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Visionen der Passion

7. April 2007 in Aktuelles, keine Lesermeinung
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Am Karfreitag zeigte Pro Sieben Mel Gibsons Film "Die Passion Christi". Von Michael Hesemann / Die Tagespost.


Würzburg (www.kath.net / tagespost) Der Vollmond taucht alles in sein mattes, kaltes Licht. Schwere Wolken hängen über der hügeligen Landschaft, vereinigen sich mit dem Nebel, der langsam vom Boden aufsteigt. Vögel kreischen, etwas Verhängnisvolles liegt in der Luft. Ein Mann betet mit der Kraft der Verzweiflung.

Blut durchsetzt die Schweißtropfen, die auf den kalten Stein klatschen. Seine Gefährten haben ihn verlassen, schlafen in der Nähe. Er weckt sie auf, denn er weiß, dass Unheil naht. Plötzlich taucht hinter ihm eine kreidebleiche Gestalt auf, weder Mann noch Frau und von eisiger Ausstrahlung.

„Glaubst Du wirklich, dass ein Mensch die Last der ganzen Sünde tragen kann?“, flüstert er ihm mit kalter, emotionsloser Stimme zu, bevor er wieder im Schatten verschwindet: „Ich sage dir, kein Mensch allein kann diese Last tragen. Sie ist viel zu schwer. Niemand, nie.“ Eine Schlange schleicht sich an den Beter heran, der sich demütig zu Boden geworfen hat. Dann steht er plötzlich auf, zertritt energisch der Schlange den Kopf. In diesem Augenblick tauchen Fackeln in der Finsternis der Nacht auf.

So beginnt Mel Gibsons filmisches Meisterwerk „Die Passion Christi“. Schon die ersten Minuten des Dramas um die letzten zwölf Stunden im Leben des Jesus von Nazareth geben Rätsel auf. Schon sie enthüllen die Quelle. Denn obwohl offiziell auf der Internetseite zum Film behauptet wird, dieser sei eine originalgetreue Wiedergabe der Passionsschilderungen der vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, ist dem nicht so. Denn in keinem der vier Evangelien ist von einer solchen Versuchung die Rede. Selbst bei Lukas, der das Gebet am Ölberg am ausführlichsten schildert, fordert Jesus lediglich seine Jünger auf: „Betet darum, dass ihr nicht in Versuchung geratet.“ (Lk 22, 40)

Von diesen Gewalttaten steht nichts in den Evangelien

Vielleicht wäre es ehrlicher gewesen, wenn Gibson gleich die wahre Quelle genannt hätte, auf der sein Filmepos beruht: nämlich die Visionen der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick (1774–1824) aus Coesfeld im Bistum Münster, die am 3. Oktober 2004 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen wurde. Ihre Visionen der Passion Christi hielt der romantische Schriftsteller Clemens Brentano in dem Buch „Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi“ fest.

Dort heißt es: „An der Erde war es düster, der Himmel war mondhell“, sah Jesus „von allen Seiten Angst und Versuchung, wie Wolken voll schrecklicher Bilder, nahen“, bevor ihm der Satan „in verschiedenen Gestalten des Abscheulichen“ erschien – darunter auch als Schlange. „Wie! Auch dies willst du auf dich nehmen, auch hierfür willst du die Strafe erleiden? Wie kannst du für dies genugtun“, flüsterte der Teufel „in furchtbarer Gestalt zwischen allem diesem Gräuel mit grimmigen Hohn“ dem Gottessohn zu.

Der aber „fiel hin und her und rang die Hände. Angstschweiß bedeckte ihn, er zitterte und bebte. Er richtete sich auf, seine Knie schwankten und trugen ihn kaum, er war ganz entstellt und schier unkenntlich, seine Lippen waren bleich, seine Haare stiegen empor.“ Erst als ein Engel ihm einen himmlischen Trank reichte, empfing er eine innere Stärkung, stand auf und ging mit sicheren Schritten zu seinen schlafenden Jüngern herüber.

