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Um die Seele Stacheldraht

28. Juli 2022 in Spirituelles, 3 Lesermeinungen
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Wege aus der empathischen Armut - Ein Gastkommentar von Priv.-Doz. Dr. Michael W. Busch aus Wien


Wien (kath.net)

In den kirchlich nicht anerkannten, weil laufenden Erscheinungen von Sievernich gab es am 13. Juni 2022 eine Verlautbarung des Erzengels Michael. Unabhängig davon, ob diese Erscheinungen echt sind oder nicht, enthält diese Verlautbarung eine Aussage, die für den Fortbestand unserer Gesellschaft von existentieller Bedeutung ist. Es geht um die Frage der Empathie und des Mitgefühls, genauer gesagt: Um den zunehmenden Mangel an eben diesen seelischen Grundregungen. Die Verlautbarung ist es daher wert, einer eingehenderen Betrachtung unterzogen zu werden. Die für die nachfolgende Reflexion relevanten Passagen wurden kursiv hervorgehoben. „Der Segen des Vaters im Himmel, der Segen des Sohnes, meines Herrn, und der Heilige Geist komme über diesen Ort und alle, die ihre Herzen wahrhaftig öffnen. Es wird eine schwere Zeit über euch kommen. Habt keine Furcht! Auf Erden ist so eine Zeit nie dagewesen. Das Übel dringt in die Herzen der Menschen. Sie schauen nicht auf den Herrn. Ihre Augen richten sie auf sich selbst und wollen ihren Vorteil erzielen. Würde der Herr nicht eingreifen, würden die Menschen sich selbst zerstören. Es wird einen Krieg um die Ernte geben.“

Kürzlich hatte ich bei einer Veranstaltung eine Zufallsbegegnung mit einem mir unbekannten Mann, sehr dickbäuchig, so um die 60 Jahre alt, vielleicht ein Bauer. Es ging um die steigenden Energiepreise und die Frage des Heizens im Winter (mit Gas oder Holz). Er meinte: „Ich habe Holz für die nächsten fünf Jahre eingelagert. Mir ist das alles egal. Die Leute heute kaufen ja Holz um jeden Preis. Dabei ist es schlecht, wenn es nicht wenigstens zwei Jahre gelagert hat.“ Es regnete und ich stand mit meinem fünfjährigen Sohn am Rand einer größeren Menschenansammlung, die Schutz unter einem Dach gesucht bzw. sich in die Innenräume zurückgezogen hatte. Als mein Sohn seine Pommes frites zu Ende gegessen hatte, ging ich, ohne mich von dem Mann zu verabschieden; dieser sprach inzwischen mit jemand anderem. Später überlegte ich noch, ob ich dies hätte tun sollen, aber eine Woche später wachte ich mitten in der Nacht auf und mir wurde plötzlich klar, dass genau diese Position: „Hauptsache, mir geht es gut. Wie es den anderen (er)geht, ist mir egal!“ den Kern unserer gegenwärtigen, gesamtgesellschaftlichen Krise ausmacht. „Hauptsache, ich habe meine Schäfchen im Trockenen, mein Vermögen mit Gold, Aktien, Immobilien usw. diversifiziert!“ Wir verschließen unsere Herzen, schotten uns zunehmend von der Öffentlichkeit ab, ziehen uns, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zurück. My home is my castle! Cocooning nennt die Soziologie heute diesen neo-biedermeierlichen Trend. Und die Coaching-Experten empfehlen Abgrenzung als entscheidend für die Selbstentwicklung und Selbstbehauptung. „Me-time“ ist das Zauberwort.

