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Der Begriff der 'Würde' im Blick auf Sterben und Tod

3. November 2015 in Interview, 3 Lesermeinungen
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Ein Staat, der in einem Gesetz das Töten von Menschen regelt, ist kein demokratischer Rechtsstaat mehr - Interview mit Prof. Thomas Sören Hoffmann und Dr. Marcus Knaup über Sterbehilfe. Von Beate Glinski-Krause


Frankfurt (kath.net/Frankfurter Forum für Altenpflege) Die kontroversen Debatten, die wir heute über ein selbstbestimmtes Lebensende und den assistierten Suizid führen, wären vor einigen Jahrzehnten so noch nicht denkbar gewesen. Das hat sich unterdessen sehr verändert. In diesem Jahr erschien ein Sammelband zu diesem Thema. Die Ethikerin Susanne Kummer, eine der 13 Autoren des Buches „Was heißt: In Würde sterben?“, sieht im fortgeschrittenen demografischen Wandel und in den sozialstaatlichen Sicherungssystemen Bedingungen dafür, Sterben und Tod unter Kontrolle bringen zu wollen, sie unter ökonomischen Kriterien zu betrachten und zu bewerten. Gegen diese Kontrolle wenden sich hierzulande geschlossen die Lehrstuhlinhaber der Palliativmedizin, auch aus der Befürchtung, das ärztliche Ethos des Heilens, das sich seit mehr als 2000 Jahren im hippokratischen Eid ausdrückt, werde so untergraben.

In einem Interview entfalten die Herausgeber des Buches, Prof. Thomas Sören Hoffmann und Dr. Marcus Knaup – beide FernUniversität in Hagen - aus philosophischer Sicht den Würdebegriff mit Blick auf Sterben und Tod.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Welche Bedeutung hat Würde?

MARCUS KNAUP: Das ist ein großes Thema, mit dem wir anfangen. Wenn wir uns die aktuellen Debatten ansehen, so wird aus unterschiedlichen Lagern und unterschiedlichen Interessen heraus auf den Würdebegriff zurückgegriffen. Etwa, es sei ein würdevolles Sterben, wenn man ein Medikament bereitgestellt bekommt, um sich damit „selbstbestimmt“ ein Ende zu setzen. Die Gegner argumentieren ebenfalls mit Würde. So war es für uns ein Anlass zu fragen: Was heißt das, in Würde zu sterben? Was ist mit diesem Begriff „Würde“ gemeint? Ein Begriff, der eine ganz lange Tradition hat. Wenn wir an die jüdisch-christliche Tradition denken, wird er im Buch Genesis 1,27 durch die menschliche Gottebenbildlichkeit begründet. Oder wenn wir an die Renaissance denken, so legte etwa Giovanni Pico della Mirandola eine kleine Schrift darüber vor. Einer der herausragendsten und prominentesten Autoren, die sich mit dem Begriff Würde auseinandergesetzt haben, ist der Königsberger Immanuel Kant. Für ihn ist Würde in der Autonomie des Menschen begründet. Jeder Mensch hat dank seiner Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie Würde. Wandelt man in den Fußspuren dieses Philosophen und schaut sich die aktuelle Debatte an und stellt sich die Frage: „Was heißt, in Würde zu sterben?“, dann lautet die Antwort: Ein würdevolles Sterben ist ein Sterben im Bewusstsein der Unverfügbarkeit des Lebens. Das eigene Leben ist unverfügbar und eben auch das Leben anderer Menschen.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Der Gegenbegriff zum Begriff der Würde bei Kant ist der Begriff des Wertes beziehungsweise des Preises. Kant sagt, dass alle Dinge entweder einen Wert haben, das heißt, sie sind bei gleichem Wert durch etwas anderes ersetzbar, das das gleiche Preisschild trägt, oder sie haben eine Würde.

