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| Abtreibung und die Absolutheit des Menschenrechts auf Leben31. Mai 2023 in Interview, 19 Lesermeinungen Kardinal Gerhard Ludwig Müller: „Tötung eines unschuldigen Kindes ist unbarmherzig“ – „Moralischen Extremkonstellationen werden von Abtreibungslobby und den Ideologen der Bevölkerungsdezimierung missbraucht.“ kath.net-Interview von Lothar C. Rilinger Rom (kath.net) Das Recht auf Leben ist das Menschenrecht, das jeder Staat und auch die Kirche zuvörderst zu schützen haben. Allerdings wird dieses Recht vermehrt in Frage gestellt, da das Menschenbild einem fundamentalen Wandel ausgesetzt ist. Galt nach der bisher aus dem Christentum abgeleiteten Auffassung, dass der Geist und der Körper eines jeden Menschen eine Einheit bilden, so dass jeder Mensch, ob geboren oder ungeboren, ob krank oder gesund, ob behindert oder eben nicht, über das Menschenrecht auf Leben verfügt, soll durch den Wandel des christlichen Menschenbildes auch der christliche Humanismus, der dieser Auffassung zugrunde liegt, in den Trans- oder Posthumanismus umgewandelt werden. Dieser spaltet jedoch den Menschen in einen Dualismus von Geist und Körper auf, mit der Folge, dass das Menschenrecht auf Leben nicht mehr dem Menschen als Einheit von Geist und Körper zugeordnet wird, sondern ausschließlich dem Geist, als einem autonomen Selbstbewusstsein in bedingungsloser Selbstbestimmung. Damit wird nicht nur der Leib des anderen Menschen, sondern auch der eigene Körper zu einem bloßen Werkstoff, den man nach Belieben manipulieren, umgestalten und ummodeln kann. Danach soll ein Mensch, weil er noch nicht geboren oder krank oder behindert ist und deshalb nicht oder nicht mehr über Geist, also Selbstbewusstsein, verfügen, er also keine oder noch keine Interessen geltend machen könne, auch kein Recht auf Leben geltend machen können. (vgl. Norbert Hoerster, Wie schutzwürdig ist der Embryo? Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung, Velbrück 2014) Die Absolutheit des Menschenrechts auf Leben wird in Frage gestellt, so dass dieses Menschenrecht relativ, also positivistisch wird. Diese Diskussion hat die Erörterung des Abtreibungsrechtes, das in Frankreich sogar Verfassungsrang erhalten und nach Auffassung der französischen Regierung auch in den Grundrechtekatalog der EU aufgenommen werden soll, angeheizt. Über das Verbot der Einschränkung des Lebensschutzes haben wir mit dem Dogmatiker und Dogmenhistoriker Kardinal Gerhard Ludwig Müller gesprochen. Lothar C. Rilinger: Das transhumanistische Menschenbild erkennt den ungeborenen Menschen nicht als Rechtssubjekt an, sondern als „Zellhaufen“, sogar als „parasitären Zellhaufen“ oder auch als „Schwangerschaftsgewebe“, das die Qualifizierung des ungeborenen Menschen als Sache verschleiern soll, da im Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung ungeborene Menschen nicht als Sache, über die man beliebig verfügen kann, angesehen werden. Die Abtreibung bis zur letzten logischen Sekunde soll nach dem transhumanistischen Weltbild erlaubt und entkriminalisiert werden. Auch wenn der Katholik nicht dem Transhumanismus folgen kann und damit der vollständigen Entkriminalisierung der Abtreibung, drängt sich die Frage auf, ob das absolute Abtreibungsverbot auch von der Kirche aufrechterhalten werden kann. Sollte die ungewollte Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung sein, ergibt sich die Frage, ob es einer Frau zugemutet werden muss, nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch nach der Geburt jede Sekunde an das Verbrechen der Vergewaltigung erinnert zu werden und in dem Kind immer das Gesicht des Verbrechers sehen zu müssen. Muss nicht auch das Menschenrecht der Mutter auf ein würdevolles Leben berücksichtigt werden, so dass in diesem Fall die Abtreibung auch seitens der Kirche erlaubt werden sollte? Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Die Atheisten meinen aus ihrem materialistischen Weltbild ableiten zu können, dass die „Elite“ der Mächtigen und Reichen ermächtigt sei, das Lebensrecht der restlichen Menschheit nach ihren Kriterien von Stand, Klasse, Rasse, ökonomischer Verwertbarkeit zu taxieren. Vom ungeborenen Menschen im Mutterleib als Zellhaufen zu sprechen, ist schon rein biologisch betrachtet ein Nonsens, der jedem wissenschaftlichen Standard widerspricht. Alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden immer damit gerechtfertigt, dass die „Sklaven“ (etwa in den Südstaaten der USA) keine vollwertigen Menschen seien oder dass im Sozialdarwinismus die Juden und Slawen von den „arischen“ Herrenmenschen als Untermenschen versklavt oder ausgerottet werden dürften. Dass jede Form des Rassismus oder Klassendenkens der Erschaffung jedes Menschen nach Gottes Bild und Gleichnis diametral widerspricht, liegt auf der Hand. Aber auch wo die allgemeine Menschenwürde nicht wie in der jüdisch-christlichen Anthropologie theistisch begründet wird, ist es auch der agnostischen Vernunft klar, dass das Recht der Tötung von Menschen durch Menschen jedem friedlichen Zusammenleben den Boden entziehen müsste und dass nur dort der Krieg aller gegen alle verhindert wird, wo wenigstens der kategorische Imperativ Kants beachtet wird. „Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.“ (I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Teil, 1.Buch, 3. Hauptstück (Kant Werke 6, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1968, 210. Rilinger: Im Falle der Vergewaltigung treffen die Interessen und die Rechte der Frau und des ungeborenen Kindes aufeinander. Muss es die vergewaltigte und tief traumatisierte Frau hinnehmen, die Folge des Verbrechens ihr Leben lang vor Augen zu haben oder entspräche es nicht doch der Barmherzigkeit, die immer wieder als das eigentlich christliche Moment bezeichnet wird, das Recht des Kindes zu Gunsten des Rechtes der Frau zurücktreten zu lassen, um ausnahmsweise das Recht der Mutter auf Vergessen und Überwindung des Traumas höher zu bewerten? Kard. Müller: Dort, wo ein Kind nicht gemäß dem ursprünglichen Schöpferwillen Gottes in der Liebe von Mann und Frau, sondern im Zusammenhang eines kriminellen Gewaltaktes gezeugt wird, ist dennoch zu sagen, dass das Recht auf Leben dem Kind von Gott zugesagt wird und auch von der Vernunft anerkannt werden kann. Die Strafe muss den Vergewaltiger treffen, nicht aber das unschuldige Kind, dem man sein Leben nimmt. Die Frau ist wegen des allerengsten Verhältnisses von Mutter und Kind körperlich verletzlicher und gefährdeter als der Mann. Ich denke hierbei an Komplikationen bei der Schwangerschaft und bei der Geburt. In einer so extremen Situation der Vergewaltigung oder Leihmutterschaft – wenn die bestellten Kinder nicht abgeholt werden oder bei voraussichtlichen Behinderungen des Kindes – sind sicher die Möglichkeiten des staatlichen Rechts an eine Grenze gekommen. In der Abwägung des Lebensrechts zwischen Mutter und Kind fallen moralische und geistliche Dimensionen ins Gewicht. Ich kenne Mütter, die im Fall einer