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„Gratia supponit naturam“ - Sinngehalt und gegenwärtige Bedeutung eines theologischen Prinzips

16. September 2020 in Spirituelles, 1 Lesermeinung
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„Der kleine Maximilian, den ich vor 5 Jahren getauft habe, fragte mich neulich: ‚Onkel Gerhard, was ist Gnade?‘ Zielsicher war er bei dem Begriff hängen geblieben, der das Eine und Ganze unsers Gottesverhältnisses umfasst.“ Von Gerhard Card. Müller


Lugano-Vatikan (kath.net/pl) kath.net dankt Gerhard Kardinal Müller für die freundliche Erlaubnis, seinen Vortrag beim Scheffczyk-Symposium in Lugano in voller Länge zu veröffentlichen.

 

Der kleine Maximilian, den ich vor 5 Jahren getauft habe, fragte mich neulich: "Onkel Gerhard, was ist Gnade?" Im Livestream hatte er gerade bei einer Heiligen Messe – während der Corona-Krise – aufmerksam meiner Predigt gelauscht. Und zielsicher war er bei dem Begriff hängen geblieben, der das Eine und Ganze unsers Gottesverhältnisses umfasst. Ziemlich überfordert von der Aufgabe, kurz und bündig die in meinem Kopf gespeicherte Bibliothek zum Person- und Naturbegriff in der Trinitätstheologie, Christologie, Anthropologie und Gnadenlehre in einem Satz zusammenzufassen, rettete mich sein Vater mit der Formulierung: Gnade ist ein Geschenk.
 


Da uns das zu "dinglich" und "substanzhaft" schien, versuchten wir die Vokabel Gnade mit dem Bild eines Handlungsverlaufes anschaulicher zu machen. Grammatikalisch zwar nicht ganz korrekt -aber zur Zufriedenheit des Buben- drückten wir es so aus: Die Gnade ist wie, wenn einer gut zu dir ist, weil er dich sehr gern hat. Papa und Mama haben dich sehr lieb. Doch Gott, der uns alle erschaffen hat, hat uns noch viel mehr lieb. So wie die Blumen nur im Licht und der Wärme der Sonne wachsen und reifen, so können auch wir Menschen nur mit Gottes Gnade hier auf Erden leben, um einst zu ihm in den Himmel kommen. Gnade bedeutet also knapp gesagt: Aus Liebe einem andern etwas Gutes tun.


Ich erwähne diesen sympathischen Beweis für die vollkommene Präsenz eines kindlichen Geistes nicht, um mein religionspädagogisches Können zu demonstrieren, wie man einen hochkomplexen Sachverhalt möglichst einfach erklärt. Denn hier ging es nicht um die Vermittlung von quantitativem Wissen, sondern qualitativ um das Ganze des Menschseins im Bezug auf Gott, den alles entspringen lassenden Ursprung und das alles zusammenfassende Ziel des Seins und des Erkennens.


Denn unser Verhältnis zu Gott kann nicht abhängig sein von der Kapazität der instrumentalen Intelligenz, vom Stand der Wissenschaft und Technologie, vom Entwicklungsgrad in der Adoleszenz, von der sittlichen Reife des Charakters, von der Leistungsfähigkeit des diskursiven Denkens oder von den in Lebensleistung umgesetzten Talenten.


Wenn Jesus ein Kind zum Modell für jeden Anwärter auf das Himmelreich macht (Mk, 10, 13-16), dann gründet unser Verhältnis zu Gott nicht in der sich ihm widersetzenden autonomen Selbstkonstitution (einem postulatorischen Atheismus), sondern -empfangend und Dank sagend- im Geschaffen-Sein als restloser Hinordnung auf die Liebe, die Gott selbst ist. Gott vollzieht sein Wesen in der Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander. Gnade ist also im wesentlichen die Selbstmitteilung Gottes (gratia increata), durch die er uns in Christus per adoptionem zu seinen Söhnen und Töchtern macht, so dass Gott in uns wohnt und das göttliche Leben unser ewiges Erbe ist (gratia creata, infusa, sanctificans). Wir stehen nicht nur in einem neuen Verhältnis zu Gott, der uns nur seine Gunst (favor Dei) wieder zugewendet hätte, also sich in seinem Verhältnis zu uns gewandelt hätte. Gott hat uns vielmehr aus einem verlorenen Sünder zu seinem geliebten Sohn und Freund und aus einem Todgeweihten zu einem neuen Geschöpf gemacht. Gott hat uns verwandelt und erneuert. Nicht er hat sich mit uns versöhnt, sondern er hat uns mit sich versöhnt (2 Kor 2, 19). Das Wesentliche der menschlichen Natur ist ihre Gottebenbildlichkeit, die teleologisch ausgerichtet ist auf die Gotteskindschaft, die in der Erkenntnis Gottes vollendet wird, "wenn ich durch und durch erkenne so wie auch ich durch und durch erkannt worden bin." (1 Kor 13, 12)
Die kategorialen Konstituentien des geistbegabten Geschöpfs, die wir ad extra die kosmische Natur und ad intra die menschliche leib-seelische Wesens-Natur in männlicher oder weiblicher Geschlechtlichkeit nennen, sind hineingenommen in die transzendentale Verwiesenheit der Person auf Gott. Der Mensch ist kraft seiner geistigen Natur dynamisch hin geordnet auf die personale Gemeinschaft mit Gott in Liebe. Dieses Ziel erreicht er aber nicht durch sich selbst, sondern durch das freie Entgegenkommen Gottes. Wir können also das Sein des Menschen in der Welt gar nicht definieren ohne sein natürliches Verlangen nach der übernatürlichen Vereinigung mit Gott in seiner Wahrheit und Liebe. So hat der Dürstende zwar keinen Anspruch auf das "Wasser des ewigen Lebens" ( Joh 4, 14). In dem Moment aber, in dem es ihm in liebender Freiheit gereicht wird, wandelt es sich zum Zeichen und Mittel der Güte dessen, der sein Verlangen nach dem Ewigkeit stillt. Darin wird der Logos, der Sinn von Sein und Sendung des Sohnes vom Vater offenbar, nämlich dass er gekommen ist, "damit sie das Leben haben und es in Fülle haben." (Joh 10, 10).