Gleiches gilt für die nächste Szene. Jesus wird von den Schergen in Ketten abgeführt. Dabei kommt es zu schrecklichen Misshandlungen. Mehrfach wird er brutal geschlagen, schließlich von einer hohen Brücke geworfen, so dass er unter großen Schmerzen an den Ketten hängt. „Übertriebene Hollywood-Phantasie“, schrieben die Kritiker.

Tatsächlich steht von diesen Gewalttaten kein Wort in den Evangelien, wo es lakonisch heißt: „Die Soldaten, ihre Befehlshaber und die Gerichtsdiener der Juden nahmen Jesus fest, fesselten ihn und führten ihn zu Hannas.“ (Joh 18, 12–13) Nur Anna Katharina Emmerick erzählte: „Die Schergen stießen den armen gefesselten Jesus, den sie an den Stricken hielten, über mannshoch von der Brücke in den Bach Kidron nieder, wobei sie mit Schimpfworten sprachen (...)“.

Wird Judas Iskariot im Film von Kindern in den Wahnsinn und schließlich in den Selbstmord getrieben, so scheint auch das von der Stigmatisierten inspiriert, die, laut Brentano, erklärte: „Ich sah ihn wieder wie einen Rasenden im Tale Hinnon laufen, ich sah den Satan in furchtbarer Gestalt an seiner Seite, der ihm alle Flüche der Propheten über dieses Tal, wo die Juden einst ihre eigenen Kinder den Götzen geopfert, in die Ohren flüsterte, um ihn zur Verzweiflung zu bringen.“

Zeigt der Film minutenlang die blutige Geißelung, so ausgiebig, dass manch feinsinnige Gemüter gar nicht hinschauen konnten, so war auch dies keine „übertriebene Gewaltdarstellung“, kein „Mad Max goes to Golgatha“ wie die Kritiker monierten. Es war nur die filmische Umsetzung der ausgiebigen Schilderung der Geißelung Jesu, die im Brentano-Buch ganze sieben Seiten füllt.

Heißt es in den Evangelien wieder nur: „Darauf ließ Pilatus Jesus geißeln“ (Joh 19, 1), ist dort von drei aufeinander folgenden Geißelungen die Rede: Jesus „stand in ganzer menschlicher Blöße mit unendlicher Angst und Schmach an die Säule der Verbrecher aufgespannt, und zwei der Wüteriche begannen mit rasender Blutgier, seinen ganzen heiligen Rückleib von unten hinauf und oben herab zu zerpeitschen.

Ihre ersten Geißeln oder Ruten sahen aus wie von weißem, zähem Holze (...) Das zweite Paar der Geißelknechte fiel nun mit neuer Wut über Jesum her, sie hatten eine andere Art Ruten, welche kraus wie von Dornen waren und in denen hie und da Knöpfe und Sporen befestigt erschienen.“

Bei Emmerick wie bei Gibson wird Maria, die Mutter Jesu, Zeugin der Geißelung, während die Evangelien darüber schweigen. Am Ende gibt die besorgte Frau des Pontius Pilatus ihr frische Leinentücher, um das Blut ihres Sohnes aufzuwischen. Auch das ist ein Detail aus den Emmerick-Visionen. „Nun aber sah ich die heilige Jungfrau und Magdalena, als das Volk sich mehr nach einer andern Seite wendete, dem Geißelplatz nahen, und sie warfen sich (...) an die Erde bei der Geißelsäule nieder und trockneten das heilige Blut Jesu mit jenen Tüchern auf, wo sie nur eine Spur fanden.“

Ebenso der Kreuzweg. Die Evangelien berichten nichts von den Fällen und Stürzen Jesu auf dem Weg nach Golgota, die christliche Tradition, die sich in den Kreuzwegsandachten und an der Via Dolorosa in Jerusalem widerspiegelt, überliefert drei Stürze. Im Film „Die Passion Christi“ aber sind es sechs Fälle – wie bei Anna Katharina Emmerich: „Da fiel der arme Jesus zum sechsten Mal einen schweren, verwundenden Fall unterm Kreuze. Nun aber schlugen und trieben sie heftiger als je, bis Jesus oben auf dem Gerichtfelsen anlangte und mit dem Kreuze an die Erde niederstürzte zum siebenten Male.“