Risikoschwangerschaft statt das Kind nach dem Rat der Ärzte töten zu lassen, das Risiko des eigenen Lebens als Opfer für ihr Kind im Vertrauen auf Gott als den gerechten Richter gewagt haben. Aber denken wir bei solch übernatürlicher Opferbereitschaft, die von keiner menschlichen Autorität eingefordert werden kann, auch an das Beispiel von Maximilian Kolbe, der als Priester freiwillig sein Leben für einen Familienvater anbot, der zum Hungertod verurteilt worden war. Im Fall der Zeugung eines Kindes bei einer Vergewaltigung ist es ja nicht das Leben eines jungen Menschen, das seine Mutter traumatisiert, sondern die an ihr verübte Gewalttat eines Verbrechers. Die Erinnerung daran würde mit der Tötung des unschuldigen Kindes nicht ausgelöscht, sondern mit einem eigenen Vergehen am Leben eines Unschuldigen belastet. Die Existenz eines Menschen ist eben kein Problem, das man damit löst, dass man ihn tötet. Das ohne jede eigene Schuld ins Dasein getretene Kind kann nicht mit seinem Leben die Schuld eines Dritten bezahlen. Eine Frau, die durch eine Vergewaltigung Mutter geworden ist, ist allerdings nicht sittlich verpflichtet, dieses Kind bei sich aufwachsen zu lassen. Hier gibt es die Möglichkeit der Adoption. Der Straftäter ist allerdings vom Staat her zur Zahlung des Unterhaltes heranzuziehen. Rilinger: Wäre es in der moralischen Betrachtung gerechtfertigt, zwischen der Vergewaltigung durch den eigenen Ehepartner im Rahmen des Scheidungsverfahrens oder durch einen fremden Dritten zu unterscheiden? Kard. Müller: Ich meine nicht, weil das Lebensrecht einem Menschen durch Gott zukommt und nicht von den schlimmen Umständen seiner Zeugung relativiert werden kann. Denn das würde den Übeltäter entlasten, der sich seiner Verantwortung für das von ihm gezeugte Kind entzieht. Das Opfer dieses Verbrechens würde zwar durch das Nichtdasein des Kindes nicht sichtbar an das ihm angetane Verbrechen erinnert. Dennoch wäre mit der Tötung des Kindes die Untat nicht ungeschehen gemacht und die Erinnerung an das unschuldige getötete Kind würde doch das Gewissen belasten. Doch wie viele Menschen müssen mit der Erinnerung und den Folgen von Unrecht leben? Nur weil wir auf Gott den gerechten Richter hoffen, verzweifeln wir nicht wie einst der Schmerzensmann Hiob, weil wir wissen, dass am Ende Gott alle Tränen aus unseren Augen wischen wird. Rilinger: Kann es gerechtfertigt sein, dem Opfer die Leiden der Vergewaltigung ein Leben lang vor Augen zu führen, weil andere Personen ebenfalls Unrecht erlitten haben, schließlich könnte dieses Argument bedeuten, dass der Gläubige auch andere Unbill zu ertragen habe, nur weil diese Unbill auch Dritten zugefügt worden ist. Muss es nicht vielmehr Aufgabe der Kirche sein, die Gläubigen vor Unheil und Unrecht zu bewahren? Kard. Müller: Dass wir die körperlichen und seelischen Leiden, die uns andere zugefügt haben, oft ein Leben lang ertragen müssen, kommt doch aus dem Faktum der Untat und nicht weil das irgendjemand aus sadistischen Gründen den Opfern vor Augen halten will. Das Unrecht kann nicht ungeschehen gemacht werden, sondern nur im Blick auf die größere Gerechtigkeit Gottes ertragen werden, der allein die Welt vom Bösen und Tod erlöst. „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, die wir den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne und Töchter Gottes offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung…“ (Röm 8, 22-24). Rilinger: Wenn auch die Abtreibung nach einer Vergewaltigung, selbst durch einen