„Wen kümmern noch des Nachbarn Schmerzen?/ Wer hilft dem Nächsten durch die Tat? / Wir haben Riegel vor den Herzen / Und um die Seele Stacheldraht“ heißt es in dem Lied »Zeig mir den Platz an der Sonne« von Udo Jürgens. An dieser Stelle soll nicht unnötig moralisiert werden. Jeder muss bei sich selbst anfangen und sich persönlich fragen, wie weit diese „Einpuppung“ bei ihm schon fortgeschritten ist, inwieweit ihn der andere (überhaupt) noch kümmert. Wer sich diese Fragen stellt und ehrlich darauf antwortet, wird schnell feststellen, dass er oder sie tagtäglich kläglich an dem Anspruch scheitert, für unseren Nächsten wirklich da zu sein, ihm zu helfen, ihm seelisch nahe zu kommen, seinen Problemen ernsthaft zuzuhören. Es ist leider so, wie Dale Carnegie einmal behauptete: Vermutlich bald 90 Prozent der Zeit drehen wir uns um die eigene Achse, um eigene Probleme und Bedürfnisse, um die Maximierung des eigenen Vorteils und nicht zuletzt um die Frage, was andere über uns denken, wie wir auf diese wirken und wie wir uns nach außen besser darstellen können. Dennoch: Eine Gesellschaft braucht, um menschenwürdig und überlebensfähig zu bleiben, aufrichtige Menschen, die das Schicksal anderer, speziell der Schwächeren, wie das eigene wahrnehmen, die aus diesem Drehen um die eigene Achse ausbrechen. „Man kann nicht allen helfen! sagt der Engherzige – und hilft keinem“ (Marie von Ebner-Eschenbach). Die Menschen sind halt so, heißt es oft, doch wollen wir selbst so sein? In einer Begegnung anlässlich seines 50-jährigen Priesterjubiläums im Jahr 2015 ist mir ein von Pater Peter Lüftenegger, OSFS, (er starb 2020 im 95. Lebensjahr) geäußerter Satz aus seiner Predigt hängen geblieben: „Geben macht auf. Geiz macht zu.“ Eigentlich ist damit bereits alles gesagt. Doch soll dieser Gedanke nachfolgend noch etwas genauer ausgeführt werden.


Unsere Politiker fordern zwar ständig Solidarität, Diversität, Toleranz und Inklusion ein, denken letztlich aber genauso wie der erwähnte dicke Bauer. Die politische Einstellung »links« ist heute dort, wo die Brieftasche sitzt, meinte einmal unverblümt der Literaturwissenschaftler Fritz Raddatz. Und in der Tat: Solange meine Diäten eine Höhe haben, die mich die Sorgen Otto Normalverbrauchers nicht spüren lassen, berührt mich die gesamtgesellschaftliche Krise nur insoweit, als sie meine Wiederwahl gefährden könnte. »Der Politiker denkt an die nächsten Wahlen, der Staatsmann an die nächste Generation« (William Ewart Gladstone). Doch von Staatsmännern oder -frauen sind wir weit entfernt. Stattdessen: Blanke Egozentrik mit der Ausnahme von ein paar bunten Blumen auf einem seelisch verbrannten, rein materialistisch orientierten Feld. Den Gürtel enger schnallen sollen jeweils die anderen. Mein Besitzenwollen, um immer mehr genießen und prahlen zu können, darf nicht angerührt werden. Brot für die Welt, Torte für mich. 100 Milliarden für Rüstung, die sind plötzlich da, damit das Gleichgewicht des Schreckens wieder hergestellt wird. Die Spirale der durch die Medien angestachelten Angst bei den Menschen muss dabei in Gang gehalten werden, denn Angst macht unfrei, hemmt die Fähigkeit, eigenständig zu denken und senkt die Bereitschaft, Kritik zu äußern. Das deutsche Wort Angst ist verwandt mit dem Wort eng, womit wir wieder beim Kernargument dieses Beitrags sind: Engherzig – verschlossen für das Leid unseres Nächsten. Engstirnig – verschlossen gegenüber der (anderen) Meinung unseres Gegenübers. Es gebricht an echter Hilfs-, Teilungs- und Dialogbereitschaft. Der Heilige Martin hat seinen Mantel geteilt. Dies war eine praktische, großzügige Geste, die dem frierenden Bettler unmittelbar geholfen hat. Es kommt darin aber auch eine symbolische Geste zum Ausdruck, ein Mehrwert auf spiritueller Ebene: Sich dem Nächsten geistig öffnen, sich ihm zuwenden, an seinem Schicksal echten Anteil nehmen.

