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"Mein größter Wunsch: Das gegenseitige Wohlwollen soll nie verloren gehen"

vor 5 Stunden in Österreich, 2 Lesermeinungen
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Wortlaut der Predigt von Kardinal Christoph Schönborn beim Dankgottesdienst am 18. Jänner 2025 im Wiener Stephansdom.


Wien (kath.net/ KAP-ÖBK)
Im Zeichen tiefer Dankbarkeit, nachdenklicher Rechenschaft und gläubiger Hoffnung hat Kardinal Christoph Schönborn am Samstag den Dankgottesdienst der Erzdiözese Wien angesichts der nahenden Emeritierung rund um seinen 80. Geburtstag am 22. Jänner gefeiert. Bei der Festmesse im Beisein der Spitzen von Staat, Kirchen und Religionen im Stephansdom richtete der Kardinal in seiner Predigt "einen dankbaren Blick auf unser Land, auf Österreich", aber auch auf die "tieferen Quellen der Hoffnung" anhand der biblischen Texte der Feier. "Ohne das gute, gelebte Miteinander hätte ich nie meinen Dienst tun, mein Amt aktiv ausüben können, aus dem ich mich nun bald verabschiede", sagte der Kardinal rückblickend auf seine fast 30 Jahre als Wiener Erzbischof.
Einmal mehr plädierte der Kardinal eindringlich für ein "Gelingen des gesellschaftlichen Miteinanders von Eingesessenen und Dazugekommenen", das "entscheidend für unsere Zukunft" sei. Auf seine persönliche Lebensgeschichte als Flüchtlingskind verweisend, sagte der Kardinal: "Ein Herz für Flüchtlinge zu haben, gehört zur Menschlichkeit. Es kann auch unser Schicksal werden." Und an anderer Stelle betonte der Wiener Erzbischof: "Mitgefühl ist das, was erst eine Gesellschaft menschlich macht. Unbarmherzigkeit vergiftet die Gesellschaft und uns selbst." Am Ende der Predigt sagte der Kardinal eindringlich: "Mein größter Wunsch: Das gegenseitige Wohlwollen soll nie verloren gehen, auch wenn wir Konflikte haben."

Kath.net dokumentiert die Predigt im Wortlaut:
Verehrter Herr Bundespräsident! Nochmals alles Gute, viel Glück und viel Segen zu Ihrem Geburtstag! Mit Ihnen begrüße ich nochmals Sie alle, die in "Präsenz" oder über die Medien mitfeiern. Ich bin berührt und kann es kaum fassen, dass Sie alle so zahlreich mit mir danken für die fast 30 Jahre meines Dienstes als Erzbischof von Wien. Ich danke für das Wohlwollen, das Sie mir dadurch bezeugen. Meinerseits kann ich heute nur ein ganz, ganz großes, DANKE sagen für alle die vielen, vielen, mit denen ich in all diesen Jahren zusammenarbeiten durfte, denen ich begegnen konnte, mit denen mich so viel verbindet. Ohne das gute, gelebte Miteinander hätte ich nie meinen Dienst tun, mein Amt aktiv ausüben können, aus dem ich mich nun bald verabschiede.
Abschied! Ich empfinde heute besonders schmerzlich den Kontrast zwischen dem freudigen Fest des Dankes, das wir feiern, und dem großen Abschied, den in unserem Land so viele Menschen meist stillschweigend von der Kirche vollziehen, allein 2023 waren es 85.000! So frage ich mich: Wie sieht eine ehrliche Bilanz meiner drei Jahrzehnte des Dienstes aus? So schnell, wie die katholische Kirche bei uns schrumpft, so rapid wächst die Zahl der Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Andere Religionsgemeinschaften wachsen ebenfalls, etwa der Islam oder auch die vielen zugewanderten Christen aus Osteuropa und aus dem Mittleren Osten. Seltsam genug ist die Aussage von zwei Dritteln der Menschen in unserem Land, die sich wünschen, dass Österreich weiter ein christliches Land bleibt. Wie soll das alles zusammengehen? Wohin geht die Reise? Verabschiedet sich Österreich, ja ganz Europa, vom Christentum? Bleibt von ihm eine gewisse Folklore? Wird das Europa der Kathedralen ein großes Freilichtmuseum für Touristen aller Welt? Immerhin ist der Stephansdom das meistbesuchte Monument in Österreich. Was bedeutet das? Was bedeutet es, dass wir hier im Stephansdom feiern? Was bedeutet es, dass ganz Österreich, die Menschen dieses Landes, den Dom nach dem Krieg - trotz allgemeiner Armut - in so schneller Zeit wieder aufgebaut haben, fast gleich schnell, wie ganz Frankreich, das so säkulare Land, seine vom Brand schwer betroffene Notre-Dame wieder aufgebaut hat? Was zeigt sich da an Hoffnung, an Lebendigkeit?
Ich will versuchen, in zwei Schritten auf diese Frage eine Antwort zu finden: zuerst durch einen dankbaren Blick auf unser Land, auf Österreich. In einem zweiten Schritt will ich versuchen, die tieferen Quellen der Hoffnung in den Blick zu nehmen. Ich finde sie vor allem in den Worten der Bibel, die wir eben gehört haben.