Der Mensch ist mehr als -nur im methodischen Hinblick auf die empirischen Bedingungen seines In-der-Welt-Seins- das Bündel seiner psychischen Empfindungen (David Hume), das Ensemble der interaktiv mit seinem Bewusstsein vernetzten sozio-politischen Bedingungen (Karl Marx) oder -in atomistischer und mechanistischer Reduktion- nur die Summe seiner leiblichen Bestandteile (Demokrit, La Mettrie, Helvetius). Der postchristliche Naturalismus der Neuzeit, der positivistisch das Sein auf Materie reduziert und ihm lediglich einen funktionalen Sinn als Medium und "Wille zur Macht" (Nietzsche) abringen kann, muss die Vernunft als Vermögen zur Erschließung des Sinns von Sein um ihre transzendentale Verwiesenheit verkürzen, so dass nur eine instrumentale Vernunft übrigbleibt. Das Ergebnis dieses Immanentismus ist eine Abfolge von Reduktionen des Menschen auf seine inneren und äußeren Daseinsbedingungen, die den das Sein gebenden Grund seines Wesens als Person geistig-freier Natur ausschalten. Demnach wird der Mensch so definiert: "Der Mensch ist nichts anders als..." eine komplizierte Maschine, ein hochentwickeltes Tier, ein Gen- und Trieb-Bündel, ein Hochleistungs-Computer, eine organische Vorstufe einer leistungsstärkeren Künstlichen Intelligenz. Aber immer wird dabei das Entscheidende des Mensch-Seins geleugnet, nämlich: die Personwürde.


Das Christentum, das die übernatürliche Offenbarung des Mysteriums des universalen Heilswillens Gottes in Menschwerdung, Kreuzestod und Auferstehung Christi darstellt, wäre unter den Voraussetzungen eines idealistischen oder materialistischen Monismus nur noch zu rechtfertigen als natürliche Religion, sei es in der Form einer Humanitätsreligion oder einer rationalistischen Ethik, sei es in Form einer kalten Pflichtethik oder in der Variante einer hedonistischen Situationsethik. Bezeichnend sind schon die Titel deistischer und aufklärerischer Schriften wie z. B. von John Toland, Christianity not mysterious (1696) oder von Matthew Tindal, Christianity as old as creation, or the Gospel a republication of the religion of nature (1730) und schließlich Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen des bloßes Vernunft (1793). Das Christentum war nur noch die höchste Erscheinung einer stets fortschreitenden und sich immanent vollendenden Kultur- freilich unter Verzicht auf sein zeitbedingtes übernatürliches Kleid ( nämlich dem Glauben an die Gottheit Christi, den Dogmen als Erkenntnisformen übernatürlicher Wahrheiten, den Wundern als vermeintlich systemwidriger Eingriffe Gottes in die geschlossene Natur-Kausalität).


Dem Kulturchristentum gegenüber war die Religionskritik des 19. und 20 Jahrhunderts dann noch ehrlicher und konsequenter, wenn sie die Religion überhaupt als gefährliche Illusion entlarvte und als Hindernis für das irdische Paradies des soziopolitisch verbesserten und technisch-psychologisch reproduzierten Menschen abstieß. Die religiösen Energien wurden folglich transformiert in die transhumanistische Vision eines Homo-deus, der sich als reines Naturwesen versteht und sein Glück im sinnlichen Genuss findet (Ludwig Feuerbach) oder posthumanistisch sich sogar von seiner organischen Basis löst und als überwundene biologische Stufe der Evolution als künstliche Intelligenz digital reproduziert.1


Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch die Ambivalenz einer Vergötzung der Natur in der ökologischen Bewegung und eines Antihumanismus, in dem der Mensch sich als Störenfried in der heilen Welt einer intakten Fauna und unberührten Flora selbst denunziert und konsequent abschafft oder bevölkerungspolitisch drastisch dezimiert. (Freilich sind hier die transnationalen Finanzeliten das Subjekt und die armen Bevölkerungsmassen das Objekt des Mainstreaming und des Reproduktionsverhaltens; sprich: Abtreibung als Frauenrecht und Euthanasie als gewerblich assistierter Selbstmord).