Raus aus der eigenen mentalen Filterblase, aus dem durch soziale Medien einseitig thematisch vorsortierten Denk- und Wahrnehmungskanal. Raus aus der – materiell und spirituell – allein um das eigene Wohl kreisenden Komfortzone. Raus aus der esoterischen Zentrierung auf Selbsterlösung. Wer sich selbst gewinnen will, wird sich selbst im Irrgarten seines Egos verlieren. Selbstfindung kommt nur durch Aufgaben außerhalb von uns selbst, Aufgaben, die größer und wichtiger sind als wir selbst. Selbstverwirklichung ist einer der Begriffe, der in den letzten Jahrzehnten am meisten für Verwirrung gesorgt hat. Einer seiner Erfinder, Abraham Maslow, musste dem Wiener Logotherapeuten Viktor Frankl nach einem intensiven Gespräch zugestehen, dass letztlich Selbsttranszendenz die höchste Stufe seiner Bedürfnispyramide bildet (was in der gängigen Literatur häufig unterschlagen wird): Sich selbst im anderen oder einer herausfordernden Aufgabe vergessen bzw. verlieren. Erst über diesen Umweg finden wir paradoxerweise zu uns selbst. Das ist der christliche Weg.

Duc in altum! Hinaus aufs Meer, auf die stürmische See. Hin zu den Rändern der Gesellschaft, wie es Papst Franziskus, dem Vorbild Jesu folgend, immer wieder eingefordert hat, zu den Ausgestoßenen, Zukurzgekommenen, Unscheinbaren, wenig Erfolgreichen und medial Gebrandmarkten. Die Mehrheit der Menschen wenden sich jedoch weiterhin lieber den Reichen und Mächtigen zu, hofieren sie, katzbuckeln vor ihnen und schleimen sich ein, doch die Wahrheit steht festgemauert in der Erden: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt. 25, 40). Es fängt bei jedem Einzelnen von uns an, auch innerkirchlich: Der einzelne Gläubige ist der (fehlende) Mörtel, der die Kathedrale „Kirche“ zusammenhält (oder eben bröckeln lässt). Das System scheitert nie am System, sondern immer am Menschen. „Die Leute sagen immer, die Zeiten werden schlimmer. Die Zeiten bleiben immer. Die Leute werden schlimmer“, so dichtete einst, zeitlos, Joachim Ringelnatz. Wir brauchen kein anderes System. Was wir brauchen, ist mehr Empathie, mehr echtes Mitgefühl, mehr Menschen, die sich durch das Leid anderer im Innersten rühren lassen.

Das Leben findet heute viel zu sehr in einer Scheinwelt statt, in Medien, im Smartphone, im Internet, auf Netflix. Dort wird jegliche Form der Gewalt und der narzisstischen Härte – unter Einsatz sämtlicher nur denkbaren manipulativen Tricks – auf dem Weg nach oben als etwas völlig Normales dargestellt. Echte Gefühle müssen dabei zwangsläufig abstumpfen. Vorgetäuschte, theatralisch aufgebauschte Gefühle und allgemein Schauspielerei nehmen hingegen zu (sog. histrionische Persönlichkeitsstörung). Die Fähigkeit, belastbare, vertrauensbasierte Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, leidet. Ich finde den Anblick immer erschreckend: Zwei Gleichaltrige, nebeneinander sitzend, nicht mehr miteinander redend, sondern nur mehr in das eigene Handy starrend (und sich eventuell dort, in der virtuellen Welt, gegenseitig bewertend). Die Selbstinszenierung und ‑optimierung via Instagram, TikTok und Co. werden auf die Spitze getrieben. Man braucht den anderen, aber nur für die Like-Buttons hochgeladener Postings und anerkennende Kommentare. Die Umwelt und die Mitmenschen werden nur noch als verstärkendes Vehikel der Selbstdarstellung betrachtet. Was wir brauchen, sind Menschen, die ihre wirkliche Umwelt, ihre Mitmenschen aus Fleisch und Blut wieder intensiv und aufmerksam wahrnehmen. Achtsamkeit sollte keine leere Floskel oder lediglich ein therapeutischer Ratschlag für Ausgebrannte sein. Es geht nicht darum, die Technik zu verteufeln. Sie hat zahlreiche segensreiche Wirkungen und Anwendungsmöglichkeiten. Sie sollte aber auch nicht vergöttert und verabsolutiert werden. Zu bedenken gibt nämlich, dass die auf sozialen Medien, mit Smartphone und Internet tatsächlich verbrachte (Lebens)Zeit subjektiv als viel niedriger eingestuft wird – Zeit, die wir für andere Dinge und Menschen besser hätten nutzen können. Freie Zeit sinnvoll zu nutzen, ist ein Zeichen von Kultiviertheit. Darüber sollten wir nachdenken: Warum wir freie Zeit immer gleich durch Videospiele, Sinnlossurfen oder Endlosserien totschlagen müssen, die Stille und das Untätigsein (was gedanklich im übrigen kaum möglich ist) hingegen kaum mehr ertragen können.

