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Der Freund des Papstes

26. Mai 2014 in Kommentar, 2 Lesermeinungen
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Wer ist Rabbi Abraham Skorka, der Papst Franziskus auf seine Heiligland-Reise begleitet? Spurensuche in Buenos Aires. Von Michael Hesemann


Buenos Aires (kath.net) Mein Ziel ist Belgrano, ein elegantes Viertel im Norden von Buenos Aires; luxuriöse Häuser und teure Autos verraten, dass hier die obere Mittelschicht der Hauptstadt wohnt. Auch Deutsche ließen sich gerne in dieser Gegend nieder, es gab bis in die 1950er-Jahre sogar zweisprachige Schulen. Zu der ersten Flüchtlingswelle, die in den 1930er-Jahren Argentinien erreichte, gehörten viele Juden. Für sie gründete der 1938 aus Münster geflohene Rabbiner Fritz Leopold Steinthal ein Jahr nach seiner Ankunft in Buenos Aires eine Synagoge, die er nach seinem Lehrer, dem großen deutschen Rabbi Leo Baeck (1873–1956), benannte. In ihrer Thoranische (Oraun Ha-kaudesh) fanden Thorarollen Aufnahme, die aus den brennenden Synagogen der Juden in Deutschland gerettet worden waren. Das neue Gotteshaus wurde bald zum Zentrum deutsch-jüdischen Lebens einer Stadt, in der bis in die Nachkriegsjahre hinein gleich zwei deutschsprachige jüdische Tageszeitungen erschienen. Doch dass hier eines Tages auch ein ganz neues Kapitel in der nicht gerade unproblematischen Beziehung zwischen Juden und Katholiken aufgeschlagen werden sollte, das konnte ihr Gründer gewiss nicht erahnen.

Der Mann, mit dem ich in Belgranos Benei-Tikva-Synagoge verabredet bin, heißt Dr. Abraham Skorka. Er ist nicht sonderlich groß, seine dicken, kurzen, grauen Haare sind nach hinten gekämmt und machen Platz für eine zerfurchte, hohe Stirn. Zwei warme braune Augen blitzen klug hinter einer Hornbrille hervor, während sich ein verschmitztes Lächeln auf den schmalen Lippen breit macht. Man könnte ihn eher für einen Philosophen oder Wissenschaftler, als für einen jüdischen Gottesmann halten, und doch ist er der vielleicht außergewöhnlichste Rabbi unserer Zeit. Außergewöhnlich nicht nur, weil er Doktor der Chemie ist und als Biophysiker in der Forschung tätig war, bevor er seine Berufung empfing, was dem Werdegang von Papst Franziskus nicht ganz unähnlich ist. Sondern vor allem, weil er den jüdisch-christlichen Dialog wörtlich nahm, sehr wörtlich sogar. Er wurde zum besten persönlichen Freund des Erzbischofs von Buenos Aires, der bald Kardinal und schließlich Papst werden sollte – Jorge Mario Bergoglio. Ich will, ich muss diesem Mann begegnen und bin überwältigt von der Freundlichkeit, mit der er mich, einen deutschen Katholiken, empfängt.

Rabbi Skorka spricht nicht nur fließend Englisch, sondern auch Deutsch mit einem gemütlichen jiddischen Akzent. Seine Eltern, die aus Polen nach Argentinien geflohen waren, haben es ihm beigebracht. Er bittet mich, in seinem kleinen Büro Platz zu nehmen, um mir dann die Geschichte seiner höchst ungewöhnlichen Freundschaft zu Jorge Bergoglio zu erzählen.

»Alles begann Ende der 1990er-Jahre. Ich war, wie jedes Jahr, vom Präsidenten der Republik eingeladen worden, als Repräsentant des Judentums an dem feierlichen ‚Te Deum‘ teilzunehmen, der Dankandacht, die jedes Jahr an unserem Unabhängigkeitstag, dem 25. Mai, in der Kathedrale abgehalten wird. Sie findet immer im Beisein von Vertretern aller in Argentinien beheimateten Religionen und Konfessionen statt. Wie Sie vielleicht wissen, ist auch bei uns Fußball sehr populär und so ist es immer eine einfache Methode, mit einem Menschen in Kontakt zu kommen, wenn man ihn fragt, mit welchem Verein er sympathisiert. Vor dem ‚Te Deum‘ kamen die Priester zu uns, begrüßten uns und wünschten uns einen frohen Unabhängigkeitstag. Auch Erzbischof Bergoglio kam und fragte, für welchen Verein ich denn sei. Ich erwiderte, ich sei ein Fan von ‚River (Plate)‘, die bei uns in Belgrano zuhause sind, und er? Natürlich ‚San Lorenzo‘, lachte er, denn dieser Verein wurde von einem Priester gegründet. Gut, das war verständlich, dass er ein Fan dieses Vereins ist, ein richtiger Fan, wie ich später erfuhr.