Das anthropologische Dogma hingegen vom Menschen als Person, dem nur in Relation zum personalen Gott die Wahrheit des Seins aufleuchtet und dessen Freiheit sich allein in der Liebe als Agape erfüllt, ist der Wellenbrecher der multideologischen Negation der christlichen Überlieferung, die sich diesem Tsunami des metaphysischen Nihilismus von apokalyptischer Wut gegenübersieht. Den wahren Humanismus gibt es nicht ohne Gott. Denn "ohne Gott ist alles erlaubt" (Fjodor Dostojewski). Wenn Gott tot ist, können wir zwar wollen, dass der Übermensch lebe, aber wir können es nicht verhindern, dass der Unmensch die Bühne betritt. Wenn die "Genealogie der Moral" (Nietzsche) und die Evolutionsbiologie die Moral als bloße Überlebensstrategie erwiesen hätten, könnte auch niemand mehr den Menschen vor dem Menschen schützen. Der Unantastbarkeit der Menschenwürde wäre jeder Boden entzogen. Der Neoatheismus um Richard Dawkins, Daniel Dennett, Christopher Hitchens sucht vergebens auf sozialdarwinistischer Grundlage einen neuen Humanismus ohne Gott. Allein schon seine maßlose Polemik gegen die an Gott glaubenden Menschen enthüllt die antihumane und intolerante Gesinnung, die aus Hass und Menschenverachtung gespeist wird.



Wenn wir in den Kategorien der klassischen Seinsmetaphysik den theologischen Humanismus mit dem Axiom "die Gnade setzt die Natur voraus" ausdrücken, dann meinen wir dasselbe wie heute in der christlichen Anthropologie mit der These des hl. Papstes Johannes Paul II.: Der Weg der Kirche ist der Mensch, weil nur die Gnade Christi die Menschlichkeit des Menschen rettet.2 Nicht der narzisstische Übermensch, sondern der Mensch, der über sich hinaus geht, ist das Ideal der menschlichen Natur. Nicht in seiner Kabine, sondern nur auf der Rennbahn erreicht der Sprinter sein Ziel.


In einer vertikalen Bohrung, die alles Beiwerk souverän zur Seite räumt, kommen wir zum alles tragenden Subjekt und zu der das Ganze vereinenden Mitte in der einfachen Substanz seiner geistigen Seele, die in seiner Person subsistiert. Persona significat id quod est perfectissimum in tota natura, scilicet subsistens in rationali natura."3 Die Person ist nicht zusammengesetzt aus Teilen. Sie kann darum auf nichts Einfacheres mehr zurückgeführt oder auf ein Ursprünglicheres überschritten werden, weil sie in ihrem geistigen Bei-sich-Sein und ihrer moralischen Selbst-Bestimmung die Unmittelbarkeit ist zu Gott, der sich ihr als die Erste Wahrheit mitteilt.


Auch die notwendige kirchlich-sakramentale Vermittlung der Gnade und die im Symbolum und Dogma eröffnete Erkenntnis der Ersten Wahrheit tritt nicht trennend wie ein Drittes zwischen Gott und Mensch, sondern ist -kraft der Teilhabe an der hypostatischen Union des menschlichen Mittlers mit der göttlichen Erkenntnispräsenz im Logos- nichts weniger als die Vermittlung in die personale Unmittelbarkeit: jetzt im Modus des Glaubens und einst in der Anschauung von Angesicht zu Angesicht. Die Natur des Seienden ist aber nicht der Abgrund, aus dem es wesenlos emporsteigt, um wieder im Nichts zu verschwinden, sondern der Leben gebärende Schoß des Seins, das ein konkret Existierendes zu seinem Dasein aktualisiert. So existiert ein Seiendes in natura als dieser Stein, als dieses Tier, dieser Mensch namens Sokrates, als dieser Mann oder als diese Frau. Die Natur eines individuellen Seienden offenbart seine Wahrheit von seiner Anteilhabe am Sein her, so dass die Wahrheit sich uns zeigt. Die Wahrheit würde vergewaltigt, wenn sie nominalistisch von der Selbstermächtigung in der subjektiven Begriffsbildung gesetzt würde. Die Wahrheit des Seins, die sich in der Natur des individuell Seienden enthüllt und ausspricht, entzieht sich der Willkür und dem Machtanspruch des endlichen Vernunft, weil nur der göttliche Intellekt die ursprunggebende Einheit von Sein und Geist ist. Unser Verstand ist fähig, die Wahrheit zu empfangen und zu erkennen Aber er vermag nicht, sie zu stiften und zu erschaffen, ohne gegen das ungeschaffene Licht zu sündigen.