Wir sollten zudem bestrebt sein, wieder mehr konkret Gutes zu tun, aber im Verborgenen, im alltäglichen, realen Leben, nicht im technologievermittelten Miteinander, nicht im medialen Niemandsland. Gutes tun – und nicht darüber sprechen, also das Gegenteil von dem praktizieren, was Influencer, Serviceclubs à la Rotary oder Lions-Club, Politiker und PR-Abteilungen von Unternehmen durch Greenwashing, Sponsoring, Agenda Setting und Issues Management praktizieren, um ihren Wert und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu steigern. Gott sieht das verborgene Opfer, so wie Jesus das Scherflein der armen Witwe sah. Er liebt es um ein vielfaches mehr als die hinausposaunte gute Tag, die ihren Lohn vor den Menschen schon empfangen hat. Jeder sollte sich selbst überlegen, wo er im Stillen, nach seinen Kräften und Möglichkeiten wirken kann – vom Lächeln und dem Verzicht auf mürrisches Verhalten, Nachrede, Neid und vorschnelles Urteilen gegenüber Mitmenschen über ein liebevolles Gespräch, in dem man nicht auf die Uhr schaut, wenn der andere nicht sofort auf den Punkt kommt, aufrichtende und ermutigende Worte (nicht miesepetriges Dauerjammern, Kritisieren und Schlechtreden), wahrhaftiges und authentisches Auftreten (nicht Lügen, Intrigieren und Manipulieren) bis hin zu Geldspenden, unentgeltlichen Hilfeleistungen und natürlich dem Gebet. Der kleine Weg, wie ihn Thérèse von Lisieux beschrieben hat, die Heiligung im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Familie, wie sie Josemaría Escrivá im Dienst an und für Gott (Opus Dei) empfohlen hat. Das sind auf dem Evangelium aufbauende, mögliche praktische Ansätze, an denen wir uns orientieren können. Wir wachsen als Einzelne nur, wenn wir den anderen lieben, und als Gesellschaft nur, wenn wir das Wohl möglichst vieler im Blick behalten. Dies setzt voraus, das wir uns selbst erkennen, uns so annehmen, wie wir sind, mit all unseren Unzulänglichkeiten, uns dennoch selbst genügend lieben lernen, das heißt auch fürsorglich und liebevoll mit uns selbst umgehen, selbstbestimmt und freudig handeln, gleichzeitig genügsam und bescheiden, demütig und dankbar in allen Dingen bleiben. Ohne die Gewissheit, hierbei von der unergründlichen Liebe Gottes umhüllt zu sein, wird es schwieriger sein, diese Einstellung, speziell im persönlichen Leid, zu entwickeln. Wer sich als ein von Gott unendlich geliebtes Kind sieht, auf das nach diesem irdischen Jammertal das verheißene Erbe, das himmlische Paradies, wartet, wird alle Unbilden des Lebens mit viel größerer Gelassenheit (er)tragen.