Als Jesus schließlich am Kreuz starb, berichten die Evangelien, „riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich“. (Mt 27, 51) Auch hier scheint Mel Gibson zu übertreiben, stürzen bei ihm doch auch die Säulen des Tempels ein. So aber steht es bei Brentano/Emmerick: „Die beiden großen Säulen des Einganges in das Sanktum des Tempels, zwischen welchen ein prächtiger Vorhang nieder hing, wichen oben auseinander (...) die Schwelle, die sie trugen, sank (...) In einigen Hallen sank hie und da der Boden, Schwellen verrückten sich und Säulen wichen.“

Öffnet schließlich der Legionär Cassius Longinus die Seite Jesu, „stehen die Umstehenden unter einer Dusche von Blutströmen“, wie das „Freenet“-Filmlexikon schreibt, um die Darstellung gleich zu bemängeln: „So sehen viele Kritiker Elemente von Splatter- oder Horrorfilmen in dem Film.“ Doch nicht Mel Gibsons Phantasie, sondern Anna Katharina Emmericks Vorlage bestimmte den Erguss von „Blut und Wasser“ (Joh 19, 34). Bei ihr „stürzte aus der weiten Wunde der rechten Seite Jesu ein reicher Strom von Blut und Wasser nieder und überströmte (des Legionärs) aufwärts gerichtetes Angesicht mit Heil und Gnade.“

Im mosaischen Gesetz war die Zahl der Geißelhiebe begrenzt

„Die Passion Christi“ ist also eine höchst realistische, werkgetreue Verfilmung des Brentano-Buches „Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi“. Es illustriert uns eindrucksvoll, was die Stigmatisierte in ihren Visionen sah. Lesen wir die Protokolle ihrer Beichtväter und Wegbegleiter, so erscheint der Film keineswegs übertrieben in seiner Gewaltdarstellung, sondern höchst realistisch.

Der einzige Vorwurf, der Mel Gibson zu machen ist, ist der einer falschen Quellenangabe. Er hätte sich gleich zu Emmerick bekennen sollen statt zunächst die Evangelien als seine einzige Quelle anzugeben. Erst nach dem Filmstart gestand er in diversen Interviews, 15 Jahre zuvor Emmericks Werk gelesen zu haben. Damals schon hatte er beschlossen, es eines Tages zu verfilmen.

Wie realistisch aber sind diese Visionen? Wie sind sie historisch zu bewerten? Um das zu klären lohnt es sich, sie anhand von sechs Beispielen zu untersuchen: Mit Sicherheit kam es bei der Festnahme Jesu im Garten Getsemani zu Misshandlungen. Ob sich diese allerdings so zutrugen, wie es Anna Katharina Emmerick beschrieb, ist eher fraglich.

Der Kidron ist ein schmales Bächlein, über den bestenfalls eine flache Brücke führte, die ganz gewiss nicht „mannshoch“ war. Zwar gab es eine Rampe, die den Ölberg mit der Tempelplattform verband und die von den Pilgern benutzt wurde. Doch zum Tempel brachten die Schergen Jesus eben nicht, sondern zu den Palästen der Hohepriester Hannas und Kajaphas in der Südstadt.

Laut Anna Katharina Emmerick wurde Jesus nach dem Verhör in das Verließ des Kajaphas-Palastes geworfen, das sie als „ein kleines, rundes Gewölbe“ beschrieb: „Ich sah, es besteht noch jetzt ein Teil dieser Stelle.“ Tatsächlich haben Assumptionisten-Patres im Jahre 1888 – also mehr als ein halbes Jahrhundert nach Veröffentlichung des Brentano-Buches – die Überreste des Kajaphas-Palastes am Südrand von Jerusalem ausgegraben und über ihnen die Kirche „St. Peter in Gallicantu“ („zum Hahnenschrei“) errichtet. Dort wird heute eine sechs Meter tiefe und vier Meter breite ehemalige Zisterne als „Gefängnis Christi“ gezeigt. Es ist durchaus möglich, dass Jesus hier festgehalten wurde, bevor man ihn bei Sonnenaufgang dem Pilatus vorführte.