Warum hat der himmlische Vater den Weisen und Klugen dieser Welt, d.h. -etwas scherzhaft formuliert- der autonomen Szene in der Philosophie, auf dem sekundären Weg der philosophischen und theologischen Reflexion die Erkenntnis des Mysterium Trinitatis verborgen, dafür aber sich in seinem wesenhaften Selbst-Sein, das sich in seiner Relation zum Sohn im Heiligen Geist vollzieht, den einfältigen und kindlichen Herzen geoffenbart? Die Antwort kann nur lauten: Weil das Sein einfach ist und sich sein Urgrund in der ewigen Liebe nur in der Einfachheit eines affirmativen Urteils enthüllt. Darum sagt Jesus im höchsten Akt der göttlichen Selbstoffenbarung: "Niemand erkennt, wer der Sohn ist, nur der Vater, und niemand erkennt, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will." (Lk 10, 22)


Eine so essentielle Frage nach dem Verhältnis zu Gott in der Gnade entspringt dem kreatürlichen Geist schon im Modus seiner kindlichen Ur-Anfänglichkeit nur aus einem intensiven Zu-hören und Mit-denken, das seine vorgängige Offenheit auf das Sein und seine Erkennbarkeit in der Vernunft ebenso voraussetzt wie seine Artikulierbarkeit in der Sprache Ebenso legitim ist die Frage nach dem Wesen und der Woher des Seins wie auch die Frage nach dem Was des Seienden, d.h. eines in einem Begriff bezeichnetem Etwas (aliquid). Dies beweist, dass dem diskursiven Denken und jeder kybernetischen Intelligenz, die im Modus der künstlichen Intelligenz lediglich funktionell, nicht substantiell existiert, die Offenheit des Geistes auf das Sein vorausgeht. Nur deshalb kann das Sein gedacht werden und in der Sprache zum Ausdruck und Vorschein kommen und folglich ein kommunizierendes Einssein im Verstehen und Wollen stiften. So sind Gott und Mensch in ihrer Natur und Wesen radikal verschieden und dennoch kann aufgrund der Analogie des Seins eine Erfüllung des Menschen als Geschöpf Gottes durch seine freie Zuwendung in der Gnade als das Ziel des Menschen erkannt und angestrebt werden.


Die Aktualität des Seins ermächtigt erst sein Gedacht-werden-Können in den konkreten Dingen und bringt das Denken auf den Weg des lebenslangen Lernens. Die Versprachlichung der Erkenntnis von Sein, setzt den Ursprung der Welt im Sein und Geist ihres Schöpfers voraus und beweist sein Dasein als Grund endlichen Seins und Erkennens.


Unabhängig von seinem alters- und talentbedingten Reflexions- und Artikulationsvermögen ist also jeder geschaffene Geist zugleich Vermittlung zu sich selbst, indem er denkend vor das Mysterium seiner Person tritt, und ebenso Offenheit über sich hinaus auf den Grund und das Ziel seiner Existenz, indem der Mensch an den Werken der Schöpfung die unsichtbare Wirklichkeit Gottes in seiner ewigen Macht und Gottheit mit der Vernunft erkennt (Röm 1, 20). Ebenso wichtig ist auch für die Konstitution sittlicher Akte, dass ihm im Gesetz seines Gewissens Gottes heiliger Wille als die Substanz des Guten aufgeht (Röm 2, 14).


Wenn wir fragen, was der Mensch seiner Natur nach ist im Bezug auf den Urheber seines Daseins, dann erhalten wir die Antwort: Er ist ein Geschöpf nach Gottes Bild und Gleichnis. Und wenn wir fragen, wozu ist er geschaffen ist, dann überschreiten wir die Ordnung des Allgemeinen und treten ein in das Reich des Unableitbaren und Singulären, in die Sphäre der Person. Gott teilt sich ihm personal und in absolut spontaner Freiheit mit. Er bezieht mein Wer-Sein ein in die individuelle Gotteskindschaft, so dass ich im Heiligen Geist durch den Sohn Gottes zu ihm Abba, Vater sagen kann (Röm 8, 15)


Weil Gott den Menschen für ein Ziel bestimmt hat, das über die Fassungskraft der natürlichen Vernunft hinausgeht und seinem Herzen eine Freude bereitet hat, die das irdische Glück unendlich übersteigt, darum ist er in seiner geschichtlichen Selbstoffenbarung dem Menschen im Fleisch gewordenen Wort und im ausgegossenen Heiligen Geist nahegekommen als Wahrheit und Leben.4 Wir, die wir durch das Wort geworden sind, empfingen durch den Glauben an den Mensch gewordenen Sohn Gottes "die Macht Kinder Gottes zu werden" (Joh 1, 3.12).


Gott gewinnt nichts und verliert nichts, wenn er uns als seine Geschöpfe ins Dasein verfügt. Darum macht die Vollendung des Menschen durch die Gnade den Menschen nicht von Gott servil abhängig. Der Mensch wird aber auch durch die Zurückweisung der Gnade nicht emanzipiert und konstituiert sich als sein eigener Gott und Schöpfer. Er gewinnt vielmehr seine Autonomie als seine höchste Würde in der Ko-Operation mit Gott und wird vollendet in seiner Freiheit, insofern sie die Vereinigung des geschaffenen Willens mit dem ungeschaffenen Heilswillen Gottes in der Liebe stiftet. Die Gnade füllt nicht unsere Lücken auf oder stückelt einem Torso etwas an. Die Gnade setzt die in sich vollendete Gutheit der Natur voraus und führt sie zu ihrem Ziel hin, so wie ein Hundertmeterläufer, indem er als Sieger die Ziellinie überschreitet seine Natur als Mensch und seinen Status als Sportler nicht hinter sich lässt, sondern im Triumph vollendet.. "Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade." (Joh 1, 18). Die Erfahrung der Gnade ist eher zu vergleichen mit einem Aha-Erlebnis, in dem wir das finden, was wir schon immer gesucht haben und das doch alle unsere Erwartungen übertrifft. "Kein Auge hat je gesehen und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist es je gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben." (1 Kor 2, 9).