Haben Dinge eine Würde, gibt es keine Gegenrechnung. Damit sind wir mit „Würde“ bei einem Begriff, der die Grenzen des ökonomischen Diskurses aufzeigt. Wenn es um das Dasein, das Existenzrecht von Menschen geht, und wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch per se eine Würde hat, dann geht es hier nicht um Kostenfragen – niemals nach Kant. Die Anerkennung der Würde eines jeden Subjektes ist der Rahmen, innerhalb dessen über Kosten diskutiert werden kann.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Die Kostenfrage ist eingebettet in die Moralphilosophie Kants?

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Hier könnte man den kategorischen Imperativ als eines der Prinzipien der kantischen Moralphilosophie heranziehen. Das ist natürlich auch für die aktuelle Frage nach Suizidassistenz von Bedeutung. Kant zeigt ausdrücklich auf, dass mit dem kategorischen Imperativ eine Unterstützung von Selbsttötung nicht vereinbar ist. Es führt auf einen Widerspruch, der jede Ethik unmöglich macht, wenn ein Vernunftwesen meint, einen vernünftigen Grund zu haben, sich auszulöschen. Es löscht die Existenz von Vernunft aus. Vernunft kann nicht aus Vernunftgründen die Vernunft aufgeben. Und zum andern würde Kant sagen, wenn jemand einen Überdruss am Leben – etwa in Extremsituationen – empfindet, muss man das nicht wegleugnen, dass es das gibt, aber wir können daraus nicht folgern, dass dieses Individuum, das jetzt sagt: „Ich lebe in einer so extremen Situation, dass ich mich töten möchte“, autonom handelt. Kant würde im Gegenteil explizit sagen, es handelt heteronom. Ein Mensch, der sich in einer solchen Lage befindet, sieht sich unter Druck von äußeren Umständen, ist also gerade nicht selbstbestimmt. Die Personen, die mit diesem Menschen noch in Verbindung stehen, haben vor allem die Aufgabe, die Autonomie wiederherzustellen, ihn in eine Lage zu versetzen, von der aus diese Umstände nicht mehr dieses erdrückende Gewicht haben, sondern von wo aus er aus Vernunft und an der Hand von Mitmenschen diese Umstände vielleicht neu ansehen kann.


BEATE GLINSKI-KRAUSE: Inwieweit sind hier nun in der aktuellen Debatte Selbstbestimmtheit und Freiheit verrückt worden – im Kontext des kantischen Würdebegriffs?

MARCUS KNAUP: Es wird ja immer wieder behauptet, dass die Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen, die Krönung dessen sei, was wir heute unter Freiheit verstehen. Wenn Kant heute in den Deutschen Bundestag zu dieser Debatte eingeladen werden könnte, würde er darauf aufmerksam machen, dass der Suizid ein Selbstwiderspruch menschlicher Freiheit ist, weil sich dadurch die Grundbedingung von Freiheit auflöst.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Zwei Punkte hierzu. Der eine ist mehr empirischer Art. Wenn man in dem zuletzt genannten Kontext von Freiheit spricht, kommt man schnell in Konflikt mit all dem, was Suizidforscher und auch Ärzte, die mit Suizid und suizidgefährdeten Personen zu tun haben, berichten, nämlich dass in fast keinem Fall jemand in einer heroischen Haltung in den Suizid geht, sondern er sich eher in einem sehr befangenen und verängstigen Bewusstseinzustand befinden wird. Der Betreffende handelt also aus einer Unfreiheit heraus, die er nicht mehr erträgt, in der illusorischen Hoffnung, durch den Tod vielleicht die Freiheit wiederzuerlangen. Er tut diesen Schritt nicht, weil er sich seiner Freiheit so strahlend bewusst ist und sich sagt: „Jetzt aktualisiere ich auch noch diese Freiheit.“