Dort, im Prätorium, begann seine eigentliche Passion. Heute vermutet die Mehrheit der Archäologen die Residenz des römischen Statthalters im Palast der Hasmonäer oberhalb des Xystos-Platzes westlich vom Tempelberg und von diesem durch das Tyropoion-Tal getrennt.

Anna Katharina Emmerick beschrieb sie ganz zutreffend als „ziemlich erhöht, man steigt eine Marmortreppe von vielen Stufen hinauf, und er überschaut einen vor ihm liegenden geräumigen Marktplatz, der mit Hallen für die Kaufleute unter Säulengängen umschlossen ist“. Allerdings lokalisierte sie ihn fälschlich „am Fuße der Nordwestecke des Tempelberges“ hinter der Burg Antonia, der römischen Garnison.

Tatsächlich hielt man im 18. Jahrhundert einen Torbogen nordwestlich der Burg Antonia für jenen Ort, von dem aus Pilatus das berühmte „Ecce Homo“ sprach, identifizierte man ein Steinpflaster als das „Hochpflaster“ Gabbata, das Johannes erwähnte (Joh 19, 13). So kaufte ein Orden dieses Gelände und errichtete hier 1857 das Kloster Unserer Lieben Frau von Zion. Doch tatsächlich sind der Bogen und das Pflaster Teil eines römischen Forums, das erst im Jahre 135 von Kaiser Hadrian errichtet wurde.

Allerdings ist durchaus möglich, dass die falsche Lokalisierung auf Brentano zurückgeht, denn sie steht im Widerspruch zu anderen Angaben der Seherin, etwa der, dass „ein Graben“ den Palast vom Tempelberg trennt; damit konnte nur das Tyropoion-Tal gemeint sein. Zunächst ließ Pilatus Jesus geißeln, in der Hoffnung, mit einer solchen Züchtigung die Ankläger zufriedenzustellen.

Da sie als entwürdigend galt, war die Geißelung den „humiliores“, den Angehörigen der niederen Klassen, Sklaven, Freigelassenen und Provinzbewohnern ohne römisches Bürgerrecht vorbehalten. Artemidor, ein antiker Autor, beschreibt, dass zur Geißelung Verurteilte „an eine Säule gebunden“ wurden, in der Regel nackt, den Rücken gebeugt.

Zum Einsatz kam dabei die „schreckliche Geißelpeitsche“ („horribile flagellum“, wie sie Horaz nannte). Sie bestand aus einem Holzgriff mit drei Lederriemen, die in Knoten, kleinen Knochen oder Metallkugeln, oft (wie beim „flagellum taxellatum“) aus Blei und in der Form von Hanteln, endeten. Durch sie konnte die Geißelung zu einer äußerst blutigen Bestrafung werden, da sie die Haut ihrer Opfer aufrissen, „bis ihre Eingeweide offenlagen“.

Ulpianus, ein römischer Jurist der Spätantike, ergänzte: „Durch die Unmenschlichkeit der Ausführenden starben viele unter dieser Art von Geißelung.“ Bei den Juden war die Zahl der Geißelhiebe begrenzt, durfte sie nicht die „vierzig weniger einen“ des mosaischen Gesetzes (Dtn 25, 3) überschreiten, das von den Römern ausdrücklich respektiert wurde. Auf dem Turiner Grabtuch sind die Verletzungen durch die Geißelung deutlich erkennbar. Ihre einheitlich runde Form deutet darauf hin, dass sie von einer mit den „taxilli“ genannten Bleihanteln ausgestatteten Geißelpeitsche stammen.

Ihre zwei Richtungen bezeugen, dass zwei Henkersknechte an der Bestrafung beteiligt waren. Tatsächlich hatte ein niederrangiger Magistrat – und Pilatus war als Präfekt von Judäa dem Prokurator von Syrien unterstellt – zwei Liktoren (Scharfrichter), die ihn bei allen Amtshandlungen begleiteten. Dass die Verletzungen in schräger Richtung angeordnet sind, aber vertikal bluteten, lässt darauf schließen, dass der Verurteilte in einer gebückten Haltung gegeißelt wurde, bevor er sich wieder aufrichtete. Auch die Gleichmäßigkeit der Wunden an den Schulterblättern spricht für diese Position.