fremden Dritten, seitens der Kirche nicht erlaubt sein soll, ergibt sich die Frage, wie der schwangeren Frau, die das Kind eines Verbrechers unter ihrem Herzen trägt, geholfen werden kann. Wie müsste diese Hilfe während der Schwangerschaft und auch danach ausgestaltet sein? Kard. Müller: Ich möchte in diesem Zusammenhang erinnern an ein Trostwort des hl. Augustinus zur Gewissensnot der vergewaltigten Frauen bei der Einnahme Roms durch die Goten (410 n. Chr.) oder auch bei der Eroberung Nordafrikas durch die Vandalen. Selbst wenn wegen der Vorgaben der leiblichen Natur des Menschen bei einer Nötigung oder heimtückischen Verführung zwangsweise Lust erregt wurde, bleibt die Tugendhaftigkeit der Seele. Also die Hilfe aus christlicher Nächstenliebe beschränkt sich nicht nur auf die materielle Hilfe in der Sorge für das leibliche Wohl von Mutter und Kind. Wichtig ist es auch in sensibler geistlicher Hilfe mitzuwirken, dass das Selbstgefühl von der eigenen, ihrem innersten Gehalt nach unverletzlichen Menschenwürde wieder hergestellt und erneuert wird. Rilinger: Auch wenn die vergewaltigte Frau selbstverständlich durch die Vergewaltigung keine Sündenschuld auf sich genommen hat, schließlich hat die Frau nicht das Verbrechen der Vergewaltigung begangen, sondern der Täter, stellt sich die Frage, wie die Kirche die Abtreibung bewertet, wenn die Frau entgegen der moralischen Vorgaben der Kirche die Abtreibung des Kindes vornimmt. Soll die Frau gezwungen werden, die Abtreibung zu bereuen, um von Sündenschuld befreit zu werden und damit die Vergewaltigung als hinzunehmendes schreckliches Übel zu akzeptieren? Kard. Müller: Wir kommen immer wieder auf die gleiche m. E. grundfalsche These zurück, dass die Abtreibung, also die Tötung eines unschuldigen Kindes, das Verbrechen der Vergewaltigung ungeschehen oder zumindest vergessen macht. Es wäre ja völlig absurd, wenn die Kirche das Opfer eines Verbrechens zwingen wollte, diese Untat als hinzunehmendes Übel zu akzeptieren. Das Verbrechen an der Frau ist das Übel, nicht das lebende Kind. Die Folgen eines schweren Unrechts, etwa der Verstümmelung im Krieg oder die Folgen eines Unfalls ohne eigene Schuld, kann ich doch nicht beseitigen, indem ich an einem dritten Unbeteiligten Unrecht verübe. Auch die gerechte Strafe für den Straftäter tut der Gerechtigkeit genüge, kann aber die oft schwerwiegenden Folgen des Verbrechens nicht aus der Welt schaffen. Hier ist es Gott allein, der uns tröstet und der unsere Wunden birgt in den Wunden seines leidenden und unschuldig ans Kreuz geschlagenen Sohnes. Denken wir auch an die Mutter Jesu, die ihrem Sohn zuliebe sieben Schmerzen auszuhalten hatte und uns darin Vorbild und Trösterin ist in unseren Leiden. Rilinger: Sollte sich während der Schwangerschaft herausstellen, dass der ungeborene Mensch so schwer geschädigt ist, dass er nach der Geburt trotz technischer Hilfe nicht lebensfähig sein würde und deshalb kurz nach der Geburt eines natürlichen Todes sterben müsste, erhebt sich die Frage, ob es der Mutter zuzumuten ist, das Kind auszutragen. Könnten Sie sich vorstellen, dass es im Falle der Schwerstbehinderung eines Embryos dessen Abtreibung erlaubt werden müsste? Kard. Müller: Das sind extreme Situationen, wo eine Bewertung nach sittlichen Prinzipien in Gefahr gerät, teilnahmslos und kalt zu wirken. Von außen her ist es immer leichter, zu reden, als wenn man unmittelbar beteiligt ist. Aber dennoch können wir auch das Kind nicht zum Tode verurteilen, nur weil es behindert wird. Und