Die Gnade ist aus der geschaffenen Natur nicht ableitbar und Gott bleibt gegenüber dem Menschen absolut frei. Dennoch besteht zwischen Schöpfer und Geschöpf kein dialektischer Gegensatz oder eine Widerspruchseinheit, sondern eine analoge Einheit, weil die Distinktion der göttlichen Personen nicht eine innergöttliche Zerrissenheit, sondern die vollkommene Wesens-Einheit als Liebe ausspricht. Darin offenbart sich auch die Einheit des dreifaltigen Gottes, der als Schöpfer der Welt, als Erlöser von der Sünde und als unser Vollender in der Liebe identisch ist.
Jeder ethische Dualismus in Gott manichäischer Art oder jeder idealistische Geist-Monismus ist aus dem christlichen Gottesbegriff a limine ausgeschlossen. In der Folge ist auch ein anthropologischer Dualismus von Seele und Leib zurückzuweisen ebenso wie ein Monismus, der alles Geistige auf Materie reduziert oder der umgekehrt die materielle Natur nur zu einem Phänomen des Geistes macht und ihr jede ontologische Eigenwirklichkeit abspricht. Der Mensch ist Person in einer leib-seelischen Natur, die sich in ihrem geschichtlichen und sozialen Umfeld bewegt. Statt des seit Descartes gebräuchlichen Binoms "Geist versus Natur", müssen wir vielmehr sagen: die Person existiert in ihrer geist-leiblichen Wesens-Natur. In diesem Kontext ist die Beziehungseinheit von Gnade und Natur, d.h. der menschlichen Person vermittels ihrer Daseins- und Erkenntnisbedingungen mit Gott zu verstehen.


So kann der hl. Thomas von Aquin die theologische Reflexion des gesamten katholischen Glaubens mit der Feststellung beginnen:
"Das Dasein Gottes und alle anderen Wahrheiten, die wir gemäß Röm 1,19 von Gott erkennen können, sind nicht Gegenstand der Glaubensartikel, sondern der praeambula fidei. Der Glaube setzt nämlich die natürliche Erkenntnis in gleicher Weise voraus, wie die Gnade die Natur und die Vollkommenheit ein Wesen voraussetzt, das vollkommen werden kann. -sicut enim fides praesupponit cognitionem naturalem, sicut gratia naturam, et ut perfectio perfectibile."5 Oder anders formuliert: Gratuita praesupponunt naturalia, si proprotionabiliter utraque accipiantur6  


Mit diesem berühmten Satz zu Beginn der Summa theologiae bringt der hl. Thomas von Aquin das Real- und Erkenntnisprinzip des katholischen Glaubensdenkens auf den Begriff. Die natürliche Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Vernunft bildet die Voraussetzung einer Erkenntnis Gottes, der sich in seinem Wort und Geist mitteilt und zu erkennen gibt. Und wenn zur geistigen Natur des Menschen nicht der freie Wille käme, könnte das Ergebnis der Zuwendung göttlicher Gnade nicht die Einheit von Gott und Mensch in der Liebe sein. Der Mensch verdankt sich in seinem Dasein mit seinen geistig-sittlichen Anlagen ganz Gott, der causa prima et universalis. Aber Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er nicht ein Akzidens einer höheren Substanz ist oder der Modus und eine Erscheinungsweise Gottes (Spinoza).Sein freier Wille ist auch nicht ein leeres Wort, so dass der Mensch wie ein unvernünftiges und willenloses Tier blind dem Befehl seines göttlichen oder teuflischen Reiters gehorcht, wie es Luther gegen Erasmus in seiner Schrift De servo arbitrio (1525) bildlich ausdrückte.


Der Mensch ist von Gott als Geschöpf so konstituiert, dass seine Seinsteilhabe ihn zu sich selbst vermittelt. Er hat eine Eigenwürde, Eigenwirklichkeit und Eigentätigkeit, die für das Heil relevant sind. Darum kann er auch zum Partner Gottes werden im Bund einer Beziehung von göttlichem Ich und dem menschlichen Ich des Getauften und dem Wir der Kirche. In seinem Eigensein kommt ihm auch eine Eigentätigkeit als Selbstursächlichkeit zu- causa sui ipsius in movendo et iudicando est et liberii iudicii de agendo et non agendo.7


Zwischen Gott und Mensch herrscht in den Beziehungsebenen von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung eine Verhältnis der Analogie. Sie beruht auf den bonum naturae. Auch wenn der Mensch durch die Sünde Adams den Status der übernatürlichen Gerechtigkeit und Heiligkeit verloren hat, ist er in seinem Dasein und Sosein als Mensch Darstellung und Teilhabe an der wesenhaften Güte Gottes geblieben. Dies schließt jeden metaphysischen und moralischen Dualismus aus, macht aber auch eine Selbsterlösung unmöglich. Vor der der Torheit des Stolzes bewahrt die kreatürliche Demut und die Offenheit für die eucharistische Opfer. Somit ist der Mensch seiner Natur nach immer gut, weil sie Anteil ist an der wesenhaften Gute Gottes, und bedarf doch zu seiner Vollendung der heilsgeschichtlichen Zuwendung Gottes in der freien, übernatürlichen Gnade.