Legenden ranken sich um den Kreuzweg Jesu

Wahrscheinlich war Jesus mit den Handgelenken an eine niedrige Säule gebunden, vielleicht sogar an jene, die als „Geißelsäule“ in der Basilika S. Prassede in Rom verehrt wird; sie stammt ursprünglich aus Jerusalem und wurde im Jahre 1223 von Kardinal Colonna, dem päpstlichen Legaten für den Osten, wohl aus Konstantinopel in die Stadt der Päpste gebracht.

Dabei scheinen sich die Liktoren bemüht zu haben, keinen Teil des Körpers von ihren brutalen Schlägen zu verschonen. Nur was die Zahl der Geißelstreiche betrifft, hielten sie sich offenbar an das mosaische Gesetz. Ricci zählte „etwa 120“ Verletzungen, die eindeutig von einer dreifachen Geißelpeitsche herrühren; es ist also durchaus möglich, dass Jesus nur 39 Schläge empfing, die 117 Wunden hinterließen.

Danach war sein ganzer Körper „wie der Leib eines Aussätzigen“ blutig und zerfetzt. Die schweren Verletzungen und die starken Schmerzen haben zu einem traumatischen Schock geführt, den Blutdruck deutlich gesenkt, während der hohe Blutverlust, eventuelles Erbrechen, Wundfieber und starkes Schwitzen zu einer extremen Schwächung Jesu geführt haben. Sein Zustand war schon zu diesem Zeitpunkt bedrohlich.

Trotzdem: Ein Blutrausch, wie ihn Anna Katharina Emmerick beschrieb und Mel Gibson inszenierte, bei dem gleich mehrere Arten von Geißelpeitschen zum Einsatz kamen, hätte den in Judäa praktizierten Sitten widersprochen und steht auch im Widerspruch zu der Anzahl der Wunden auf dem Grableinen.

Über das, was auf das Urteil folgte, berichten die Evangelien nüchtern: „Da lieferte er (Pilatus) ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde. Sie übernahmen Jesus. Er trug sein Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelhöhe, die auf Hebräisch Golgota heißt.“ (Joh 19, 16–17) Unzählige Legenden und Traditionen ranken sich um die „Via Crucis“, auf zahllosen Kunstwerken ist sie dargestellt, in so vielen Passionsspielen inszeniert worden. Stets sehen wir, wie Jesus das schwere Kreuz zur Hinrichtungsstätte schleppt, dabei mehrfach stürzt, bis Simon von Cyrene, ein Jerusalem-Pilger aus Nordafrika, von den römischen Soldaten gezwungen wird, ihm beim Tragen zu helfen.

Doch eben so kann es nicht gewesen sein. Kein Mensch, der gerade die blutige Geißelung durchlitten hat, wäre physisch in der Lage, ein komplettes Kreuz zur Hinrichtungsstätte zu tragen; im Fall Jesu die 600 Meter vom Prätorium des Pilatus zum Golgota-Hügel. Tatsächlich bestand ein römisches Kreuz aber aus zwei Teilen: Dem „stipes“ oder Kreuzesstamm, der meist bereits an der Hinrichtungsstätte in der Erde oder im Felsen steckte, und dem „patibulum“, dem Querbalken.

Von den Liktoren wurde der Verurteilte mit den Händen an den Balken gebunden. „Diejenigen, die den Verurteilten festhielten, streckten ihm die Arme aus und fesselten sie an das patibulum, auch an den Oberarmen und nahe der Brust“, beschrieb Dionysios von Halikarnassos (60–7 v. Chr.) diese Praxis. Sein Zeitgenosse Artemidor bestätigt: „Wer an das Kreuz genagelt werden soll, trägt es zuvor.“

Im Johannes-Evangelium beschrieb Jesus dem Petrus gegenüber die Anbindung an das Patibulum: „Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.“ (Joh 21, 18) Dabei betont der Evangelist: „Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen würde.“ Das Johannes-Evangelium entstand mit Sicherheit nach der Kreuzigung des heiligen Petrus im Jahre 64, die als bekannt vorausgesetzt wird.