Doch wer hofft noch ernsthaft auf paradiesische Zustände nach dem Tod? Wer sehnt sich gar danach? „Mach es dir im Diesseits schön, im Jenseits gibt’s kein Wiedersehen.“ Dies ist eine häufig anzutreffende, wenn auch eher unbewusst bzw. unreflektiert gelebte und akzeptierte Lebenseinstellung unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Im Gegenzug heißt es dann, möglichst viel an sich zu raffen und das Erworbene mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, wenn jemand es einem womöglich wieder abnehmen möchte (abgründiges Misstrauen gegenüber der Umwelt ist eine weitere Nebenfolge, die den Betroffenen nicht eben glücklicher macht). Auch die Gier nach Aufmerksamkeit, Karriere und irdischem Erfolg zählen hierzu. Als Schattenseiten stellen sich Suchtverhalten und Depression ein, wenn all diese irdischen Versprechungen ausbleiben und Gott als letzter Zufluchtsort, als unendlich geduldiger Zuhörer fehlt, vor den wir all unser Leid, unsere persönlichen Sorgen und Nöte im Gebet vertrauensvoll tragen dürfen. Was nützt es euch, wenn ihr die ganze Welt gewinnt und eure Seele dabei Schaden nimmt (Mt. 16, 26)?

Ohne den festen Glauben an ein Jenseits und einen barmherzigen, vergebungsbereiten Gott versiegt die Quelle der Güte und Mitmenschlichkeit, erlischt der Funke der Leidenschaft, uneigennützig Gutes zu tun. Damit werden auf lange Sicht die Fundamente (Werte, Sittlichkeit), auf denen eine Gesellschaft ruht, unterspült. Rechenschaft abgeben heißt nicht nur ökonomisch verkürzt, seine Rechnungen zu begleichen und über seine Vermögensverhältnisse jederzeit Aufschluss geben zu können, sondern auch dafür gerade zu stehen, was man an guten Worten und Taten in seinem Leben unterlassen hat, was man an den einem übergebenen Talenten nicht, unzureichend oder nur egoistisch genutzt hat. Verantwortung heißt: Du wirst Antworten geben müssen vor dem ewigen Richter. Aber wer begreift Verantwortung heute noch wirklich so? Heißt es nicht eher: Die Regeln zum eigenen Vorteil brechen, es sich entsprechend richten und alles daran setzen, sich dabei nicht erwischen zu lassen? Die „da oben“ machen es ja auch nicht anders, bedienen und bereichern sich am Volk. Der gottlose Staat mutiert nach Augustinus allmählich zur organisierten Räuberbande. Wie Würmer fressen sich Habgier, Lüge, Betrug und Korruption durch sämtliche gesellschaftliche Schichten. Der Ehrliche ist der Dumme (so wie jetzt der redliche Sparer für die unredlichen Schuldenmacher büßen muss). Der moralisch integer handelnde Mensch steht scheinbar auf verlorenem Posten, doch nur scheinbar, denn sub specie aeternitatis, unter dem Blickwinkel der Ewigkeit, hat er die besseren Karten in seiner Hand (und bereits im Diesseits wird er die besseren Freunde und die tragfähigeren Beziehungen haben, wird eine tiefe, innere Freude in sich spüren, die weit über den flüchtigen Spaß hinaus geht, den diese Welt zu bieten hat). Die demokratische Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht hervorzubringen vermag, so das Böckenförde-Diktum, das den Ausgangspunkt für den 2004 stattgefundenen Dialog zwischen dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger und dem Philosophen Jürgen Habermas gebildet hat, was letzteren bis zum heutigen Tag dazu veranlasst hat, über das Verhältnis von Glauben und Wissen zumindest nachzudenken (und darüber auch zu publizieren). Auf welchen Säulen ruht unsere Gesellschaft? Welches Wertefundament trägt sie? Wie nachhaltig, um dieses überstrapazierte Wort heranzuziehen, sind reiner Hedonismus, Materialismus, Ökonomismus und Konsumismus? Oder, um sinngemäß Erich Fromm zu zitieren: Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und verliere, was ich habe? „Net olles, wos an Wert hot, muas a an Preis hobn“, hat es Wolfgang Ambros in seinem Lied »A Mensch möcht i bleibn« noch griffiger ausgedrückt.