was dann nach der Geburt geschieht, wissen wir nicht. Wie oft schon war die Diagnose oder die Prognose falsch. Ein leidfreies Leben vermag auch die fortschrittlichste Medizin und Technologie nicht herzustellen. Ich habe schon viele geistig und körperlich behinderte Menschen erlebt, die jenseits ihrer eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeiten eine tiefe Würde und Liebe ausstrahlten. Letztlich müssen wir die Grenzen der menschlichen Urteilskraft anerkennen und dürfen alles getrost Gott anempfehlen. Er wird uns über alle Geheimnisse unseres Lebens, die für unseren Verstand zu hoch waren, später aufklären. Rilinger: Sie sprechen von Extremsituationen. Ja, nur um diese handelt es sich. Ich spreche nicht von behinderten, auch nicht von schwerbehindert ungeborenen Kindern, ich denke vielmehr an ungeborene schwerstbehinderte Menschen ohne Rückgrat oder Gehirn. Diese Menschen müssen zwangsläufig nach der Geburt auf natürliche Weise sterben. Es gibt Behinderungen, die nach der Geburt unverzüglich zum Tod führen müssen – was im Übrigen nicht mehr der Diskussion der Ärzte unterliegt, so dass eine Heilung nicht möglich ist und nach den übereinstimmenden Erkenntnissen der Wissenschaft zwangsweise zum schnellen Tod führen muss. Nur um solche schwerstbehinderten, nicht lebensfähigen Menschen geht es. Muss es der Frau trotzdem moralisch zugemutet werden, dass sie das Kind austrägt und alle Beschwernisse der Schwangerschaft hinnehmen muss, wohl wissend, dass das Kind auf Grund der schwersten Behinderung nicht die Geburt überleben wird? Kard. Müller: Man kann nicht einfach pragmatisch das Leben eines Menschen gegen die Leiden und Sorgen eines Beteiligten oder zutiefst mit ihm verbundenen Menschen, in diesem Fall die Mutter, gegeneinander ausspielen, so dass jeder, der vom unbedingten Lebensrecht jedes Menschen ausgeht, psychologisch mit dem Makel des kalten Prinzipienreiters belastet wird. Es gibt ethisch den Unterschied zwischen aktivem Töten und dem Sterbenlassen in medizinisch aussichtslosen Situationen. Es ist auch nicht richtig, theoretisch die Diskussion kasuistisch in extremste Situationen voranzutreiben, um am Ende das unbedingte, jedem Menschen von Natur zukommende Recht auf sein Leben doch nur wieder zum Gegenstand einer utilitaristischen Abwägung von mehr gegen weniger lebenswertem Leben zu machen. Wir können keine konsequentialistische Ethik akzeptieren, die es leugnet, dass es böse Handlungen in sich gibt, die sich der Logik von Regel und Ausnahme entziehen. Denn das Gegenteil ist der ethische Relativismus, der keine Grenzen mehr kennt. Warum sollen wegen des Überlebens eines Teils der Menschheit im Sinne des Malthusianismus nicht die weniger Nützlichen geopfert werden, wenn die Ressourcen unseres Planeten nicht für alle reichen? Rilinger: Und eine dritte Fallkonstellation möchte ich ansprechen. Im Falle einer Schwangerschaft treffen die Rechte des Kindes und diejenigen der Mutter aufeinander. Sollte sich herausstellen, dass die Geburt nur das Kind überleben kann, die Mutter aber – aller Voraussicht – sterben müsste, das Leben der Mutter aber durch Abtreibung des ungeborenen Kindes gerettet werden könnte, ergibt sich die Frage, ob sich die Mutter, die vielleicht noch für weitere Kinder sorgen muss, für das Kind opfern muss oder wäre es dann gerechtfertigt, das Leben der Mutter zu Lasten des ungeborenen Kindes zu retten. Kard. Müller: Mit diesen Konstruktionen von Einzelfällen müssen wir immer vorsichtig bleiben, weil solche moralischen