Wie ein solcher Querbalken einmal ausgesehen hat, davon zeugt das Patibulum des „guten Diebes“, das der Tradition nach im Jahre 325 bei der Freilegung des Golgota-Hügels von Jerusalem zusammen mit dem „wahren Kreuz“, der Kreuzesinschrift und den Nägeln im Beisein der Kaisermutter Helena entdeckt worden ist. Es befindet sich noch heute in einer Seitenkapelle der Basilika Santa Croce in Gerusalemme, einer der sieben Hauptkirchen Roms.

Bei Anna Katharina Emmerick dagegen trug Jesus das gesamte „Rohmaterial“ für das Kreuz, bei Mel Gibson, wie in den klassischen Darstellungen des Kreuzweges, sogar das fertige Marterholz. „Die beiden dünneren einzuzapfenden Arme waren auf den breiten, schweren Stamm mit Stricken aufgebunden, die Keile, das Fußklötzchen und das nachgefertigte Aufsetzstück (...) (musste er) mühsam mit weniger und grausamer Hilfe auf seine rechte Schulter nehmen und mit dem rechten Arme umfassen.“

Korrekt aber ist ihre Angabe, dass „der Zug in der breiten Straße weiter durch das Bogentor einer alten inneren Mauer der Stadt“ ging, nämlich die Marktstraße entlang durch das Gennathtor der alten hasmonäischen Stadtmauer in die herodianische Neustadt, in der sich diese zweite Hauptstraße Jerusalems fortsetzte. Der Zug verließ die Stadt durch das neue, stark befestigte Ephraimtor, das auf die Römerstraße zur Provinzhauptstadt Caesarea führte.

Dieses Tor, das erst 1883 durch die Grabungen des russischen Erzbischofs Antonin Kapoustin freigelegt wurde, beschrieb sie präzise als „fest und lang. Man geht zuerst durch einen gewölbten Boden, dann über eine Brücke, dann wieder durch einen Bogen“. Tatsächlich war es eine kleine, von Türmen überragte Festung, die aus einem inneren und einem äußeren Torbogen bestand.

Gibson ergänzt die Kreuzigung um ein grausames Detail

Die Kreuzigung selbst sah die Stigmatisierte wie folgt: „Die Schergen legten nun das Kreuz Christi an den Ort der Annagelung, so dass sie es bequem auf den Standort in die Höhe ziehen und in das Loch hinein senken konnten. Sie zapften die beiden Armhölzer links und rechts ein, nagelten den Fußklotz auf, bohrten die Löcher der Nägel für die Titeltafel des Pilatus, schlugen Keile unter die eingelassenen Arme, machten hie und da kleine Aushöhlungen in den Mittelstamm, Raum für die Dornenkrone und am Rücken, damit der Leib mehr stehe als hänge, größere Marter leide und die Hände nicht zerreißen sollten. Sie schlugen Pfähle und einen Balken quer darüber hinter dem Kreuzhügel in die Erde, um das Kreuz durch darüber gelegte Stricke aufziehen zu können, und trafen mehrere ähnliche Vorbereitungen.“

Allerdings ist unwahrscheinlich, dass sich die römischen Scharfrichter so viel Mühe gemacht haben. „Sie trugen das Patibulum durch die Stadt, dann wurden sie auf das Kreuz gehoben“, schildert Plautus kurz und bündig die antike Kreuzigungspraxis. Normalerweise standen die Pfähle bereits. Mit Rücksicht auf die religiösen Gefühle der Juden, bei denen alles, was mit einem Toten in Berührung kam, als „unrein“ galt, ist allerdings möglich, dass man in Jerusalem auf ständige Kreuze verzichtete und die Pfähle erst in der Vorbereitungsphase der Hinrichtung aufgerichtet hatte. Diese „stipes“ genannten Kreuzesstämme hatten oben eine breite Kerbe, in die entweder die Patibuli hineingesteckt oder in die sie mit festen Stricken gehängt wurden.