Der andere Punkt von Bedeutung ist, dass Kant auch sagt, wir müssen bei der Freiheit immer mehrere Aspekte unterscheiden. Freiheit hat auf der einen Seite etwas damit zu tun, dass man keinen äußeren Hindernissen ausgesetzt ist. Wir nennen das in der Philosophie die „negative Freiheit“. Das ist die Freiheit „von“ etwas. Wenn man aber alleine die Freiheit von etwas vor Augen hat, hat man es mit Willkür zu tun. Freiheit von etwas heißt, es gibt keine Regeln, es gibt keine Orientierung und ich kann tun und lassen, was ich will. Das gehört zum Menschen dazu, dass er diese Willkürfreiheit kennt und auch erlebt, aber zureichend und befriedigend ist das nicht. Wir wollen ja unsere Freiheit auch so gestalten, dass sie mit der Freiheit Anderer zusammen existiert. Wir wollen sie so gestalten, dass sie inhaltlich Gewicht bekommt und dass sie wächst. Man kann ja in der Freiheitlichkeit und am Freiheitsgebrauch reifen. Ein gelingendes Menschenleben sieht so aus, dass man lernt, insgesamt freiheitserhaltend miteinander umzugehen. Das nennen wir in der Philosophie dann die „qualifizierte“ oder auch „positive Freiheit“. Man kann vielleicht, wie Herr Knaup das schon angesprochen hat, sagen, dass der Mensch das einzige Tier ist, das Suizid begehen kann. Das ist in der Tat so, was auch damit zu tun hat, dass der Mensch kraft seiner Rationalität von allen Bedingungen, Voraussetzungen seiner Existenz abstrahieren kann. Er kann immer alles wegdenken. Er kann auch sich selbst wegdenken und das dann in die Praxis umsetzen. Das ist negative Freiheit. Damit ist noch nichts an neuer Rationalität und Vernünftigkeit im Menschenleben gewonnen und schon gar nicht im Blick auf Würde, die ja immer nur etwas mit der qualifizierten Freiheit zu tun hat. Würde besteht nicht darin, dass wir über einander ungebremst verfügen können, sondern darin, dass wir unsere Freiheit so gebrauchen, dass sie im Miteinander wächst. Freiheit ist wie das Leben kein Privatbesitz von Individuen, sondern etwas, das wir teilen.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: In der Koexistenz der Bürger in einem Staatswesen ist diese qualifizierte Freiheit die Bedingung dafür, dass sich die Menschen auch um ihres eignen Lebens willen gegenseitig schützen. Gehen wir zur Frage nach der Bedeutung von Sterben und Tod. Wie werden Sterben und Tod heute gesehen, bewertet?

MARCUS KNAUP: Es hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges geändert in der Einstellung zum Sterben. Da fällt mir zuerst die Allerheiligenlitanei „A subitanea et improvisa morte, libera nos, Domine.“ ein: „Vor einem jähen, unvorhersehbaren Tod bewahre uns.“ Hier geht es darum, vorbereitet zu sterben. Was man sich nicht wünschte, war der Sekundentod. Heute sehen wir im Fernsehen Tote in Krimis und Serientode, während uns selbst der Tod fremd geworden ist. Er hat aus der Familie Auszug gehalten und es wird anonym gestorben: im Altenheim, in der Klinik, im Hospiz. Im Hinblick auf die Debatte ist da eine gewisse Fremdheit entstanden.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Philosophie versteht sich seit über 2000 Jahren auch als „ars moriendi“, als Kunst, mit Sterben und Tod richtig umzugehen. Die Philosophie hat von vornherein gesagt, und das ist für unser abendländisches Philosophieverständnis konstitutiv, dass die menschliche Endlichkeit nicht übersprungen werden darf. Eine philosophische Reflexion, die nur in ideale Welten hineinreflektiert, in denen es keine Endlichkeit gibt, ist nicht authentisch. Sie muss in dieser wirklichen, der Endlichkeit ausgesetzten Lage geerdet sein. Das heißt nicht, dass die Endlichkeit das letzte Wort über den Menschen ist, dass das Sterben das Letzte ist, unter dem wir den Menschen betrachten. Aber durch das Sterben ist eine Grenze gesetzt. Das können wir bei Gründergestalten der Philosophie wie z. B. Sokrates sehr gut sehen, dass sie von dieser Grenze her denken und fragen: „Was ist das, von dem wir Abschied nehmen müssen und was bleibt und hat Bestand?“ Diese Fragen betreffen auch die Dinge, die wir gesellschaftlich teilen. Was ist einem Wechsel oder einem Untergang ausgesetzt? Wenn man das nicht unterscheiden kann, führt das nur zu Terror: sei es zum Terror der Endlichkeit, wo alles unter dem Zeichen des Totenkopfes steht, oder zum Terror der imaginierten Unendlichkeit, wo ideale Ziele herrschen, die aber menschenfeindlich sind. Die Philosophie geht diesen Mittelweg. Damit sollte die permanente Mahnung an uns alle verbunden sein, das, was vergänglich ist, von dem zu unterscheiden, was einen gewissen Bestand hat. Die großen philosophischen Fragen wie: Was ist das Absolute?, Was bedeutet das authentische Leben?, Was bedeutet Innerlichkeit? kann man immer nur mit Blick auf diese Grenzen stellen. Karl Jaspers spricht von „Grenzsituation“, durch die der Mensch hindurch muss, ohne sich den Blick trüben zu lassen. Er darf natürlich die Grenzsituationen nicht so ansehen, dass er darin nur noch sein Scheitern erklärt. Heute ist ein Stück weit die Gefahr, dass wir uns dieser Endlichkeit entziehen, indem wir versuchen, sie „technisch“ zu verwalten und technisch-verfügend mit ihr umzugehen. Dass Philosophie auch eine Sterbenskunst, also ein reflektierter Umgang mit der Endlichkeit ist, impliziert dagegen, dass man vom Sterben und vom Tod kein Verfügungswissen haben kann.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Das entspricht dem, was Menschenwürde ausmacht, die ja ebenso unverfügbar ist. Dessen sind sich die Menschen heute nicht mehr bewusst. Wir leben mittlerweile in einem ahistorischen Kontext und fragen gar nicht danach, was dieses bestehende Verfügungssystem mit uns macht. Ist Ihr Buch ein Versuch, das zu vermitteln?