Extremkonstellationen von der Abtreibungslobby und den Ideologen der Bevölkerungsdezimierung gerne missbraucht werden. Mit Hilfe von konstruierten Ausnahmen wollen sie das absolute moralische Verbot der Tötung von Menschen durch Menschen relativieren oder sogar ins Gegenteil verkehren, d.h. ein Recht auf Tötung ungeborener oder behinderter Menschen zu konstruieren oder gar eine moralische Pflicht zur natürlichen und künstlichen Selektion überflüssigen Menschenmaterials zu reklamieren. Wie die öffentliche Meinung auf der ganzen Welt in dieser Richtung systematisch beeinflusst wird, hat Grégor Puppinck in seinem, ursprünglich auf Französisch geschriebenen Buch mit dem deutschen Titel „Der denaturierte Menschen und seine Rechte“ (Heiligenkreuz im Wienerwald 2020) deutlich aufgezeigt. Er beschließt seine hochinformative Untersuchung der weltweiten Bedrohung der Humanität durch eine atheistisch-materialistische Weltanschauung totalitärster Unmenschlichkeit mit den Worten: „Wird [die Nächstenliebe] abgeschafft, so verlieren wir alle unsere Humanität: Sie wird weder durch Machtträume noch durch kluge Diskurse verwirklicht, sondern nimmt in der Wirklichkeit der Existenz Gestalt an. Man muss die Gnade empfangen haben, sie um ihrer selbst willen zu begehren. Angesichts der neuen Grenzüberschreitungen, die unser Mensch-Sein bedrohen, ist das Eigentümliche des Menschen, das erhalten und kultiviert werden muss, nicht die von Fleisch und Blut abgelöste Allmacht, sondern das genaue Gegenteil davon: die fleischgewordene Nächstenliebe.“ (S. 275). Die „gewisse Ähnlichkeit“ zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und Liebe Christi, des Fleisch gewordenen Wortes, des ewigen Sohnes des Vaters, „macht offenbar, dass der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann.“ (II. Vatikanum, Gaudium et spes 24). Rilinger: Sollte die Kirche darauf bestehen, dass die Mutter das Risiko des Sterbens während der Schwangerschaft oder der Geburt eingehen muss, stellt sich diese Forderung zwar nicht als Beeinträchtigung des Lebensrechts des Kindes dar, aber als Negieren des Lebensrechtes der Mutter. Der Tod der Mutter wird hingenommen, um dem Prinzip zu genügen, dass das Lebensrecht des Kindes absolut ist. Damit wird aber das Lebensrecht der Mutter verletzt. Ist es deshalb moralisch gerechtfertigt, einen Qualitätsunterschied zwischen dem Recht der Mutter auf Leben und dem Recht des Kindes auf Leben zu machen? Kard. Müller: Das Lebensrecht der Mutter wird verletzt oder gefährdet durch den Straftäter, aber nicht durch das unschuldige Kind, das sie in ihrem Leibe trägt. Es ist auch nicht zu vergleichen, mit der furchtbaren Situation im Kriege, wo sich zwei Soldaten gegenüberstehen und sich sagen müssen, entweder schieße ich oder du zuerst. Medizinisch ist alles zu tun, um das Leben von Mutter und Kind zu retten. Ethisch kann es nicht akzeptiert werden, dass einer von beiden aktiv und bewusst umgebracht wird. Das menschliche Handeln ist hier an eine Grenze gekommen, wo wir bekennen müssen, dass Gott und nicht wir Herr über Leben und Tod ist. Rilinger: Können Sie nachvollziehen, dass das kirchliche absolute Verbot der Tötung ungeborener Kinder selbst in Extremsituationen von vielen, auch strengen Katholiken als unbarmherzig angesehen wird? Kard. Müller: Nein, das kann ich nicht nachvollziehen, weil diese Sicht eine zumindest unfaire Unterstellung von Lieblosigkeit ist. Die Tötung eines unschuldigen Kindes ist unbarmherzig. Und die medizinische Extremsituation ist