Ein Jahr später, genauer gesagt am 25. Mai 1999, kam nach dem ‚Te Deum‘ einer der Staatssekretäre für Religionsangelegenheiten zu uns und erklärte uns, der Präsident würde uns noch erwarten. Wir sollten uns daher bitte schnell anstellen, um den Erzbischof und den Apostolischen Nuntius kurz zu grüßen, um dann zum Präsidenten geführt zu werden. Eindrücklich machte er uns klar, wir sollten bitte nichts weiter sagen, nur kurz die Hände schütteln und einen guten Unabhängigkeitstag wünschen, denn der Präsident hätte wenig Zeit. Aber wissen Sie, Bergoglio und ich haben eines gemeinsam, wir mögen beide kein Protokoll. Wir möchten uns einfach nicht hetzen lassen. Wenn uns der Präsident sehen will, dann soll er gefälligst warten! So wünschte ich dem Erzbischof alles Gute, gratulierte ihm zu seiner Predigt und erlaubte mir ein paar Worte mehr, nur um das Protokoll zu brechen. Nur 20 Sekunden, dachte ich mir, das ist doch nichts! ›Ihr Jeremias-Zitat war gut gewählt‹, meinte ich also zu ihm, das war alles. Er schaute mir sehr, sehr tief in die Augen.


Lassen Sie mich kurz erklären, dass die Fans vom River-Club, weil sie 24 Jahre lang vergeblich auf die Meisterschaft gehofft hatten, den Spitznamen ›die Hühner‹ verliehen bekamen. Es hieß, wir seien hilflos wie die Hühner, was natürlich schmerzt. Bergoglio schaute mir also tief in die Augen und meinte nur, als Antwort auf meinen Kommentar über den Vers des Jeremias: ›Dieses Jahr essen wir Hühnersuppe!‹ In diesem Jahr war River einfach sehr schlecht und San Lorenzo sehr gut. Ich stockte, wusste zunächst nicht, was ich von dieser Antwort halten sollte. Doch eine halbe Sekunde später konnte ich es mir einfach nicht mehr verkneifen, zu sagen: ›Oh, das ist wirklich hundsgemein!‹

Der Apostolische Nuntius schaute zu uns herüber und flüsterte streng: ›Aber mein Herr, so etwas sagt man doch nicht in einer Kirche!‹ – ›Wir sprechen doch über Fußball‹, klärte ihn Bergoglio auf. ›Ah!‹, entfuhr es dem Nuntius, ›dann fahren Sie fort!‹

Doch so bitter das klang, ich verstand, dass hinter diesem Scherz eine tiefere Absicht stand, dass er eine ganz andere Botschaft beinhaltete. Da war ein Mann, der mir etwas signalisieren wollte: Wenn Sie mit mir reden möchten, wissen Sie jetzt, dass ich ein ganz normaler Mensch bin wie Sie auch. Vergessen Sie das Protokoll! Es gibt keine Mauer zwischen uns. Die Tür steht Ihnen weit offen. Und damit begann unsere Freundschaft.

Wir tauschten Briefe aus, Glückwünsche zu unseren jeweiligen Festen, ich stellte ihm Fragen, wir trafen uns wieder auf anderen ‚Te Deums‘ und Gebeten um den Frieden. 2004 lud ich ihn schließlich zu den Slichot ein, den Gebeten um Vergebung vor dem jüdischen Neujahrsfest. Ich bat ihn um ein Grußwort an unsere Gemeinde. Und er kam, gleich zweimal, das nächste Mal 2007. Jedes Mal hielt er eine wundervolle Ansprache. Beim zweiten Mal blieb er bis zum Mitternachtsgebet. Als ich ihn dann heimfuhr, meinte er immer wieder: ›Glauben Sie mir, ganz ehrlich: Ich habe ihr Gebet gespürt! Ich habe mit euch gebetet.‹ Das war für mich eine sehr schöne Erfahrung. Doch die Zeit der wirklich intensiven Zusammenarbeit waren die letzten drei Jahre – 2010, 2011 und 2012. Wir haben uns in dieser Zeit mindestens einmal im Monat getroffen.