MARCUS KNAUP: Im Buch gibt es nicht nur die philosophische Perspektive. Sie wird durch medizinische, palliativ-medizinische, soziologische, psychologische, theologische und juristische Sichtweisen ergänzt.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Da gibt es aber gänzlich einander widersprechende Haltungen. Denken Sie etwa an die wissenschaftliche Ethik der Baroness Mary H. Warnock, die Sie sinngemäß mit der Aussage zitieren, dass ein Mensch, der eine Demenz hat, das Leben anderer Menschen verderbe und daher aus dem Leben zu entfernen sei.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Frau Warnock ist eine der prominentesten englischen Bioethikerinnen gewesen. Das muss man leider so sagen. Sie war jahrelang die Stimme der britischen Bioethik.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Zur Einordnung des Todes fällt ein Aphorismus von E. Cioran im Buchtext auf.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Er lautet: „Das Leben ist nichts. Der Tod ist alles. Dennoch existiert kein Tod unabhängig vom Leben.“ Der Tod ist eigentlich der Parasit des Lebens, ohne das Leben gäbe es den Tod nicht. Auf der anderen Seite – Cioran ist ein sehr pessimistischer Existenzphilosoph – hat er überall den Tod gesehen, was eine typische Perspektive des 20. Jahrhunderts ist.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Der Tod - als ein je individuelles Geschehen - wird in der aktuellen Debatte immer mehr zu einem sozialen Vorgang, um den sich vielfältige Interessen ranken, gerade auch in Bezug auf ältere Menschen. Auch ein Sozialstaat entwickelt dazu gesetzgeberische Vorstellungen. Wie muss hier der betreffende Mensch geschützt werden?