nicht durch die Ethik und die kirchliche Lehre bedingt, sondern durch eine Komplikation, die mit der Leidensanfälligkeit der menschlichen Natur verbunden ist. Aber das Unrechttun gegenüber einem unschuldigen Menschen kann nie die Lösung sein, die wir in unserem Gewissen vor Gott dem Schöpfer verantworten können. Rilinger: Die Bundesregierung hat vor einem Jahr ein Gesetz erlassen, wonach das Schreddern von männlichen Küken verboten ist. Jetzt wird im politischen Diskurs darüber nachgedacht, auch das Vernichten von befruchteten Eiern, in denen sich ein männliches Huhn entwickelt, zu verbieten, weil auch schon die Lebewesen im Ei Schmerz empfinden und die Tötung deshalb nicht mit dem Tierwohl zu vereinbaren ist. Der tierischen Sache darf kein Schmerz zugefügt werden, aber durch die Abtreibung dem ungeborenen Menschen, der im Transhumanismus ebenfalls als Sache eingestuft wird. Der ungeborene Mensch, dem nach unserer Rechtsordnung auch Menschenrechte zustehen, darf getötet werden, obwohl auch der ungeborene Mensch Schmerzen empfindet, wenn er im Vollzug der Abtreibung zerstückelt wird. Das Tierwohl wird im Verhältnis zum Menschenwohl offensichtlich als höherstehend angesehen. Wie würden Sie diese unterschiedliche Wertung beurteilen? Kard. Müller: Das ist offensichtlich ein schreiender Widerspruch. Aber Ideologen halten, da sie die Wirklichkeit mit ihren Gedankenkonstruktionen verwechseln, die Logik für unerheblich, solange sie ihren Zielen widerspricht. Selbstverständlich ist der Mensch im Mutterleib keine Sache. Denn aus einer Sache kann nie eine Person werden. Weder naturwissenschaftlich noch philosophisch kann der genetisch und ontologisch mit sich identische Mensch in allen seinen Entwicklungsphasen als Objekt erniedrigt werden, über das ein Wesen seinesgleichen den Daumen selektierend senkt oder hebt, um ihn das Leben zu gewähren oder ihn der Vernichtung anheimzugeben. Gesetze solcher Art sind nichts anderes als formaljuristisch verschleierte „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Menschheit“. Sie hebeln den Konsens unserer Gesellschaft aus, auf dem unsere Demokratie beruht. Nach den furchtbaren Erfahrungen der menschenverachtenden Ideologien des Nationalsozialismus und des Kommunismus in der Sowjetunion und in Rotchina haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland diese fundamentale Wahrheit unserer Verfassung zugrunde gelegt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und die Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist es, sie zu schützen und zu bewahren. Der kirchliche und humanistische Einsatz für die Unbedingtheit der Menschenrechte des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit ist nur in seiner ganzen Tragweite zu verstehen vor dem Hintergrund der Schrecken der Weltkriege und der Unmenschlichkeiten der totalitären atheistischen Ideologien. Das II. Vatikanum erklärte dazu in der Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“: „Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ („Gaudium et spes“ 27.) Rilinger: Eminenz, herzlichen Dank! Archivfoto Kardinal Müller (c) Bistum Sandomierz kath.net-Buchtipp Lothar Rilinger (siehe Link) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht i.R. und stellvertretendes Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes a.D. Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte helfen Sie kath.net und spenden Sie jetzt via Überweisung oder Kreditkarte/Paypal! Lesermeinungen
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