Die transzendental obdachlose Gesellschaft schafft sich am Ende selber ab, indem sie sich, wenn nicht egoistisch atomisiert, so doch egoistisch tribalisiert. Es gibt keinen sozialen Kitt mehr, der alle Individuen und Gruppen zusammenhält, keine Gemeinschaft, kein echtes Mit- und Füreinanderdasein. Das, was Goethe über das himmlische Paradies gesagt hat, gilt in noch viel stärkerem Maße für unser irdisches Dasein: „Mir gäb es keine größre Pein, wär ich im Paradies allein.“ Die beste Vorstellung über die Hölle als ein Ort des Ausschlusses anderer liefert immer noch dieses Bild, dessen Ursprung unbekannt ist: Alle sitzen um einen großen Topf herum, die Löffel aber sind zu lang, um selber essen zu können. Es bedarf der Bereitschaft, sich gegenseitig und behutsam zu füttern, um an der leckeren Speise teil zu haben, schließlich ist genug für alle da. Wir müssen wieder mehr in der Wir-Form, weniger in der Ich-Form zu denken und zu handeln lernen. Auch wenn das ökonomische Prinzip überdominant geworden ist: Wir müssen die Bereitschaft entwickeln, mit warmen Händen zu geben, ohne berechnendes Denken, ohne ein kalkulierendes Schielen auf die Dankbarkeit des Gegenübers, ohne die ständige Suche nach dem eigenen Vorteil. Hierzu braucht es wieder die Strahlkraft einer tiefen christlichen Vision, die die Missionare einst in die Ferne getrieben hat, nicht den Lockruf des Goldes, dem die Konquistadoren gefolgt sind. Sende aus Deinen Geist, o Herr, und das Antlitz der Erde wird neu!


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Lesermeinungen

 LeanderO. 30. Juli 2022 
 

Wachrüttelnd

Vielen Dank für diesen hervorragend Beitrag.
Es erscheint nicht nur 'billig und recht' sondern auch äusserst nützlich, in unserer so schnelllebigen Welt auf die (eignetlich) offensichtlichen Dinge wiederhingewiesen zu werden.


1
 
 Lemaitre 28. Juli 2022 
 

...

Ein weiteres Beispiel ist die Pervertierung des Gleichnissen vom Barmherzigen Samariter, in dem gerade die atheistisch-nationalistischen irgendwas vom Unterschied zwischen Nächsten- Und Fernstenliebe fabulieren. Ob sie diese "Argumentation" wohl auch beim Gericht aufrecht zu erhalten versuchen?


0
 
 si enim fallor, sum 28. Juli 2022 
 

Maß und Klugheit sind auch christliche Tugenden

Wenn man radikal agiert:
Das schreckt nicht nur diejenigen ab, die mitfühlendere, barmherzige Absichten haben, sondern am Ende kann man nicht einmal für das Essen der eigenen Familie und Gemeinde aufkommen.
Und außerdem: Wenn man keinen Wohlstand schafft, kann man auch nichts verteilen.

Übrigens: Ökonomie besteht darin, a) eine Menge von Gütern und Dienstleistungen mit dem geringstmöglichen Einsatz von Mitteln zu produzieren oder b) die maximale Menge von Gütern und Dienstleistungen mit einer gegebenen Menge von Mitteln zu produzieren.


Und dies kann nur mit Intelligenz und durch die beste Verwaltung der möglichen Mittel erreicht werden. Zum Beispiel in der heutigen Landwirtschaft: Erntemaschinen, Düngemittel, Bewässerungssysteme, sichere Lagerungssysteme für die Ernte, Pflege des Bodens, damit er nicht entmineralisiert wird, usw., usw..


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