1. Beginnen will ich mit meinem Dank an Österreich und mit meiner Hoffnung, dass wir gemeinsam auf einem guten Weg bleiben. Für vieles in Österreich könnte ich danken! Zwei Bereiche wähle ich aus: die Flüchtlinge und den Religionsfrieden.
Ich bin als Kleinkind im Herbst 1945 als Flüchtling nach Österreich gekommen. Österreich ist meine Heimat geworden, für die ich dankbar bin. Ich sehe mit Dankbarkeit, wie Jahr für Jahr Menschen - wie ich damals - hier Sicherheit, Arbeit und oft ein neues Leben finden. Sie kommen als Fremde und werden hier heimisch. Sie werden Österreicherinnen und Österreicher. Sie bringen ihre Sprachen, Kulturen und Religionen mit. Sie bereichern, nicht ohne Spannungen, unser Land und prägen seine Zukunft mit. Der nüchterne Blick auf die Demographie Österreichs und Europas muss uns klarmachen, dass es in Zukunft nicht anders sein wird.
Das Gelingen dieses Miteinanders von Eingesessenen und Dazugekommenen ist entscheidend für unsere Zukunft. Migration mit ihrer dramatischen Form, den Flüchtlingsströmen, bestimmt das Leben zahlloser Menschen. Österreich wird hier auch in Zukunft keine Ausnahme bilden. Danken wir, dass wir in Frieden leben dürfen. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Herz für Flüchtlinge zu haben, gehört zur Menschlichkeit. Es kann auch unser Schicksal werden.
Dankbar bin ich, dass in Österreich ein so gutes Miteinander der Religionen herrscht. Auch das ist nicht selbstverständlich. Es ist die Frucht ständigen Bemühens um gegenseitige Achtung und Wertschätzung. Es ist auch das Ergebnis einer außerordentlich guten Religionsgesetzgebung. Sie ist in Europa fast einzigartig! Ich habe mich in all den Jahren für das Miteinander der Ausbildung der Religionslehrer aller anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften eingesetzt. Es gelingt erstaunlich gut. Warum ist das wichtig? Weil wir viel zu wenig voneinander wissen - von der Religion der anderen und leider auch von der eigenen Religion. Wir nähern uns einem weit verbreiteten religiösen Analphabetismus. Die Eltern haben oft kaum das elementare Wissen über den Glauben, der in unserem Land die Generationen geprägt hat. Wie sollen die Kinder den Glauben kennenlernen? Wohin geht die Reise? Trotz allem bin ich zuversichtlich! Sie kennen das Wort von Hölderlin: "Wo Gefahr wächst, wächst das Rettende auch."