„Zum Kreuze gehen“, „auf das Kreuz gehoben“ oder „ans Kreuz gehängt werden“, „das Kreuz besteigen“ – mit diesen Worten beschrieben die Römer die übliche Hinrichtungspraxis. Das widerspricht der in zahlreichen Passionsspielen und Filmen, auch in Mel Gibsons „Passion Christi“, dargestellten Methode, nach der der Gekreuzigte auf das am Boden liegende Kreuz geschlagen und dann mit diesem aufgerichtet wurde. War schon der Schmerz der Annagelung so stark, dass er in vielen Fällen zur Bewusstlosigkeit führte, wurde er noch gesteigert, als der Körper, der nur an den Nägeln am Querbalken hing, in die Höhe gezogen wurde.

Zutreffend erklärte Anna Katharina Emmerick zur Kreuzigung der beiden Diebe: „Die Schergen stellten Leitern an die aufgerichteten Stämme und befestigten die gekrümmten Querhölzer halb eingelassen mit einem Pflocke oben an die Stämme.“ Nur vom Kreuze Jesu heißt es, es sei erst nach der Annagelung Jesu mühsam aufgerichtet worden. Um ein grausames Detail ergänzte Mel Gibson die Szene.

In seinem Film drehen die Henker das Kreuz mit dem bereits daran genagelten Jesus um, werfen ihn mit dem Gesicht nach vorne zu Boden, um die aus dem Kreuzesholz ragenden Nagelspitzen umschlagen und damit besser befestigen zu können. Diese Szene finden wir nicht bei Anna Katharina Emmerick, dafür aber in den Ekstasen der heiligen Veronika Giuliani, wie sie Pater Crivelli schilderte:

Dann „fiel sie plötzlich mit dem Gesicht gegen den Boden auf das Pflaster des Chores und blieb so mit ausgestreckten Armen liegen (...) Ich fragte sie später, warum sie auf die Erde gefallen sei; worauf sie antwortete, dass sie hierbei die (Henker) habe darstellen müssen, die, nachdem sie ihr Hände und Füße angenagelt, das Kreuz auf die Rückseite gekehrt hätten, um die Nägel umzuschlagen.“

Auch in der Form des Kreuzes wich Mel Gibson von Anna Katharina Emmerick ab. Während Jesus in der „Passion Christi“ an einem „lateinischen“ Kreuz hängt, glaubte sie, dass es so ausgesehen hätte wie das berühmte, historische Kreuz der Hauptkirche ihrer Heimatstadt Coesfeld. So schilderte sie Brentano, „dass die beiden Arme wie die Äste eines Baumes aus dem Stamme aufwärts liefen, und es wäre gleich einem Y, wenn man dessen untere Linie bis zu gleicher Höhe zwischen den Armen verlängerte.“ „Gabelkreuze“ wie jenes in Coesfeld, deren Form auf die germanische Lebensrune zurückgeht, tauchten jedoch erst in der deutschen Gotik auf und fanden schließlich als „Pestkreuze“ eine gewisse Verbreitung.

Emmericks Wahrheit war nicht historisch, sondern metaphysisch

Doch mit dem römischen Marterholz haben sie nichts zu tun. Vielleicht hat es Anna Katharina Emmerick beeindruckt, als ihr ein Ordensmann erklärte, das ausdrucksstarke Coesfelder Kreuz müsse wohl auf die Vision eines Mystikers zurückgehen. Jedenfalls war ihre Vorstellung des Kreuzes sehr subjektiv und definitiv ahistorisch.

Tatsächlich hatte das Kreuz wohl „Tau“-Form, wurde dann aber überragt von der Stange, an der die breite Tafel mit der Kreuzesinschrift befestigt war. Wenn Emmerick zudem ein „Fußholz“ sah, müssen auch hier die Kreuzigungsdarstellungen Pate gestanden haben. Dabei diente dieses Detail in der Kunst mehr dem Zweck, zu erklären, weshalb die durchbohrten Handteller das Körpergewicht halten konnten, ohne zu reißen, und ist unnötig, wenn die Nägel durch die stabile Handwurzel geschlagen werden, wie es das Abbild auf dem Turiner Grabtuch zeigt.