Der Mensch kann sich für seine persönlichen Sünden nicht entschuldigen mit der Behauptung, dass ihn Gott doch so debil und versuchlich geschaffen habe. Selbst wenn der Teufel in einen Menschen gefahren sein sollte, an welcher Möglichkeit im Blick auf die Gräuel der Weltgeschichte zu zweifeln schwer fällt, ist jeder Übeltäter in seinem Gewissen vor Gott vollumfänglich rechenschaftspflichtig. Wir müssen zwar um die Gnade bitten, damit wir nicht in der Versuchung überwältigt werden. Denn Gott lässt niemanden über seine Kräfte hinaus versucht werden, wenn wir ihn nur demütig darum bitten (1 Kor 10,13). Wenn wir aber in Sünde gefallen sind, können wir uns nicht verstockt mit der mangelnden Hilfe Gottes entschuldigen, sondern wir müssen an die eigene Brust schlagen und die Gnade der Umkehr allein von ihm erbitten. Es bleibt kein Raum zwischen Selbstruhm gegenüber Gott und der Verzweiflung und dem Hass auf Gott, weil Gott allein gnädig ist und gerecht.


Im Gefolge des cartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa schwankt die neuzeitliche Bestimmung des Wesensnatur des Menschen zwischen einem harmonistischen Optimismus mit der göttlichen Hervorbringung des Universums als der besten aller möglichen Welten (Leibniz)8 und einem tragizistischen Pessimismus und prometheischen Aufstand (Schopenhauer, Nietzsche, Marx). Der Mensch aber ist nicht von der Natur seiner Charakteranlage gut und wird durch die Zivilisation verdorben (Rousseau) und muss durch den Drill der Erziehung und eine totalitäre Überwachung wie im Orwellschen Staat gleichgeschaltet werden, damit er wertfrei wie ein Rädchen im Uhrwerk der Gesellschaft funktioniert. Physische und moralische Übel können auch nicht durch neurophysiologische Manipulationen ein für allemal ausgeschaltet werden, weil der Preis der verlorenen Menschenwürde zu hoch wäre. Das Böse kommt nicht aus einem Defekt der Schöpfung oder einem Optimierungsmangel der Evolution, sondern aus der Möglichkeit der Freiheit, gegen den Sinn von Sein zu denken und zu handeln.


Die reformatorischen Formal- und Materialprinzipien (solus Christus, sola fide et gratia, sola scriptura) erfassen das Gott-Menschverhältnis dialektisch als eine Widerspruchs-Einheit auf. Die katholische Theologie geht hingegen von einer analogen Vermittlung aus, so dass Vernunft und Glaube, Natur und Gnade, menschliche Empfänglichkeit und göttliche Gabe eher als Synthese gedacht werden, die in der inkarnatorischen Annahme der menschlichen Natur durch das göttliche Wort ihr tragendes Fundament hat. Die Analogia entis ist die Voraussetzung der analogia fidei. Daraus ergibt sich das katholische et-et; aber in der unumkehrbaren Reihenfolge: Christus und die Kirche, Glaube und Vernunft, Gnade und Sakramente, Gottesliebe und Nächstenliebe (gute Werke). In seiner Enzyklika "Fides et ratio" (1998) entfaltete Papst Johannes Paul II. umfassend dieses Grundprinzip des katholischen Glaubens, während Kardinal Leo Scheffczyk dieses Prinzip an wesentlichen Themen der Offenbarung durcharbeite, besonders in seinem Buch " Katholische Glaubenswelt. Wahrheit und Gestalt".9


Michael Johannes Marmann hat in seiner Regensburger Dissertation bei dem damaligen Professor Joseph Ratzinger die Herkunft und Geschichte dieses Axiom oder Prinzips erforscht: "Praeambula da gratiam. Ideengeschichtliche Untersuchung über die Entstehung des Axioms gratia praesupponit naturam."10 So spannend sich die historische Genese auch liest, so überraschend ist auch das Ergebnis seiner gründlichen Analyse. Weder ist der Autor dieser Formulierung bekannt noch kommt ihr immer und seit je her die präzise Bedeutung zu, die ihr der hl. Thomas von Aquin gegeben hat.


Es geht um die Einheit Gottes in seiner Zuwendung zum Menschen in der Schöpfung und Erlösung, in der Heilsgeschichte und der endgültigen Vollendung. Und es geht um die Würde des Menschen, der sich nicht vor Gott autark verschließt oder sich als sein eigener Konstrukteur ermächtigt, sondern der berufen ist zur "Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8,21). Nur so kann die katholische Theologie zu einer differenzierten Antwort kommen auf die Herausforderungen der reformatorischen Gnadentheologie, des Naturalismus der Aufklärung ("etsi Deus non daretur") und der Religionskritik (Gott als gefährliche oder nützliche Illusion), ohne den entgegengesetzten Extremen zu verfallen: der Selbsterlösung eines Humanismus ohne Gott oder des positivistischen Supranaturalismus, in dem die Offenbarung einen willkürlichen Zusatz bildet zu einer in sich selbst vollendungsunfähigen "reinen Natur" (Zwei-Stockwerksdenken).