2. Damit bin ich im zweiten Teil meiner Predigt: bei der Suche nach den tiefen Quellen der Hoffnung! Eine neuere Studie des ORF zusammen mit der Theologischen Fakultät der Universität Wien - hier möchte ich einen ausdrücklichen Dank an den ORF sagen für die Übertragung und für seine im Europavergleich hervorragende Religionsberichterstattung, treu dem öffentlich-rechtlichen Auftrag des Gesetzgebers - über Religion in Österreich hat ein für mich überraschendes und erfreuliches Ergebnis gezeigt: ein neues, stärkeres religiöses Interesse bei der jungen Generation! Ganz überraschend ist es nicht, wenn wir ernst nehmen, dass in jedem Menschenherzen die Suche nach Sinn und Erfüllung lebt. Religion, Glauben als einen persönlichen Weg zu entdecken, ist gerade in unserer scheinbar glaubensfernen Welt immer möglich. Wie erklärt es sich, dass im säkularen Frankreich am letzten Osterfest 13.000 meist jüngere Erwachsene um die Taufe angesucht haben? Der religiöse Analphabetismus kann auch, so bedauerlich er ist, eine Chance sein für ein neues Suchen nach Sinn und ein Entdecken des Glaubens.
Das heutige Evangelium spricht von einer solchen Erfahrung. Jesus sieht Levi, den Sohn des Alphäus, am Zoll sitzen und spricht ihn an: "Da stand Levi auf und folgte ihm nach". Wenn ich gefragt werde, wie es denn mit der Kirche weitergehen wird, dann erzähle ich gern diese Geschichte. Denn so geht es bis heute weiter. So wird es auch in Zukunft weitergehen. Mitten im Leben erfahren Menschen eine Art "Folge mir nach." So war es für mich in der ersten Klasse Gymnasium, es hat mein Leben bestimmt. Es ist immer noch dieser Ruf. Das ist die unerschöpfliche Ressource, aus der der Glaube sich in allen Generationen neu und frisch erweist. Sonst wäre er längst erloschen, an seinen Traditionen und Institutionen erstarrt und erstickt oder erfroren. Dass er immer wieder frisch und lebendig ist, das liegt an dem, der heute weitergeht und die Levis und die Christophs und die vielen anderen anspricht: "Folge mir nach."
Ein Zweites wird immer weitergehen und sich neu ereignen. Jesus hat den Levi in eine Gemeinschaft geführt: seine Jünger! "Es waren nämlich viele, die ihm nachfolgten", berichtet Markus. Bis heute sind es viele. Und sie sind so verschieden, wie es die Ersten waren, die zu einer Gemeinschaft wurden. Die Zwölf Apostel waren alles eher als eine homogene Gruppe. Sie kamen aus radikal verschiedenen, ja verfeindeten jüdischen Gruppen und wurden zu einer Gemeinschaft. In den 70 Jahren meines bewussten Lebens in der Kirche habe ich eine große Bandbreite erlebt, das spannende, oft spannungsreiche Miteinander so großer Unterschiede, auch in der Kirche in Österreich, in unserer Erzdiözese Wien. Ich habe - vielleicht anders als andere - die Kirche als große Weite erlebt. Jesus hat seine Jünger "Freunde" genannt (Johannes 15,15), und so wurden sie untereinander Freunde. So habe ich das Glück gehabt, Kirche zu erleben und sie zu lieben - trotz und durch alle Konflikte hindurch.