Doch gerade die Mischung von historisch korrekten Details und phantasievollen Überlagerungen durch persönliche Vorstellungen stellt die eigentliche Herausforderung dar, vor die uns die Passionsekstasen der Anna Katharina Emmerick und anderer Mystiker stellen. Denn auch eine echte Vision ist eben keine Filmaufnahme, die vor dem inneren Auge des Sehers oder der Seherin abgespielt wird, sondern höchst subjektiv.

Die vielleicht beste Abhandlung über die Natur mystischer Visionen verfasste Joseph Kardinal Ratzinger im Jahr 2000, als er das „Dritte Geheimnis von Fatima“ kommentierte. Die innere Wahrnehmung, die, so Ratzinger, „freilich für den Seher eine Gegenwartskraft erhält, die für ihn der äußeren sinnlichen Erscheinung gleichkommt“, ist keineswegs Phantasie, also „Ausdruck subjektiver Einbildung“, „sondern Frucht einer wirklichen Wahrnehmung von oben und innen her, aber sie sind auch nicht so vorzustellen, dass ein Augenblick der Schleier vom Jenseits (oder der Zeit, Anmerkung des Verfassers) weggerückt würde. (...) Die Bilder sind vielmehr sozusagen zusammengesetzt aus dem von oben kommenden Anstoß und aus den dafür vorliegenden Möglichkeiten des wahrnehmenden Subjekts.“

Ihre Passionsvisionen waren also nicht etwa eine geistige Zeitreise der Seherin, vielleicht aber übernatürliche Impulse, die teilweise durch die „Störsignale“ bekannter Bilder und persönlicher Vorstellungen überlagert wurden, teils aber auch symbolisch zu verstehen sind: „Nicht jedes Bildelement muss dabei einen ganz konkreten historischen Sinn ergeben. Es zählt die Schauung als Ganze und von der Ganzheit der Bilder her müssen die Details eingeordnet werden“, erklärt Ratzinger, und seine Worte gelten für die Visionen der gesamten christlichen Mystik.

Interessanterweise ist die Mystikerin dort am genauesten, wo es am wenigsten Vorbilder gibt. Das gilt etwa für das Verließ im Palast des Hohepriesters Kajaphas, ihre Beschreibung des Prätoriums oder des Ephraim-Tores, die erst Jahrzehnte nach ihrem Tod bei Ausgrabungen entdeckt wurden. Sind ihr dagegen Szenen aus der Kunst bekannt, „überlagern“ diese Eindrücke die Realität. Das Coesfelder Kreuz war ihr so lieb und vertraut, dass sie den Gekreuzigten gar nicht anders sehen konnte als an eben diesem Holze hängend.

Jedes Pauschalurteil, der blinde Glaube an die Richtigkeit der Visionen ebenso wie ihre komplette Ablehnung, führt letztlich in die Irre. Aus ihnen das Drehbuch für einen Film zu machen und dabei „historische Authentizität“ in Anspruch zu nehmen, ist ziemlich gewagt. Andererseits macht gerade seine Subjektivität den Film „Die Passion Christi“ reizvoll.

Er repräsentiert zwar nicht das reale Geschehen des Jahres 30/33, stattdessen aber eine Tradition des Leidens Jesu, wie sie sich in den Visionen der blutenden Nonne und anderer Mystiker widerspiegelt. Ihre Wahrheit war eine metaphysische, nicht eine historische. Doch die Bilder in der Gibson-Inszenierung zu sehen, ist, als würde man an ihren Schauungen teilhaben.

Der Autor verfasste zahlreiche Bücher zu Themen der Kirchengeschichte. Mit Anna Katharina Emmerick und anderen Mystikern beschäftigt er sich in seinem neuesten Werk: Stigmata – Sie trugen die Wundmale Christi.



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