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Darauf gibt es verschiedene Antworten. Eine der ganz wichtigen wäre, dass man, wo immer es möglich ist, die Vorherrschaft und Dominanz des utilitaristischen Denkens, das ist das auf den kurz- und mittelfristigen Nutzen ausgerichtete Denken, bricht. Kein Mensch kann nur aufgrund von Nutzenkalkulation ein gelingendes Leben führen. Wir sind alle darauf angewiesen, dass uns auch Dinge geschenkt werden, dass Dinge eine Selbstverständlichkeit haben, dass Dinge eine Würde haben, dass menschliche Beziehungen eine Würde haben. Wenn man sich vorstellt, dass alle menschlichen Beziehungen nach Nutzen verrechnet würden, wer würde dann noch leben können? Dann gäbe es keine Freundschaft mehr. Dann gäbe es eine Dimension der Liebe nicht mehr. Dann gäbe es keine Familie mehr, diese ist, wenn sie intakt ist, ein nutzenfreier Raum. Kein Kind muss sich dafür rechtfertigen, warum es da ist. Wer diese Grunderfahrungen nicht macht bzw. nicht gemacht hat und daran erinnert werden kann, der kommt in diese Teufelsküche des Utilitarismus hinein. Der Utilitarismus ist partiell wichtig, wenn man etwa in einem Unternehmen arbeitet. Nur, es muss der Rahmen stimmen, und dass wir immer auch andere Erfahrungen machen als die utilitaristischen. Das ist einer der wichtigsten Punkte. Ein weiterer Punkt ist, dass auch das Rechtssystem kein Nutzensystem ist, weil es eine Koexistenzordnung verlangt, die die menschliche Existenz gar nicht infrage stellen darf. Denn das Recht organisiert Koexistenz von Freiheitswesen.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Das geschieht auf Grundlagen der Gegenseitigkeit in einem demokratischen Rechtsstaat.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Ja, denn daher ist es von vornherein ausgeschlossen, dass es ein „Recht“ geben kann, jemanden Anderen aus dieser Ordnung hinauszuhelfen. Das kann von der Logik des Rechtsgedankens her nicht sein.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Dann kann auch kein Gesetz eingeführt werden, das Töten erlaubt wie es etwa in Oregon USA, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz der Fall ist?

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Das ist dann kein Rechtsstaat mehr. Das kann man in aller Härte so sagen. In Oregon werden ja auch Ärzte einbezogen. Das darf eigentlich nicht sein, das Ethos eines Berufsstandes zu beeinflussen, der sich entschieden hat, Heilberuf und nicht Tötungsberuf zu sein. Und wenn dann die Politik sagt: „Du darfst aber doch, du solltest sogar.“ Das ist ziemlich unfassbar.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Was bedeutet der hippokratischen Eid für Ärzte?

MARCUS KNAUP: Das heißt, dass der Arzt verpflichtet ist, zu heilen und das Leben zu bewahren. Wenn man sich vom hippokratischen Eid abkehrt, ist das die Wiederkehr des Medizinmanns, der über Tod und Leben entscheiden darf.

THOMAS SÖREN HOFFMANN: Ich habe die Beobachtung gemacht – das müsste man auch noch systematisch-wissenschaftlich untersuchen –, dass die Politik gerade im Bereich von Bio- und Medizinethik eine Tendenz zeigt, sich nicht mehr an den Rahmen zu halten, der ihr durch das Recht vorgegeben ist, sondern sich Bereiche zueignet, in denen sie nichts zu suchen hat. Man kann das unter den Oberbegriff der Biopolitik fassen, dass sich Politik das Leben jetzt insgesamt zum Gegenstand macht, dass Politik über das physische Dasein entscheidet, dass sie sich zur Herrin über Leben und Tod macht. Der Rechtsgedanke schließt das aber aus. Man muss den Zusammenhang sehen, in dem die Biopolitik in die Debatten eingedrungen ist. So gibt es in Österreich inzwischen ein Lebensministerium, wo Landwirtschaft und Umwelt und alles Mögliche dazugehören. Es bleibt eine aberwitzige Vorstellung, dass der Mensch das Leben als solches zum Gegenstand der Politik macht. Das geht nicht. Das Leben ist etwas, das auch die Politik trägt, aber nicht ihr Objekt sein kann. In den laufenden Debatten sehen wir einen Versuch, auf das Leben durch Regulation des Lebens zuzugreifen und damit die Politik zu entrechtlichen. Vom Recht her sind hier aber Grenzen gesetzt.