Ein Drittes zeigt das Evangelium vom Zöllner Levi: Jesus hat nicht moralisiert. Er hätte zuerst dem Levi die Leviten lesen können, ihm sagen können, wie schrecklich unmoralisch sein Beruf als verhasster Steuereintreiber ist. Stattdessen hat er mit ihm und seinen Berufskollegen ein Fest gefeiert: "Wie kann er mit Zöllnern und Sündern essen?" empören sich die Pharisäer. Die Antwort Jesu macht bis heute den entscheidenden Unterschied zwischen Moralisieren und Heilen: "Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder." Mein Freund Peter Turrini lässt in einem seiner Stücke einen Priester sagen: "Die Sünde muss wieder benannt, die Gnade wieder erfleht werden." Die Sünden müssen benannt werden! Sie sind manchmal himmelschreiend: Menschenhandel, Missbrauch, Umweltzerstörung, Korruption, Ausbeutung, Tötung Unschuldiger.
Jesus nennt Levi einen Sünder, aber er richtet ihn nicht: "Auch ich verurteile dich nicht!", sagt er zur Ehebrecherin. Die Sünde benennen zu können, ohne zu verurteilen und zu richten, das ist wohl die tiefste Quelle der Hoffnung. Es ist wohl das, was am tiefsten ein Leben verändert, umkehrt, neu macht.
Wohin geht die Reise? Was erwartet uns? Wie geht es mit der Kirche weiter? Oder hat gar Gott ausgedient, wie neulich eine Diskussionsrunde betitelt war? Warum bin ich auch nach 30 Jahren im Amt des Erzbischofs "unverbesserlich" hoffnungsvoll? Sicher zuerst, weil ich selber erlebt habe und erlebe, dass, wie es in der Lesung hieß, das Wort Gottes lebendig ist: "Vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden." Vor Gott und seinem Wort kann und brauche ich mich nicht verstecken. Ich schulde Gott Rechenschaft über meinen Dienst. Vor ihm liegen offen mein Bemühen und meine Fehler, meine Sünden, die Er kennt, und mein Bemühen. Aber ich brauche Gott nicht zu fürchten: "Wir haben ja Jesus, den Hohepriester, der mitfühlen kann mit unseren Schwächen."
Mitgefühl ist das, was erst eine Gesellschaft menschlich macht. Unbarmherzigkeit vergiftet die Gesellschaft und uns selbst. Ich liebe das Wort von André Heller, der von der "Weltmuttersprache Mitgefühl" gesprochen hat. Sie verstehen alle Menschen. Sie muss nicht erlernt werden. Sie schenkt Vertrauen und Zuversicht. Sie macht uns bewusst, dass wir eine Menschheitsfamilie sind, alle aufeinander angewiesen, wir brauchen einander: Lassen wir uns nicht auseinanderdividieren, bei allen Unterschieden und Konflikten. Jesus sagt es ganz einfach: "Liebt einander!"
Ich danke Ihnen allen für das Wohlwollen, das Sie mir erweisen. Mein größter Wunsch: Das gegenseitige Wohlwollen soll nie verloren gehen, auch wenn wir miteinander Konflikte haben. Die Italiener sagen, wenn sie gegenseitig ihre Liebe ausdrücken: "Ti voglio bene!" - "Ich will Dir gut!". Wohlwollen einander zu schenken...
Schwestern und Brüder! Wenn es stimmt, dass Gott die Liebe ist, dann kann er nur Wohlwollen sein, grenzenloses Wohlwollen. Aber dann werden Sie mich fragen - und ich frage mich selbst: Warum gibt es dann so viel Not und Leid und Hass in der Welt? Wo ist da Gott? Er ist in unserem Wohlwollen, das wir einander schenken! Ti voglio bene! Amen.

Copyright 2025 Katholische Presseagentur KATHPRESS, Wien, Österreich

Foto (C): Erzdiözese Wien


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Lesermeinungen

 Cosmas vor 2 Stunden 
 

Anwesend ganz vorne eine liturgisch als Priester verkleidete Frau

mit Albe, Stola, Priesterkragen. In einer Reihe mit wirklich Geweihten, wie zb den orthodoxen Syrern. Ökumene mit welcher "Kirche" eigentlich???


0
 
 gebsy vor 4 Stunden 

Vergelt's Gott!

"Die Sünde benennen zu können, ohne zu verurteilen und zu richten, das ist wohl die tiefste Quelle der Hoffnung."
Wer die NOT des Sündigens kennt, wird Nachsicht und Mitleid wecken können ...


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