2010 haben wir unser Buch zusammen geschrieben, Über Himmel und Erde, das jetzt weltweit ein Bestseller ist. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass ein Erzbischof und ein Rabbi ein gemeinsames Buch herausgaben. Es behandelt all die Fragen, die der kleine Mann von der Straße an uns, an unsere Religionen, stellt: Wie bereitet man sich auf den Tod vor? Wie geht man mit den Problemen unserer Zeit um? Was ist Geld für uns? Ein Idol? Betreiben wir mit ihm heutzutage keine Götzendienerei? Was können wir auf der Grundlage unserer religiösen Tradition, unserer Weltanschauung, die so viele gemeinsame Werte und Wurzeln hat, dazu sagen? Schließlich verehren wir doch beide die gleichen Propheten! Zu Anfang war das Christentum eine Bewegung im Judentum. In der Apostelgeschichte kann jeder nachlesen, wie die Apostel mit Rabbinern über das Evangelium diskutierten …«

Ich musste ihn unterbrechen, warf ein, dass man bis zum Apostelkonzil im Jahre 48 sogar zunächst Jude werden musste, wenn man getauft und in die Urgemeinde aufgenommen werden wollte.

Rabbi Skorka nickte. »Genau das sagte Bergoglio auch!«, erklärte er mir, um mit seiner Geschichte fortzufahren: »Nachdem das Buch so ein Erfolg geworden war, trafen wir uns 2011 und 2012 regelmäßig, um gemeinsam eine Fernsehsendung für den erzbischöflichen TV-Kanal in Buenos Aires aufzunehmen. Da sprachen wir über die gleichen Themen. Über Freundschaft, Familie, was es bedeutet, glücklich zu sein und so viele andere Themen, die den Mann von der Straße interessieren.«

Doch wer hatte die Idee zu diesem Buch, wollte ich wissen. Für einen Augenblick dachte der Rabbi nach, zögerte. »Das ist eine gute Frage«, gestand er, »Ich hatte schon die Idee, ein Buch über theologische und philosophische Fragen zu schreiben. Eines Tages bat ich meinen Freund (Bergoglio): Bitte schreibe mir ein Kapitel über Gott! Ich wollte dann andere große Philosophen und Denker um Beiträge bitten und eine schöne Anthologie daraus machen. Er zögerte, meinte, er sei innerlich nicht bereit, dieses Kapitel zu schreiben. Ein paar Wochen später rief er mich an: ›Lass uns ein Buch schreiben. Aber ein Buch über Gott, den Teufel, das Böse, Freundschaft, den Konflikt zwischen Israel und Palästina, Politik – nicht aus einer theoretischen, philosophischen Perspektive, nicht auf höchstem intellektuellem und sprachlichem Niveau, sondern für die einfachen Menschen.‹ Das ist typisch für Bergoglio: Er spricht und schreibt sehr tiefgründig – aber in einer sehr einfachen Sprache. Und natürlich hatte er Recht. Das war das Buch, das die Menschen berührte!

Und ich verrate Ihnen noch etwas über unsere Freundschaft. Als Sergio Rubin, sein Biograf, an dem Buch El Jesuita (Deutsch: Mein Leben, mein Weg) arbeitete, fragte er Bergoglio, wen er vorschlagen würde, das Vorwort zu schreiben. Der aber antwortete sofort: Rabbi Skorka! Ich sah es als sehr große Ehre an, als Rabbi das Vorwort zur Biografie eines Kardinals, ja jetzt des Papstes, beizusteuern. Daher fragte ich ihn: Warum hast Du mich dafür vorgeschlagen? Und er antwortete, ohne zu zögern: ›So kam es aus meinem Herzen!‹

Oder noch eine Geschichte: Als wir die Gespräche für das Buch führten, kam ich immer zu ihm, er wohnte gleich bei der Plaza de Mayo im Generalvikariat, bis er plötzlich sagte: ›Ich kann von dir nicht immer erwarten, dass du durch die halbe Stadt fährst, um zu mir zu kommen. Nächstes Mal treffen wir uns bei dir.‹ Ich wollte das nicht, er ist ja 14 Jahre älter als ich, seine Gesundheit ist nicht bestens. Aber er bestand darauf. So stellten wir in einem Vorraum der Synagoge einen Tisch auf, an dem wir beide diskutieren konnten. Dienstags morgens kam er, wir stellten Croissants auf den Tisch und begannen, über Gott und die Welt zu diskutieren.