BEATE GLINSKI-KRAUSE: Wird damit Politik übergriffig? Das hat die NS-Politik auch getan. Wie schätzen Sie den NS-Film „Ich klage an“ ein, wenn er heute in neuem Gewande in die Kinos käme?

MARCUS KNAUP: Das Interessante an dem Film ist, dass dort ein junges Paar gezeigt wird, das Zukunftspläne hat und das träumen kann. Dann wird eine unheilbare Krankheit der Frau diagnostiziert und die Träume zerplatzen. Unter dem Deckmantel von Liebe, von Fürsorge und Nächstenliebe wird ärztliche Suizidbeihilfe geleistet. Der Film war Propagandafilm der NS-Diktatur, um die Euthanasie gesellschaftsfähig zu machen. Wenn man einen derartigen Film heute mit bekannten Schauspielern neu in Szene setzte, hätte er vermutlich einen großen Erfolg. Das müsste uns zu denken geben.

kath.net-Buchtipp
Was heißt: In Würde sterben?
Wider die Normalisierung des Tötens
Von Thomas S. Hoffmann; Marcus Knaup
Taschenbuch, 314 Seiten
2015 Springer, Berlin
ISBN 978-3-658-09776-9
Preis 20.55 EUR

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Lesermeinungen

 girsberg74 3. November 2015 
 

Nochmals danke - und zwar für Cyprianus

Ich kann hier und heute nicht groß antworten, das würde ausufern.

Ihr Beitrag sagt mir aber, dass wir uns im Grundsatz ziemlich einig sind.

Dass es mit der Moral recht unterschiedlich bestellt ist, sollte aus meiner Rede bezüglich "Mehrheitsmeinung" hervorgehen.

Diese Mehrheitsmeinung führt womöglich wieder zum Utilitarismus.


2
 
 Cyprianus 3. November 2015 

@girsberg74

Die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik lässt sich meiner Ansicht nach nicht aufrecht erhalten und ist auch nicht notwendig. Man sollte auf den Begriff „Ethik“ am Besten ganz verzichten.
Wenn ich dich richtig verstehe, willst du ja sagen, dass es zuerst ein unantastbares moralisches Fundament gibt und dass dann über die Art der Anwendung in der Praxis (Ethik) diskutiert werden kann. Diese Unterscheidung setzt aber voraus, dass der Gesprächspartner die Unantastbarkeit bzw. die Existenz dieses Fundamentes anerkennt, was aber meistens (jedenfalls in der westlichen Welt) nicht der Fall ist.
Nach meiner Erfahrung gibt uns aber gerade dieser fundamentale Skeptizismus bzw. Relativismus die Möglichkeit, im Zusammenhang mit dem Nachweis eines ewigen moralischen Gesetzes, den Dialog auf die Gottesfrage zu lenken. Denn der - sich offenbarende - Gott kommt gar nicht in den Blick, wenn man gewissermaßen „nur“ über Ethik diskutiert und dabei etwas voraussetzt, was letztlich unbedacht bleibt.


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 girsberg74 3. November 2015 
 

Danke für diesen Beitrag

Meine Folgerung I: Dass Utilitarismus in der Warenproduktion etc, Sinn macht, ist innerhalb der reinen Sachzusammenhänge unbezweifelbar.. Doch in jedweder Anwendung auf menschliches Leben ist der Utilitarismus ein Zweiklassenrecht, nämlich des Rechts von Mächtigen über Ohnmächtige.

Meine Folgerung II: Die zunehmende Rede über „Ethik“ in beliebigen Zusammenhängen und die wachsende Zahl von „Ethikkommissionen“ ist eher beängstigend, denn „Ethik“ darf nicht mit „Moral“ verwechselt werden. „Ethik“ ist ursprünglich nur der wissenschaftliche Diskurs über Moral. Am Ende kann nämlich nichts anderes herauskommen, als das, was zuerst hineingesteckt und was als Mehrheitsmeinung schlussendlich sanktioniert wird. wie das Beispiel „Warnock“ nahelegt. Hier funktioniert „Ethik“ nur als Rechtfertigung von Tun und Taten, die mit Moral nicht gehen.


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