die Pflicht habe, ungehorsam zu sein, um gewisse Traditionen zu erhalten. Welche Traditionen? Steht es dieser Gruppe und nicht dem Papst, nicht dem Kollegium der Bischöfe, nicht dem Ökumenischen Konzil zu, festzusetzen, welche unter den unzähligen Traditionen als Glaubensnorm betrachtet werden müssen? … Eine solche Haltung wirft sich zum Richter über den Willen Gottes auf, der Petrus und seine rechtmäßigen Nachfolger zum Oberhaupt der Kirche bestellt hat, um die Brüder im Glauben zu bestärken, und ihn zum Garanten und Hüter des Glaubensgutes bestimmt hat …

… Im Namen der Tradition bitten Wir alle unsere Söhne und Töchter und alle katholischen Gemeinschaften, die erneuerte Liturgie mit Würde und Eifer zu feiern. Der Gebrauch des neuen Ordo Missae ist natürlich nicht dem Gutdünken der Priester oder der Laien anheimgestellt. Der neue Ordo ist nach reifer Überlegung und gemäß Wünschen des Zweiten Vatikanischen Konzils erlassen worden, damit er den alten ersetze. Ähnlich hatte Unser heiliger Vorgänger, Pius V., das Missale, das infolge des Trienter Konzils unter seiner Autorität reformiert worden war, als verpflichtend vorgeschrieben. Dieselbe Aufnahmebereitschaft verlangen Wir mit derselben höchsten Autorität, die Wir von Jesus Christus erhalten haben, auch für alle übrigen liturgischen, disziplinären und pastoralen Reformen, die in diesen Jahren in Verwirklichung der Konzilsdekrete herangereift sind. Jede Initiative, die sie zu verhindern trachtet, kann sich nicht den Anspruch anmaßen, damit der Kirche einen Dienst zu erweisen. In Wirklichkeit fügt sie ihr einen großen Schaden zu.“

Der Pontifex ist aber nicht einseitig auf Erzbischof Lefebvre, die Priesterbruderschaft St. Pius X. und deren Anhänger fixiert; er blickt mit gleicher Sorge zu dem anderen, ihn beunruhigenden Flügel in der katholischen Kirche: „Auf der entgegengesetzten Seite, was ihre ideologische Position betrifft, jedoch gleichermaßen Ursache tiefen Schmerzes ist, befinden sich jene, die im irrigen Glauben, die Linie des Konzils fortzusetzen, eine Haltung vorgefasster und mitunter unbeugsamer Kritik an der Kirche und ihren Einrichtungen eingenommen haben. Wir müssen deshalb mit der gleichen Bestimmtheit sagen, dass Wir auch die Entstellung derer nicht annehmen können: die sich für autorisiert halten, sich ihre eigene Liturgie zu schaffen, wobei sie mitunter das Messopfer oder die Feier der Sakramente auf die Feier ihres eigenen Lebens oder Kämpfens oder aber auf das Symbol der Brüderlichkeit einschränken oder gar missbräuchlich die Interkommunion praktizieren.“

Für den 29. Juni des Jahres kündigt Erzbischof Lefebvre neue Priesterweihen an, die nach den Bestimmungen des Kirchenrechts nun illegal sind und schwerste kirchliche Strafen erfordern. Als Lefebvre die Ordinationen im schweizerischen Econe erteilt, sieht sich der Papst gezwungen, den Erzbischof a divinis zu suspendieren, das heißt, ihm wurden damit die Vollmachten seines Priester- und Bischofsamtes entzogen. Doch Paul VI. ist weiterhin um eine Aussöhnung bemüht. Im September empfängt er Marcel Lefebvre in seiner Sommerresidenz Castel Gandolfo in Audienz. Die Begegnung verläuft ergebnislos. Am 11. Oktober 1976 wendet sich der Papst in einem lateinisch verfassten Schreiben mit überaus klaren Worten an den Erzbischof: „Cum Te die XI mensis Septembris hoc anno in Arce Gandulfi coram admisimus, facultatem Tibi fecimus cogitata Tua ac desideria libere proferendi, quamvis varias causae Tuae veluti facies iam probe cognitas haberemus – Als Wir Dich am 11. September dieses Jahres in Castel Gandolfo empfingen, ließen Wir Dich Gedanken und Wünsche frei aussprechen, wenngleich die verschiedenen Aspekte Deines Falles Uns persönlich bereits hinreichend bekannt waren …