Dann schockierte er mich. Am 11. Oktober 2012 lud mich die Päpstliche Universität Buenos Aires zu einer Feierstunde ein. Anlass war der 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dort verlieh er mir die Ehrendoktorwürde. Ich konnte es kaum glauben. Es war das erste Mal, dass eine päpstliche Universität einem Juden, einem Rabbi, den Doktorhut verlieh. Er ist der Kanzler dieser Universität. Als wir uns dann anschauten, als er mir die Plakette übergab und die Kameras blitzten, flüsterte er mir zu: ›Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich diesen Moment herbeigesehnt habe.‹

Als ich ihn dann nach der Papstwahl im Fernsehen auf dem Balkon sah in seiner weißen Soutane, da war es mir, als erschienen zwischen diesem Bild und meinen Augen die Augen meines Freundes. Und ich dachte mir, gut, eine neue Etappe hat jetzt begonnen. Unsere Sendungen, unsere Bücher, die sind jetzt Geschichte – buchstäblich Geschichte. Jetzt fängt etwas Neues an!«

Und dann macht er mir ein Geständnis: »Es mag seltsam klingen, doch als ich hörte, dass Benedikt XVI. zurücktrat, da meinte ich zu meiner Frau: Warte ab, mein Freund Jorge Mario wird der neue Papst! Warum? Ich weiß nicht warum. Ich kann Ihnen keine vernünftige, logische Erklärung dafür geben. Es war nur ein Gefühl. Aber ich fühlte, dass Bergoglio ein Mensch ist, wie ihn die ganze Menschheit, nicht nur die katholische Kirche, in dieser Zeit braucht. Ein Mensch, der jeden Glauben respektiert, tief verwurzelt in Spiritualität und Gerechtigkeit, der jeden Menschen achtet. Er handelt aus dem gleichen Geist heraus wie die Propheten, die das Herz unseres gemeinsamen Erbes als Juden und Christen sind.

Ohne einander zu respektieren können wir keine Wirklichkeit schaffen, in der sich Gott den Menschen offenbart. Sich Gott zu nähern heißt an erster Stelle, sich mit Respekt seinem Mitmenschen zu nähern. Gott zu ehren beginnt damit, seinen Nächsten zu lieben: ›Du sollst Gott, deinen Herrn, ehren‹ und ›liebe deinen Nächsten, wie dich selbst‹, heißt es doch auch im Neuen Testament. Und genau das verkörpert Bergoglio. Bergoglio weiß, dass Theologie ohne Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und Nächstenliebe nur intellektuelle Spiegelfechterei ist. Theologie muss eine Realität sein, etwas, das man in seinen täglichen Handlungen ausdrückt. Das glauben wir beide, Juden und Christen. Wo Hass ist, da kann Gott nicht sein. Das ist eine Mitzwah, das ist ein Gesetz Gottes: Du darfst deinen Bruder nicht hassen!

Um Frieden zu schaffen, muss man eine wirklich ernsthafte, ehrliche Beziehung aufbauen, und das können wir mit Bergoglio.“

Seit dieser Begegnung in Buenos Aires traf ich Rabbi Skorka zweimal in Rom. Jedes Mal wohnte er im Domus St. Martha im Vatikan, als persönlicher Gast des Papstes. Er nimmt mit ihm die Mahlzeiten ein, man nimmt sich Zeit für ausführliche Gespräche. Die Aussöhnung mit dem Judentum ist ein Herzensanliegen von Papst Franziskus. Und der Mann, der dabei die Schlüsselrolle spielt, ist der Rabbi aus Buenos Aires.

kath.net-Lesetipp:
Papst Franziskus
Das Vermächtnis Benedikts XVI. und die Zukunft der Kirche
Von Michael Hesemann
Gebundene Ausgabe,288 Seiten; m. 16 Abb.
2013 Herbig
ISBN 978-3-7766-2724-4
Preis 20.60 EUR

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Foto: Rabbi Abraham Skorka, Freund von Papst Franziskus, zeigt Michael Hesemann eine Thorarolle, die 1938 von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland gerettet wurde


Engl. Kurzvideo: Rabbi Skorka - Freund von Papst Franziskus (Rome Reports)



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Lesermeinungen

 mirjamvonabelin 26. Mai 2014 
 

Ja, unser Papst Franziskus

gibt uns Hoffnung.
In diesem Moment ist mir klar, wir brauchen eine Kirche von oben, nicht von unten, wie es von "wir sind Kirche" gefordert wird.
Oder bringe ich wieder etwas durcheinander?
Ich höre soviel das ich hinterher nicht genau weiß, was wohin gehört.
Aber im Moment ist mir klar, der Friede, Versöhnung, Freundschaft... muß bei den Großen dieser Welt beginnen und wir, das Fußvolk, kann es dann nachmachen.


0
 
 Theobald 26. Mai 2014 
 

Herrlich!

DAS ist eine Freundschaft, aus der viel Gutes erwachsen kann. Gratulation an beide Seiten.


2
 

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