Das II. Vatikanische Konzil hat mit der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" eine Standortbestimmung von Kirche und Evangelium in der Welt einer " Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" (GS 36) vorgenommen. Die Theozentrik des Glaubenden und seine volle Verantwortung für die Welt als Schöpfung Gottes schließen sich nicht aus wie Alternativen, sondern sind in Christus, dem Gott-Menschen, aufeinander bezogen, so dass sich "das Geheimnis des Menschen nur im Geheimnis des Fleisch gewordenen Wortes tatsächlich aufklärt."11.


In der Offenbarung hat Gott der Schöpfer, Erlöser und Vollender sich dem Menschen mitgeteilt als dessen Ursprung und Ziel. Der Mensch ist kein Torso, sondern ein Bild und Gleichnis der Vollkommenheit Gottes (perfectio formae). Aber er findet sein ihn vollendendes Ziel (perfectio finis) in der übernatürlichen Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott, der im Menschen wohnt, nämlich in der visio beatifica und der communio sanctorum.
Das Eigensein und die Selbstursächlichkeit des Menschen als Person, die zur Freiheit und Selbsttranszendenz auf den Schöpfer und Vollender hin ausgerichtet ist, steht der Gnade nicht im Weg, sondern bildet den Grund ihres Ankommens beim Menschen und des Angenommenwerdens durch ihn.


Das ist aber schon immer das Thema der katholischen Theologie. Die Offenbarungsgeschichte ist in Christus, dem Sohn Gottes, zur geschichtlichen Fülle und definitiven Gegenwart geworden. Die Totalität des Glaubens der Kirche ist Ausdruck und Vermittlung ihrer Vernünftigkeit und Erkennbarkeit im Logos, dem verbum incarnatum. Das Denken des Glaubens, der intellectus fidei, gründet im Hören des Glaubens, in dem der Mensch Gott im Glauben frei anerkennt und ihn mit Hilfe der Vernunft erkennt als Urheber der Natur und Vollender des Menschen in der Gnade. Gott bleibt als Mysterium für die endliche Vernunft unauschöpfbar, aber auch nicht fremd, denn er ist in sein Eigentum gekommen und er vermittelt seinen Söhnen und Töchtern das Licht des Lebens und die Fülle der Gnade (Joh 1, 9.18).


Somit ist die katholische Theologiegeschichte nicht die Abfolge der geschlossenen Systemen isolierter Denker, sondern ein zusammenhängendes, sich bereicherndes und korrigierendes fortschreitendes und wachsendes Gesamt-Verstehen des einen Mysteriums in seiner Ganzheit und im Gefüge seiner einzelnen Glieder (nexus mysteriorum), wie des das II. Vatikanische Konzil in der Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei verbum beschreibt.12  Es geht um eine fortschreitende Aneignung der Offenbarung in der Artikulation des gläubigen Denkens. Auch mit dem Entstehen der wissenschaftlichen Theologie in der Scholastik fällt die Patristik keineswegs in die Rolle einer bloßen Vorgeschichte zurück, sondern bleibt ihr dauernd gegenwärtig als Zeugin der ursprünglichen apostolischen Überlieferung.


Immer geht es um die Gutheit der Schöpfung gegen die Gnostiker und die Manichäer (Irenäus von Lyon), aber auch umgekehrt um die Notwendigkeit der Gnade gegen die Pelagianer und Donatisten (Augustinus). Seit Tertullian wurden die Grundbegriffe der lateinischen Theologie entworfen. Natura, substantia, essentia, persona sind nicht nur für die Anthropologie und Gnadenlehre wichtig, sondern erweisen sich auch als unentbehrlich, um die Mysterien der Trinität und der Inkarnation vor einer rationalisierenden Entleerung und einer fideistischen Entfremdung von allem menschlichen Verstehen zu schützen. Wenn die Gutheit der Schöpfung gesichert wird, geht es doch im Christentum nicht um eine alternative Philosophie und Weltanschauung, sondern um die Erlösung des Sünders aus der Gottverlorenheit, aus dem Elend der Sünde und der vernichtenden Macht des Todes. Das heilsgeschichtliche Drama der Erlösung und der Rechtfertigung des Sünders im Kreuz Christi, das aller Weltweisheit und Selbstherrlichkeit widerspricht, zeigt, dass der Glaube nicht nur ein ruhiger Besitz des Erkennens ist, eine Art platonischer Ideenschau und plotinischer Mystik. Die Rechtfertigung des Sünders mit der Geburt des neuen Menschen in der heiligmachenden Gnade stellt ein existentielles Ringen dar zwischen der Feindschaft des Menschen gegen Gott, die zum Tode führt, und dem Auferstehen des neuen Menschen in Christus.