… Du stellst Dich praktisch als der Verteidiger, der Wortführer der Gläubigen und Priester hin, die ‚von dem, was in der Kirche geschieht, zerrissen’ sind, wodurch der peinliche Eindruck entsteht, dass der katholische Glaube und die wesentlichen Werte der Tradition durch einen Teil des Volkes Gottes nicht genügend geachtet werden, zumindest nicht in gewissen Ländern. Du handelst so, als fiele Dir eine Sonderrolle auf diesem Gebiet zu. Nun steht aber die Aufgabe, die Missbräuche zu unterscheiden und abzustellen, in erster Linie Uns zu, wie auch allen mit Uns wirkenden Bischöfen. Und gerade Wir erheben gegen diese Exzesse unaufhörlich Unsere Stimme: Bei Unserer Ansprache im Konsistorium vom 24. Mai dieses Jahres geschah das erneut in klaren Worten. Mehr als irgendjemand verstehen Wir das Leid der fassungslos gewordenen Christen und reagieren auf den Aufschrei der nach Glauben und spirituellem Leben verlangenden Gläubigen. Hier ist nicht die geeignete Stelle, Dir, Bruder, alle Akte Unseres Pontifikates in Erinnerung zu rufen, die Unsere ständige Sorge bezeugen, der Kirche die Treue zu der echten Tradition zu sichern und sie auch zu befähigen, mit der Gnade des Herrn der Gegenwart und der Zukunft zu trotzen.

Auf dieselbe irrige Auffassung geht bei Dir die missbräuchliche Zelebration der so genannten Messe des heiligen Pius V. zurück. Du weißt ganz genau, dass dieser Ritus seinerseits das Ergebnis sukzessiver Änderungen gewesen war, und dass der Römische Kanon das erste der heute autorisierten eucharistischen Hochgebete bleibt. Die gegenwärtige Reform hat ihre Daseinsberechtigung und ihre Leitlinien aus dem Konzil und aus den historischen Quellen der Liturgie bezogen. Sie ermöglicht den Gläubigen, sich vom Worte Gottes noch reichlicher zu nähren. Ihre aktivere Teilnahme lässt die einzigartige Rolle des Priesters, der in persona Christi handelt, unberührt. Wir haben diese Reform kraft Unserer Autorität sanktioniert, indem Wir ihre Übernahme durch alle Katholiken forderten …

… Weil in Deinem Fall der alte Ritus faktisch der Ausdruck einer verzeichneten Ekklesiologie, ein Kampfplatz gegen das Konzil und seine Reformen ist, unter dem Vorwand, nur im alten Ritus seien das wahre heilige Messopfer und das Amtspriestertum ohne Verdunkelung ihrer Bedeutung bewahrt. Wir können dieses irrige Urteil, diese ungerechte Anklage, nicht hinnehmen, noch können Wir dulden, dass die allerheiligste Eucharistie des Herrn, das Sakrament der Einheit, Gegenstand derartiger Spaltungen ist (vgl. 1 Kor 11, 18) und sogar als Werkzeug und Zeichen der Rebellion benutzt wird. Natürlich hat die Kirche Raum für einen gewissen Pluralismus, jedoch in den erlaubten Dingen und im Gehorsam. Das begreifen diejenigen nicht, die die liturgische Reform in ihrer Gesamtheit ablehnen. Ebensowenig übrigens wie diejenigen, die die Heiligkeit der Realpräsenz des Herrn und seines Opfers gefährden.“

Seinem Freund Jean Guitton, der einen Vermittlungsversuch in Ecône unternommen hatte, macht der Papst klar: „Diese Messe wird zum Symbol der Ablehnung des Konzils. Ich werde freilich niemals und unter keinen Umständen akzeptieren, dass man durch ein Symbol das Konzil verurteilt.“

Ulrich Nersinger, geboren 1957 in Eschweiler bei Aachen, studierte Theologie und Philosophie in Bonn, St. Augustin, Wien und Rom mit ergänzenden Studien am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie und der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse. Er ist Mitglied der »Pontificia Accademia Cultorum Martyrum« und gilt als einer der bekanntesten deutschen Vatikanisten.

kathpedia: Ulrich Nersinger.


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