So kann auch Augustinus nie durch Thomas überwunden werden oder Thomas wieder mit Augustinus hintergangen werden. Vielmehr soll jeder Christ und Theologe sowohl bei den "existentiellen" als auch bei den "spekulativen" Theologen in die Schule gehen und von allen etwas lernen über die Unausschöpflichkeit der Mysterien Gottes in Wahrheit und Liebe. Die großen Einsichten des Glaubens, die uns die Kirchenväter geschenkt haben, bleiben gültig. Doch der qualitative Sprung besteht bei Thomas darin, dass er die Grenzen der platonischen und neuplatonischen Einkleidung ihres Denkens mit Hilfe des aristotelischen Seins- und Erkenntnisrealismus überwindet. Durch das rückhaltlose Ernstnehmen der geschaffenen Realität in ihrem Da-Sein und So-Sein (Natur) wird der Gläubige nicht von Gott und der Erlösung weggeführt, sondern gerade zur volleren Erkenntnis und Liebe Gottes hingeführt.


Erst so kann der latente Dualismus, der in allen Häresien vorhanden ist, überwunden werden. Weder widerspricht die Erkenntnis der Welt aus ihren natürlichen Ursachen, der Erkenntnis Gottes im Glauben, der alles, was ist, um des Heils willen sub ratione Dei betrachtet, noch ist die Materie und insbesondere die Leiblichkeit des Menschen der Grund und Anlass der Sünde. Man darf auch durch die Vorstellung einer absoluten Verderbtheit des Menschen die Folgen der Sünde nicht derart übertreiben, dass man am Ende die Sünde ursprunghaft in Gott hineindenkt.. Irgendwie würde Gott zum Verursacher der Sünde, der sie zulässt oder trotz seiner Güte nicht verhindert. Auch im neuplatonischen Stufenbau des geschaffenen Seins kommt es leicht zu einer Vermengung der geschaffenen Endlichkeit mit der moralischen Unvollkommenheit und sogar der Sünde. Die Erlösung besteht aber nicht in einer Nachbesserung eines unvollkommenen Schöpfungsaktes, sondern in der Befreiung des Willens aus seiner Selbstverschlossenheit, damit er sein Ziel erreicht in der Liebe zu Gott über alles und zum Nächsten wie zu sich selbst.


Gott ist in sich gut und alles, was er geschaffen hat, ist Ausdruck und Partizipation seiner Güte. Nicht unserer Endlichkeit haftet etwas Sündiges und Gottwidriges an, sondern die Sünde kommt aus der Entscheidung des freien Willes gegen Gott und das Gute. Deshalb ist auch der neuzeitliche Naturalismus ohne Gott zum Scheitern verurteilt, weil er das Schiff in seinen seichten Gewässern niemals flott bekommt.


Die Gnade setzt die Natur voraus, so wie die Schifffahrt genügend  Wasser unter dem Kiel. Im Hinblick auf die Erlösung zerstört die Gnade die Natur nicht, sondern heilt und erhebt sie zur Gotteskindschaft des neuen Menschen, " der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." (Eph 4,24).


Thomas behält mit dem Axiom der sich die Natur voraussetzenden Gnade die absolute Theozentrik der Offenbarung und der Heilsgeschichte bei. Gott ist Ursprung und Ziel des Menschen und der ganzen Schöpfung. Aber der Mensch ist nicht nur Adressat des Wortes und Empfänger der Gnade, sondern ein selbstständiger Träger der Verantwortung für sich, die Menschheit und die Welt in Natur, Kultur und Geschichte. Gottorientierung und Weltverantwortung sind wie die beiden Seiten eine Münze. Aber die Theologie bemächtigt sich nicht rational des Mysteriums und konstruiert sich immer neue Gottes- und Menschenbilder. Darum entziehen sich auch solche Grundbegriffe wie "Natur" für das Geschaffen-Sein des Menschen und der "Gnade" als Gabe, durch die der Mensch vollendend auf Gott bezogen wird, einer letzten "überzeitlichen" Definition. Deshalb sind auch nach Thomas, der das Prinzip von der Gnade, die die Natur voraussetzt, maßgeblich definiert hat, neue Wege der Theologie möglich und notwendig. Ich meine aber nicht nur die Theologie der wenigen Experten, sondern das Verstehen der Geheimnisse des Himmelreiches im Geist der kindlichen Liebe.

Fußnoten:

1 Vgl. Yuval Noah Harari, Homo deus: eine Geschichte von Morgen, München ²2018.
2 Johannes Paul II. Enz. Redemptor hominis 14.
3 Thomas v. Aq., Summa theologiae I q. 29 a.3.
4 Thomas v. Aq., I q.1 a.1.
5 S.th. I q. 2, a. 2 ad 1; S.th. I q.1. a. 8.
6 De verit. q. 27 a.6 ad 3.
7 De verit. q. 24 a.1.
8 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade 10 (1714): ders.,  Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, hg. v. E. Cassirer, Hamburg ³1966, 423-434, hier 429.
9 Paderborn ³ 2008;
10 Hg. v. Simone Bellici, (Fromm-Verlag) Beau Bassin/Mauritius 2018.
11 Gaudium et spes 22.
12 Dei verbum 8.

Archivfoto Kardinal Müller (c) Michael Hesemann


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Lesermeinungen

 Martinus Theophilus 17. September 2020 
 

Danke.

Ich danke kath.net herzlich für die Veröffentlichung des Manuskripts dieses eindrucksvollen theologischen Vortrags, dem ich viele interessierte Leser wünsche.


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